Interview mit Meir Shalev
«Bücher müssen nicht moralisch sein»
Anlässlich seiner Lesung im Literaturhaus Basel sprach tachles mit dem israelischen Autor Meir Shalev über seinen neuen Roman und über die aktuelle Situation in Israel.
Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 14. November 2014.
Meir Shalev, Tiere spielen auch in Ihrem neuen Roman «Zwei Bärinnen» eine grosse Rolle. Es heisst, Sie wollten als Kind eigentlich Zoologe werden und nicht Autor…
Ich wäre noch immer sehr gerne Zoologe. Das ist aber im Fall dieses Buches nicht der Grund für die Tiere, die dort auftauchen. Die Schlange als Grund für den Tod eines Kindes habe ich gewählt, weil sie ein biblisches Motiv ist. Die Mutter des Kindes, Ruta, ist Bibelwissenschaftlerin, und daher kommen sehr viele biblische Geschichten in meinem Roman vor. Der Tod durch die Schlange soll das Gefühl vermitteln, dass Gott hinter dieser Tragödie steht – das Schicksal liegt in diesem Fall nicht in Menschenhand. In der Bibel kommen drei Tiere vor, die Menschen töten können: die Schlange, der Bär und der Löwe. Heute haben wir in Israel keine Löwen und Bären mehr, aber Schlangen gibt es – und es sterben pro Jahr zwei bis drei Menschen an einem Schlangenbiss. Ich wollte nicht über einen Verkehrsunfall oder über einen terroristischen Anschlag schreiben, ich wollte auf die Bibel zurückgreifen. Auch der Titel «Zwei Bärinnen», der im Hebräischen gleich lautet, ist ja nach einer Stelle in der Bibel gewählt, die ich im Buch erwähne. Ich denke, die Bibel ist die Säule, auf der die gesamte westliche Zivilisation errichtet wurde, und so bilden Geschichten aus der Bibel auch eine Grundlage für die Geschehnisse in meinem Buch.
«Zwei Bärinnen» ist eine Familiensaga. Ist sie fiktiv, oder beruht sie teils auf wahren Begebenheiten?
In dem Buch erzähle ich ja viele Geschichten. Die Geschichte, in der der Mann den Geliebten seiner Frau umbringt, baut auf einer wahren Begebenheit auf. Das passiert immer wieder auf der Welt. Das Hauptthema meines Romans ist Rache und die Frage, weshalb Menschen aus Rache töten. Der Protagonist Seev zum Beispiel hat zwei Seiten, zum einen ist er ein liebevoller Grossvater, auf der anderen Seite ist er ein Monster. Ich zeige die dunklen Seiten von Menschen auf und erzähle, wie Schicksalsschläge das Verhalten von Menschen verändern können. Nicht nur Mitmenschen sind oft über das Verhalten anderer, ihnen nahestehender Menschen überrascht – auch die Menschen selbst hätten sich gewisse Handlungen oft gar nicht zugetraut. Darüber zu schreiben ist eine spannende Sache.
Meir Shalev (© Wikipedia)
Neben Liebe und Rache spielt auch die Freundschaft zwischen Männern in Ihrem Buch eine grosse Rolle. Ruta kann ihrem Mann nach dem Tod des gemeinsamen Kindes nicht helfen, ihr Grossvater Seev hingegen schon.
Ja, das Thema beschäftigt mich persönlich sehr. Ich selbst habe zwei oder drei gute Freunde, mit ihnen habe ich in der Armee gedient, schwierige Situationen erlebt – und wir sprechen über gewisse Dinge. Vielleicht sind Männer teilweise nicht so talentiert wie Frauen, über ihre Gefühle zu sprechen, aber in wichtigen Situationen wissen Männer oft, was zu tun ist. Männer können sich untereinander gut helfen, weil sie sich auch ohne viele Worte verstehen.
Im Buch geht es vor allem um Männer, ihre Gefühle und Geschichten. Erzählt werden diese aber von einer Frau.
Ja, das habe ich bewusst so gewählt: Ruta sieht und beobachtet alles, sie ist Familienmitglied und eine gute Erzählerin. Dennoch merkt sie selbst oft, dass sie nicht wirklich versteht, was in den Männern vorgeht – auch wenn diese ihr sehr nahe stehen wie ihr Mann oder ihr Bruder. Sie ist nicht Teil der Geschichte, sie bleibt immer etwas aussen vor. Mit diesem Buch habe ich übrigens zum ersten Mal viele männliche Leser gewonnen. Sie finden etwas Spezielles in diesem Roman.
«Das Buch kann die Leser anregen, über sich selbst nachzudenken.»
Spielt Hass in Ihrem Buch eine ähnlich grosse Rolle wie die Liebe?
