Valerie Wendenburg

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«Bruch mit verlogenem Schweizer Geschichtsbild»

Erschienen am 28. Januar 2022 im jüdischen Wochenmagazin «tachles» .

Vor einem Vierteljahrhundert ist des «Manifest vom 21. Januar 1997» in grossen Schweizer Zeitungen publiziert worden. Es wurde aus aktuellem Anlass – 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs – in der Auseinandersetzung um die Geschichte der Schweiz während der Zeit des Nationalsozialismus verfasst. So wurde in Europa und in den USA das Verhalten der Schweizer Banken und Versicherungen während dieser Zeit untersucht. Der World Jewish Congress erhöhte den Druck auf die Schweizer Banken und forderte, den Verbleib nachrichtenloser Vermögen von Opfern des Nationalsozialismus endlich zu klären.

Im Jahr 1996 wurde das sogenannte «Volcker-Kommitee» eingerichtet. Ziel des Komitees war die Erfassung der nachrichtenlosen Bankkonten und anderer Vermögen von Opfern des Nationalsozialismus. In dieser Zeit wurde zudem die Unabhängige Historikerkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK, genannt «Bergier-Kommission») eingesetzt. Ein Höhepunkt der Debatte wurde Ende 1996 erreicht, als der damalige Bundespräsident Jean-Pascal Delamuraz in einem Interview in den welschen Tageszeitungen «Journal de Genève» und «24 Heures» jüdische Organisationen der Erpressung beschuldigte. Er hielt eine jüdisch-anglo-amerikanische Verschwörung für möglich, die darauf abziele, den Finanzplatz Schweiz zu zerstören. Delamuraz bezog sich in seinen Anschuldigungen nicht auf einzelne Akteurinnen und Akteure, sondern auf «das jüdische Kollektiv». Seine Äusserungen sorgten international für Aufsehen, auch in der Schweiz gab es Reaktionen – und es kam hierzulande in der Folge zu einem Anstieg des Antisemitismus.

«Unerträgliches offizielles Schweigen»
Kurz darauf, am 14. Januar 1997, traf sich erstmals «eine kleine, heterogene Gruppe von Leuten verschiedener Herkunft, verschiedener Generationen und Berufe, verschiedener politischer Einstellung und auch aus verschiedenen Landesteilen in der Überzeugung, dem wochenlangen unerträglichen offiziellen Schweigen etwas entgegensetzen zu müssen». So beschreibt es die Psychoanalytikerin Madeleine Dreyfus in dem von ihr herausgegebenen und von der «Wochenzeitung» (WOZ) veröffentlichten Buch «Manifest vom 21. Januar 1997» (WOZ, Zürich 1997). Auch Ständerat Paul Rechsteiner war einer der Initianten, er erinnert sich gegenüber tachles daran, dass er damals einen Anruf von alt Bundesrichter Niccolò Raselli erhielt: «Er rief mich nach Erscheinen des Interviews des Bundespräsidenten Delamuraz an. Das führte zu den Gesprächen, die dann im ‹Manifest vom 21. Januar 1997› mündeten», so Rechsteiner. Mit im Boot waren von Beginn an der Journalist und Historiker Stefan Keller sowie der Psychoanalytiker Paul Parin. «Nach den Äusserungen des Bundespräsidenten ging eine Welle von Antisemitismus durch das Land. Uns war klar, dass man etwas dagegensetzen musste», so Stefan Keller. Bereits nach wenigen gemeinsamen Sitzungen stand das von Keller getextete «Manifest vom 21. Januar 1997» im Wortlaut fest.

«Aus den 200 Erstunterzeichnenden wurden in kurzer Zeit über 3700.»

Die Initianten gaben sich selbst eine Defizitgarantie für die Inseratekosten und machten sich auf die Suche nach Gleichgesinnten, die das Manifest unterzeichnen. Am 29. Januar 1997 wurde es in den wichtigen Schweizer Tageszeitungen als ganzseitiges Inserat geschaltet – auf finanzielles Risiko einer kleinen Gruppe von Freundinnen und Freunden. «Sofort kamen unzählige Einzelspenden herein, und nach wenigen Tagen mussten wir sogar ein Sekretariat einrichten, um die vielen Reaktionen zu bewältigen. Inhaltlich habe ich es so in Erinnerung, dass sehr viele Leute erleichtert waren, weil endlich jemand mit einem klaren Text auftrat und einen ehrlichen Umgang mit dieser Geschichte, mit den ‹nachrichtenlosen Konten›, mit der antisemitischen Tradition einforderte», so Stefan Keller. Tatsächlich waren die Reaktionen zahlreich und überwiegend positiv. Aus den 200 Erstunterzeichnenden wurden in kurzer Zeit über 3700. An der Pressekonferenz in Bern, über die unter anderem in der «Tagesschau» berichtet wurde, nahmen neben der Autorengruppe auch der Schriftsteller Peter Bichsel und der Clown Dimitri teil.

