Valerie Wendenburg

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Antisemitismus neu und klar definiert

Namhafte internationale Wissenschaftler präsentieren die neue Jerusalem Declaration on Antisemitism und verweisen auf die Unzulänglichkeiten der Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 26. März 2021.

Die Liste der Unterzeichnenden ist lang und beeindruckend: Mehr als 140 internationale Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unterstützen die heute erstmals publizierte Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA). Als bedeutsames Instrument im Kampf gegen Antisemitismus sehen die Verfasser die neue Deklaration vor allem auch als Ergänzung oder Alternative zur aktuell geltenden Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Aus Sicht der Unterzeichnenden herrscht aufgrund der IHRA-Richtlinien eine weit verbreitete Verwirrung darüber, was als antisemitisch gilt und was nicht. Diese Unsicherheit betreffe insbesondere die politische Debatte über den Zionismus und Israel und Palästina. Besonders in diesem Punkt möchte die JDA neue Leitlinien vorgeben. Dahinter stehen unter anderem Persönlichkeiten wie Micha Brumlik, Eva Illouz, David Shulman, Michael Stolleis, Moshe Zimmermann oder Moshe Zuckermann – um nur einige wenige zu nennen.

Ein tragfähiges alternatives Dokument

Ursprünglich wurde die JDA vom Van Leer Jerusalem Institute in Jerusalem einberufen. In der Folge tauschten internationale Wissenschaftler sich ab Juni 2020 online miteinander aus. Einer von ihnen ist Brian Klug, Mitglied der philosophischen Fakultät der Universität Oxford. Er kritisiert, dass es der Definition der IHRA an Klarheit fehle. Sie habe daher zu Verwirrung und Kontroversen geführt, vor allem im Zusammenhang mit politischen Aussagen über Israel und den Zionismus. «Menschen guten Willens suchen in der IHRA-Definition nach Leitlinien für eine Schlüsselfrage: Wann sollte die politische Rede über Israel und den Zionismus geschützt werden und wann überschreitet sie die Grenze zum Antisemitismus?» Die IHRA-Definition sei weit davon entfernt, diese entscheidende Frage zu klären, so Klug. Obgleich sie daher nicht zweckmässig sei, werde sie weiterhin von Regierungen, Organisationen oder politischen Parteien gefördert und übernommen. Trotz begründeter Kritik scheine die IHRA-Definition in Stein gemeisselt zu sein. All dies deute einerseits darauf hin, dass ein allgemeiner Bedarf an etwas wie der IHRA-Definition bestehe. Andererseits werde die Lücke deutlich, die durch das Fehlen eines tragfähigen alternativen Dokuments entstanden sei. Die JDA wurde verfasst,um diese Lücke zu füllen, so Klug. «Obwohl alles andere als perfekt, ist die Anleitung viel klarer, kohärenter und fundierter. Dies bedeutet, dass die JDA anstelle der IHRA-Definition verwendet werden kann.» Sie könne aber auch angewandt werden, um die Mängel in der IHRA-Definition durch diejenigen Passagen zu korrigieren, die neu in der JDA formuliert sind.

«Der Definition der IHRA fehlt es an Klarheit.»

Wie tachles berichtete, versucht sich aktuell auch eine Task-Force liberaler Juden in den USA an einer neuen Antisemitismus-Definition, was den Bedarf an einer Alternative manifestiert. Laut Brian Klug gibt die JDA nun klar vor, «was bedingungslos antisemitisch ist. Sie gibt aber auch explizite Hinweise darauf, was auf den ersten Blick nicht antisemitisch ist. Diese Anleitung ist erforderlich, um Verwirrung zu vermeiden und legitime politische Auseinandersetzungen über den Zionismus und Israel zu schützen», so Klug. Dies fehle in der IHRA- Definition, die tendenziell darauf hindeute, dass übermässige oder unvernünftige Kritik an Israel per se antisemitisch sei.

IHRA-Definition nicht mehr ausreichend?

Auch Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, hat die JDA unterschrieben, da «die IHRA-Definition nicht wirklich hilfreich war, um Antisemitismus zu bekämpfen», wie er auf Nachfrage sagt. «Die Definition selbst war so allgemein gehalten, dass man mit ihr Antisemitismus und Formen des Rassismus gar nicht unterscheiden konnte. Und die dazu gestellten Beispiele wiederum beschäftigten sich vor allem mit dem ‹israelbezogenen› Antisemitismus, als sei dies in heutigen Zeiten allgegenwärtiger nationalistischer Verschwörungstheorien das grösste Problem.» Zugleich seien die auf Israel bezogenen Passagen der IHRA-Definition geradezu eine Einladung dazu gewesen, sie politisch zu missbrauchen, um jede Kritik an einer ethnisch-religiös-nationalistischen Definition Israels als angeblich «antisemitisch» zu diskreditieren. «Das hat dazu geführt, dass in Deutschland zum Beispiel mittlerweile vor allem Juden als ‹Antisemiten› beschimpft werden, weil ihre Vorstellung von Israel als demokratischem Staat aller seiner Bürgerinnen und Bürger nicht mit der derzeitigen Politik übereinstimmt. Und das nicht zuletzt auch von Deutschen, die selbst keine offene Gesellschaft in Europa wollen», so Loewy.