Ich glaube nicht, dass es sich um Hass handelt. Es geht ausschliesslich um Rache. Etan nimmt Blutrache, er rächt den Mord an Seev, weil er merkt, dass die Polizei nichts unternimmt. Aber er hasst den Mörder nicht. Speziell an dem Buch ist ja, das niemand für seine Morde verurteilt oder verhaftet wird. Im Gegenteil: Rache zu verüben, hilft Etan. Es geht ihm danach besser. Die Rache ist für ihn wie eine Art Therapie. Für diese Wendung im Buch bin ich in Israel sehr oft kritisiert worden. Mir wurde vorgeworfen, kein moralisches Buch geschrieben zu haben. Meine Antwort darauf lautet, dass Bücher auch nicht moralisch sein müssen! Das ist nicht meine Aufgabe, moralisch zu sein. Meine Motivation war es, moralische Situationen zu beschreiben, aber die Leser müssen selbst entscheiden, was die Moral von der Geschichte ist. Das Buch ist auch nicht politisch, es erzählt den Lesern auch nicht, wie sie über Menschen urteilen sollen – es ist einfach eine Geschichte mit vielen Extremsituationen, erzählt von einer dritten Person und nicht vom Autor. Die Leser müssen selbst entscheiden, ob und weshalb sie ähnlich handeln würde oder weshalb eben nicht. Das Buch kann die Leser anregen, über sich selbst nachzudenken.
Schreiben Sie bereits an einem nächsten Buch?
Ja, sicher, ich arbeite an einem nicht fiktiven Buch über Natur in Israel und an einem weiteren Buch. Ich schreibe sehr viel, aber ich habe auch erst vergleichsweise spät, mit über 40 Jahren, angefangen. Nun muss ich aufholen…
Sie äussern sich auch immer wieder über die politische Situation in Israel. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, in die Politik zu gehen?
Nein, ich bin gefragt worden, diesen Schritt zu gehen – aber ich kenne meine Grenzen. Ich bin kein Teamplayer, ich bin ein Individualist und arbeite besser und lieber allein. Daher bin ich Schriftsteller geworden.
Wie sehen Sie die aktuelle Situation in Israel? Sie haben immer wieder geäussert, dass Sie sich Sorgen über die Zukunft des Landes machen.
Ja, das stimmt. In Israel haben wir im Moment das Problem, dass weder die Linken noch die Rechten wissen, was zu tun ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Siedler aus der Westbank evakuiert werden, ist sehr gering. Kein politischer Führer in Israel ist bereit, diesen Prozess zu verantworten. Wir haben keinen starken, visionär denkenden Politiker, der sich dieser Herausforderung stellen würde. Diese Aufgabe ist zu gross für die Politiker, die Israel zurzeit hat. Jeder versucht, die Probleme in der Westbank zu verdrängen. Ein Publizist hat einmal gesagt, es sei so, als würde ein Elefant in einem Raum stehen und niemand würde etwas dagegen unternehmen. Man kann mit ihm leben, aber niemand kann den Elefanten ignorieren. In Israel müssen heutzutage grosse Entscheidungen getroffen werden: Entweder man evakuiert die Siedler oder man annektiert das Land, aber unsere Verantwortlichen haben zu viel Angst und zu wenig Mut. Ich habe wirklich Angst um die Zukunft Israels.
«Was sind unsere Visionen? Was sind unsere Ideologien?»
Sie machen sich ja auch Sorgen um die Bildung im Land.
Ja, sicher. Sowohl das Bildungs- als auch das Gesundheitswesen haben seit dem Sechstagekrieg 1967 sehr gelitten. Alles, was danach in Israel passiert ist, ist eine Folge der Besetzung. Alle Energien der Politiker fliessen in die Frage um Siedler, Palästinenser, Besetzung, Sicherheit und Krieg. Das jüdische Volk hat sich seit jeher der Bildung verpflichtet. Aber in Israel wird kaum noch in Bildung und Wissenschaft investiert, wir hinken hinterher. Natürlich haben wir Schulen und Universitäten, alles funktioniert. Aber wenn wir die Gesellschaft anschauen und uns fragen: Was sind unsere Visionen? Was sind unsere Ideologien? Bildung sicher nicht mehr. Für mich persönlich ist das sehr enttäuschend.
Sehen Sie eine Lösung für die Situation in der Zukunft?
Nein, nicht unter den Politikern, die wir zurzeit haben. Leider kann ich nichts Positiveres sagen. Im Jahr 1967 war ich Soldat, und ich kam aus dem Krieg zurück und sagte meinem Vater, der innerhalb des politisch rechten Flügels recht bekannt war, wir würden die Eroberung der Westbank noch bereuen. Mein Vater war sehr wütend auf mich, wir hatten eine grosse Auseinandersetzung über dieses Thema. Und nun, viele Jahre später, denke ich, ich hatte Recht – und das macht mir Angst. Aus meiner Sicht sollten wir keine Siedlungen in der Westbank gestatten. In diesem Punkt sind wir alle die Opfer des rechten politischen Flügels und der Religiösen geworden. Nun müssen wir den Preis dafür zahlen.
Meir Shalev: Zwei Bärinnen. Diogenes Verlag, Zürich 2013