Valerie Wendenburg

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Eine Patchworkfamilie im Strudel der Adventszeit

Erschienen im Blog des Elternmagazins «Fritz und Fränzi» am 15. Oktober 2022

Alle Jahre wieder scheue ich mich vor den Fotos, die am Vorabend des ersten Advents im Familienchat erscheinen. Zu sehen sind die wunderbar dekorierten Adventskränze meiner Schwägerinnen. Ich lege mein Handy zur Seite und versuche, mich gedanklich nicht in einen Wettbewerb um die perfekt gestaltete Adventszeit ziehen zu lassen, bei dem ich ohnehin einen der hinteren Plätze belegen würde. Und doch lösen diese Bilder eine Unruhe in mir aus. Sie kündigen eine Zeit an, die für mich als Mutter einer Patchworkfamilie eher ungemütlich wird.
In der Adventszeit stellen sich jedes Jahr dieselben Fragen: Wer feiert Weihnachten, wo und mit wem? Welche Pläne hat mein Ex-Mann? Wer geht zu den diversen Weihnachtsfeiern vom Fussballverein oder zum Adventssingen der Kinder? Und wie werde ich meinem Mann und unserer gemeinsamen Tochter gerecht? Diese Fragen sind unvermeidbar und belastend zugleich.

Neue Lösungen suchen
Alle Jahre wieder legen sie den Finger in eine alte Wunde, auch wenn der Schmerz über mein erstes gescheitertes Familienexperiment mittlerweile gestillt ist. Während von Januar bis Mitte November unser Leben in der Patchworkfamilie meist reibungslos über die Bühne geht, stellt mich die Adventszeit vor neue Herausforderungen. Der Druck, allen Familienmitgliedern eine möglichst heile Welt vorzuleben, wächst. Aber geht es nicht auch anders?
In der ersten Zeit nach der Scheidung, als unsere drei Söhne noch klein waren, haben mein Ex-Mann und ich Heiligabend gemeinsam verbracht und stets glückliche Miene zum bösen Spiel gemacht. Wir haben Geschenke vorm Weihnachtsbaum verteilt und «Ihr Kinderlein kommet» gesungen, als wenn nichts wäre. Obgleich wir uns im echten Leben zu dieser Zeit lieber aus dem Weg gegangen sind, haben wir diese Tradition der Kinder zuliebe fortgeführt. Nachdem neue Lieblingsmenschen in unsere Leben traten, verfolgten wir an den Feiertagen endgültig getrennte Pläne. Wir haben diskutiert, wer mit den Jungs Weihnachten und wer gemeinsam mit ihnen Silvester feiert. Ich habe Zeitpläne erstellt und meinem Ex-Mann zur Abstimmung geschickt. Habe Geschenke für die Kinder abgeglichen, damit sich nichts doppelt. 

«Ein Kompromiss, der funktioniert»

Nachdem alles organisiert war, kam es nicht selten vor, dass die Pläne kurzfristig wieder über den Haufen geworfen wurden. Oft brachte sich auch noch die liebe Verwandtschaft ein, die Ansprüche stellte und uns in den Weihnachtsfeiertagen unbedingt sehen wollte.
Irgendwann haben mein Ex-Mann und ich uns darauf geeinigt, uns strikt abzuwechseln. Seitdem sind unsere Söhne in den geraden Jahreszahlen von Weihnachten bis Silvester bei mir und in den ungeraden bei ihrem Vater. Diese Lösung erweist sich für uns als praktikabel: Die Feiertags-Planung ist geklärt, es werden keine Fragen mehr gestellt, keine Sonderwünsche geäussert. Die Kinder stehen nicht mehr zwischen den Stühlen und auch die Grossfamilie respektiert diese Regelung. Was auf den ersten Blick gut klingt, ist nicht mehr als ein funktionierender Kompromiss. 