Stärkung der Demokratie
Die beiden zentralen Themen des Manifests sind der politische Gebrauch der Geschichtsbilder für die schweizerische Identität und der Antisemitismus in der Schweiz. Die Diskussionen sollten nicht mehr nur der Politik überlassen, sondern in die Bevölkerung getragen und zur Aufgabe der Gesellschaft gemacht werden. Madeleine Dreyfus sagt rückblickend: «Die Inserate und Veranstaltungen fanden ein riesiges Echo. Immerhin wurde ich in die ‹Rundschau› eingeladen und einige von uns in die ‹Arena›. Es schien vielen Menschen aus dem Herzen zu sprechen, dass nicht nur die abwehrende Haltung der Banken und Behörden auf die Frage nach den nachrichtenlosen Vermögen als menschenverachtend und skandalös entlarvt wurde, sondern auch der darunter liegende, stumme Antisemitismus.» Paul Rechsteiner schreibt in seinem Blog: «Das Manifest vom 21. Januar 1997 konnte nichts daran ändern, dass das Geschichtsbild der Schweiz umstritten blieb. Es polte aber die Diskussion über den spezifisch schweizerischen Antisemitismus neu. Welche Rolle das Manifest im Umgang mit dem Antisemitismus in der Schweiz längerfristig spielte, müsste vertieft untersucht werden. Kurzfristig handelte es sich aber um eine sehr wirksame – und dringend nötige – Intervention. Auch zur Stärkung der schweizerischen Demokratie.» Auch Madeleine Dreyfus ist der Ansicht, «dass – wenigstens von einem Teil der Bevölkerung – ein Stück der eigenen Geschichte nochmals angeschaut und im besten Fall in neuem Lichte gesehen wurde. Der ‹Bergier-Bericht›, der aus der Sicht der Abgewiesenen und der Flüchtlinge geschrieben wurde, war ein Resultat davon.»

«Fortschritt verläuft eben nicht linear, und gerade Antisemitismus und Geschichtsvergessenheit gibt es weiter.»

Auf die Frage, ob die Publikation rückblickend den gewünschten Erfolg erzielt hat, sagt Stefan Keller: «Das ist eine schwierige Frage, so etwas macht man ja nicht wegen des Erfolgs, sondern weil man es anders gar nicht aushält in seinem Land. Sicher hatten wir damals die Hoffnung, es gelinge nun endlich ein Bruch mit dem herrschenden, verlogenen Schweizer Geschichtsbild. Wie weit die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg auch dank des Manifests, und dank der vorangehenden Kampagne für Paul Grüninger, zustande kam, müssten heutige Historiker und Historikerinnen untersuchen.» Aus seiner Sicht habe Paul Rechsteiner schon bei der Einsetzung dieser wichtigen Kommission eine entscheidende Rolle gespielt.

Noch immer aktuell
Es liegt nahe, den Bogen zur aktuellen Debatte zur Sammlung Bührle im Kunsthaus Zürich zu spannen. Stefan Keller sagt: «Fortschritt verläuft eben nicht linear, und gerade Antisemitismus und Geschichtsvergessenheit gibt es weiter. Wenn man jüngst in Zürich den fahrlässigen Umgang der Stadtregierung mit der Vergangenheit der Bührle-Sammlung beobachtete, dann lässt sich daran nur wenig Fortschritt ablesen.» Madeleine Dreyfus ist der Ansicht, dass die Tatsache, dass das Kunsthaus mit der Dokumentation zur Sammlung Bührle «nicht so billig mit einer dünnen Rechtfertigung davonkommt» nicht unbedingt eine Folge des Manifests, aber vom gleichen Geist getragen sei. Die Forderungen des Manifests, das im Internet und im gleichnamigen Buch nachzulesen ist, sind also auch 25 Jahre nach seiner Publikation noch aktuell. Heisst es doch zum Abschluss: «… wenn der Bundesrat, die Schweizer Behörden und Institutionen öffentlich erklären würden, dass Antisemitismus und Rassismus unter gar keinen Umständen jemals berechtigt oder gar von den Opfern selbst verursacht sein können, sondern uns in die schlimmsten Zeiten der Vergangenheit zurückwerfen, statt uns in die Zukunft zu tragen, wenn die Schweizer Behörden und Institutionen insgesamt und für alle sichtbar sich in diesen Fragen den Wünschen der demokratisch denkenden Schweizer Bevölkerung zuwenden möchten, dann werden wir, die unterzeichnenden Schweizerinnen und Schweizer, Einwohnerinnen und Einwohner dieses Landes, solche Bestrebungen nach Kräften unterstützen. Dann kann sich die gegenwärtige politische Krise der Schweiz auch als Chance für mehr Demokratie, Gerechtigkeit, Achtung vor dem Anderen und für ein freundlicheres Zusammenleben erweisen.»