Der Ansicht, dass die IHRA-Definition nicht mehr ausreiche, ist auch die Schriftstellerin Eva Menasse, die die JDA unterschrieben hat. Sie sagt: «In unseren digital aufgeheizten Zeiten, wo Kompromiss und Verständnis für abweichende Meinungen immer mehr in den Hintergrund geraten zugunsten von Spaltung und hysterischer Polarisierung, ist auch der Antisemitismusvorwurf zu einer undifferenziert geschwungenen Keule geworden. Das aber hilft den Juden nicht, die von alltäglichem Antisemitismus, von Hass und Gewalt bedroht sind, sondern es vergiftet nur immer weiter das Klima.» Die neue Jerusalemer Definition stelle dies noch einmal klar fest: Antisemitismus hat wie jeder Rassismus eine generalisierende Stossrichtung, er dichtet Juden allgemeine, entindividualisierende Eigenschaften an. Sie führt aus: «Es ist antisemitisch, Juden generell für die Politik Israels verantwortlich zu machen oder sie aufzufordern, sich davon zu distanzieren, aber es ist keineswegs antisemitisch, Israels Besatzungspolitik zu kritisieren oder auf die erbärmliche Lage der palästinensischen Zivilbevölkerung aufmerksam zu machen. Und schon gar nicht ist es antisemitisch, wenn das Juden tun, für die dieses Thema naturgemäss besonders schmerzlich und drängend ist, weil von einem erfolgreichen und sicheren Israel für sie persönlich so viel abhängt.» Eva Menasse gibt ein Beispiel aus Deutschland, wo aus ihrer Sicht «einiges durcheinander gekommen» ist: «Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung streitet gegen jüdische Intellektuelle und gegen grosse Kulturinstitutionen, als ob die Probleme mit Hass gegen Juden im Netz und auf den Strassen nicht gross genug wären. Und deshalb bin ich für die klaren Worte der neuen Definition dankbar, und ich bin beeindruckt von der wissenschaftlichen Kompetenz und internationalen Ausrichtung der Unterzeichner», sagt sie.

«Absurde Konsequenzen»

Unter ihnen ist auch die US-amerikanische Historikerin Atina Grossmann, die betont: «In dieser Zeit, in der wir in den USA und weltweit mit einem erschreckenden Anstieg von Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, rassistischer und geschlechtsspezifischer Gewalt und der allgemeinen Gefahr, demokratische Normen zu untergraben, konfrontiert sind, ist es entscheidend, dass wir uns als Juden mit vielen verbünden und zusammenarbeiten. Auch andere Menschen und Gruppen setzen sich für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte ein.» Ihrer Meinung nach ist die IHRA-Antisemitismus-Definition «eng und gleichzeitig vage» formuliert.

Die Annahme der JDA-Erklärung würde einen Ausweg aus der jüngsten «absurden Konsequenz» der IHRA-Definition bieten: So fordern einige lokale jüdische Gruppen in Richmond, Virginia, die Ausladung des bekannten amerikanischen jüdischen Schriftstellers Peter Beinart durch die Virginia Commonwealth Universität. Dies, weil der politische Kommentator als Redner bei einer Veranstaltung, die vom Jewish Studies Program der Universität gesponsert wurde, gesagt hat, dass er eine «Ein-Staaten-Lösung» und einen Boykott der in den Siedlungen hergestellten Waren unterstütze. Auch Peter Beinart zählt zu den Unterzeichnern der JDA. Atina Grossmann sagt: «Beinart lehnt die Bewegung Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen ausdrücklich ab und ist ein engagierter Jude. Dieser Vorfall ist nur ein Beispiel für die Art von Verwirrung und giftiger Atmosphäre innerhalb und ausserhalb der jüdischen Gemeinschaft, zu der die IRHA-Definition beitragen kann, obwohl dies natürlich nicht der einzige Faktor ist.» Ihrer Meinung nach ist es beachtlich, wie viele prominente und angesehene Gelehrte sich der JDA angeschlossen haben. Dies zeige, wie notwendig eine Überarbeitung der IRHA- Definition sei.

Vereint im Kampf gegen Antisemitismus

Für Hanno Loewy steht hinter der Debatte über die Antisemitismus-Definition aus jüdischer Sicht vor allem die Frage, ob «wir uns als Juden vorschreiben lassen wollen, unser Judentum durch Israel, durch einen Staat zu definieren». Ferner müsse die Diskussion darüber, was für ein Staat Israel sein soll, von der Diskussion über Antisemitismus und dem Kampf gegen Antisemitismus wieder stärker getrennt wer- den, so Loewy. Daher ist es den Verfassern wichtig zu betonen, dass sie in ihrer Deklaration klar zwischen Antizionismus und Antisemitismus unterscheiden. Denn jüdischer oder anderer Nationalismus könne viele Formen annehmen, sei aber immer offen für Debatten. Bigotterie und Diskriminierung, ob gegen Juden oder andere, seien niemals akzeptabel. Diese Definition gilt unabhängig davon, ob jüdische Identität als ethnisch, biologisch, religiös oder kulturell verstanden wird. Die JDA möchte die Aufklärung und Sensibilisierung dafür unterstützen, wann Sprache oder Verhalten antisemitisch sind – und wann nicht. Die JDA sucht eine Verbindung zu anderen Formen von Rassismus und Diskriminierung. Brian Klug betont: «Die IHRA-Definition verbindet den Kampf gegen Antisemitismus nicht mit dem Kampf gegen andere Formen der Bigotte- rie und alle Formen von Rassismus. Im Gegensatz dazu vereint die Präambel des JDA diese Punkte.» Es sei das Ziel, sich mit Menschen zu verbinden, die andere Formen von Vorurteilen und Diskriminierung bekämpfen, um so den Kampf gegen Antisemitismus zu stärken.