Doppelt so viele Geschenke?
Die Advents- und Weihnachtszeit ist in Patchworkfamilien auch geprägt von Abwesenheit. Irgendjemand ist immer traurig: Entweder vermissen ich oder mein Ex-Mann unsere Söhne, ihnen fehlt ein Elternteil und meine kleine Tochter feiert jedes zweite Jahr ohne ihre grossen Brüder Weihnachten.
Auch für die neue Partnerin oder den neuen Partner ist die Situation alles andere als einfach. Sie stehen bei der Weihnachtsplanung meist an zweiter Stelle. Wenn mein Mann zum Beispiel gerne Weihnachten mit mir und allen Kindern feiern möchte, geht die Regelung mit meinem Ex-Mann des lieben Frieden Willens vor. Unsere Tochter versteht bis heute nicht, warum ihre Brüder während der Feiertage nicht bei uns sind und weshalb wir nicht einfach alle zusammen zu Hause feiern können. Einmal hat sie ihren Koffer gepackt, um mit ihren Geschwistern bei deren Vater zu feiern – in der Hoffnung, dann auch von zwei Papis Weihnachtsgeschenke zu ergattern. 

Warum Trauer zulassen gut tut
Es hilft, sich während der kommenden Wochen keine Illusionen zu machen. Je höher die Erwartungen an eine unbeschwerte und glückliche Weihnachtszeit, desto grösser die Enttäuschung. Dieses Jahr habe ich Glück – es ist 2022, eine gerade Zahl. Aber auch ich habe die Feiertage schon weinend bei meinen neuen Schwiegereltern verbracht, die sich alle Mühe der Welt gegeben haben, aber meine abwesenden Söhne nicht ersetzen konnten. Seitdem ich mir keine überhöhten Hoffnungen mehr auf eine durchweg fröhliche und besinnliche Advents- und Weihnachtszeit mache, gelingt diese immer besser. Auch die Kinder sind entspannter, wenn wir offen darüber sprechen, dass die anstehenden Wochen nicht immer nur harmonisch, sondern auch mal traurig sein können. Wir überstehen die Adventszeit gelassener, weil wir wissen, dass wir uns nicht an der vermeintlich glücklichen Familie messen müssen, die uns Plätzchen backend vom Werbeplakat anstrahlt.

«Wir lassen uns nicht so schnell unterkriegen»

Abgesehen davon hängt auch bei vielen der sogenannten «intakten» Familien der Haussegen in der Adventszeit schief. Die Diskussionen darüber, wer mit den Grosseltern Weihnachten feiert und welcher Elternteil sich um den Adventskalender, wer sich um den Kauf des Weihnachtsbaumes kümmert, betrifft alle Familien. Es beruhigt mich immer, wenn ich andere Mütter oder Väter aus scheinbar «glücklichen» Familien völlig gestresst in der Adventszeit beim Einkaufen treffe und sie mir von einem Familienknatsch erzählen. Es liegt auf der Hand, dass sich in allen Familien die Emotionen im letzten Monat eines jeden Jahres besonders heftig entladen. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, wir als zusammengewürfelte Familie lassen uns dann weniger schnell unterkriegen, weil wir schon so vieles gemeinsam gemeistert haben und der gesellschaftliche Druck nicht so stark auf uns lastet.

Eine ziemlich perfekte Familie
Allein der Name «Patchwork» ist Programm: Wörtlich genommen leben meine Kinder, mein Mann und ich als Flickenwerk zusammen. Wir haben uns neu zusammengesetzt und die Illusion vom idealen Familienbild schon mindestens einmal im Leben hinter uns gelassen. Wir haben Beziehungskrisen, Trennungsschmerz und einen Neuanfang gemeistert. Haben gelernt, miteinander zu diskutieren, Lösungen zu finden, mit ihnen zu leben und den Humor nicht zu verlieren. Wir erkennen, dass unser Leben auch viele Vorteile hat und die immer wieder wechselnden Konstellationen nicht nur an den Feiertagen Abwechslung in unsere Leben bringen. Das alles hat uns zusammengeschweisst und stark gemacht. Da wird uns die Weihnachtszeit auch noch gelingen – wenn wir uns nicht von Klischees und gestylten Adventskränzen verunsichern lassen. Sobald ich die vorweihnachtliche Unruhe spüre, rufe ich mir in Erinnerung, dass in anderen Familien auch nicht alles glänzt, was in der Adventszeit so schön glitzert.
Es ist eine Frage der Definition: Eine intakte Familie ist für mich eine, in der alle Familienmitglieder wertschätzend und respekt- und liebevoll miteinander umgehen, miteinander sprechen und einander zuhören. Nicht nur in der Adventszeit. So gesehen sind wir eigentlich eine ziemlich perfekte Familie.