Valerie Wendenburg

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«Das Opfer kann auch der Aggressor sein»

Mit ihrem neuen Buch erntet Lizzie Doron in ihrer Heimat Israel Kritik – sie wird nicht verlegt, weil sie sich mit ehemaligen Terroristen aus den besetzten Gebieten getroffen hat und ihre Geschichte erzählt – ein Gespräch.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 21. Juli 2017.

Ihr neues Buch «Sweet Occupation» erscheint genau 50 Jahre nach dem Sechstagekrieg und dem Beginn der Besatzung. Ein Zufall?
Das ist mehr als nur ein Zufall, ich würde es als Schicksal bezeichnen. Ich habe ja immer an anderen Geschichten über mich und mein Leben gearbeitet, bis das Thema dieses Buches an mich herangetragen wurde, indem einer der Protagonisten, Muhammad, auf mich zukam. Das ist sehr interessant, denn viele meiner Bücher sind entstanden, weil von aussen Ideen an mich herangetragen wurden. Immer steht irgendjemand aus meinem Familien- oder Freundeskreis für eines meiner Bücher. Mohammad war hier der Initiator, er stellte mich seinen Freunden vor und half mir bei der Arbeit am Buch.

Lizzie Doron (© Wikipedia)

Das Buch ist bisher nur auf Deutsch erschienen. Glauben Sie, dass es auch in Israel einen Verleger finden wird?

Diese Frage ist gut, aber die Antwort ist sehr kompliziert. Im Moment bin ich da nicht sehr optimistisch. Auch mein letztes Buch «Who the Fuck Is Kafka» (2015) ist in Israel nicht erschienen, in Deutschland aber war es lange Zeit ein Beststeller. In Israel scheint niemand mutig genug zu sein, um sich an konfliktreiche Themen wie diese zu wagen. Ich habe viele ablehnende Reaktionen von Verlegern erhalten, und so hat niemand in Israel die Chance, mein Buch zu lesen und darauf zu reagieren. Für mich ist es eine sehr schwierige Situation, denn ich werde für etwas verurteilt, was die Menschen gar nicht gelesen haben. Dabei ist die Geschichte in «Sweet Occupation» ja voller Hoffnung. Ich kann nur sagen, dass ich wirklich sehr bedauere, dass mein Buch nicht auf Hebräisch erscheint. Es ist absurd, ich komme mir mittlerweile vor wie eine deutsche Schriftstellerin.

Sie sind in Israel sehr bekannt, gerade für Ihre Literatur über den Holocaust und die Zweite Generation. Wirft man Ihnen vor, dass Sie diesem Thema untreu geworden sind?
Genau das ist das Problem. Ich war ja lange der VIP unter den Holocaust-Autoren. Verantwortlich dafür, die Leiden der jüdischen Nation zu beschreiben. Nun habe ich zu unseren Nachbarn geschaut und mich dazu entschieden, auch ihre Geschichte zu erzählen. Das führte dazu, dass mich viele nun als eine Art Betrügerin ansehen. Viele meiner Freunde haben sich von mir abgewandt, als sie von meinen Plänen, dieses Buch zu schreiben, erfuhren. Das ist eine grosse Enttäuschung. Ich hatte keine Ahnung, was mein Schreiben nun für Auswirkungen haben würde.

«Das Thema kam auf mich zu, ich habe es mir nicht ausgesucht.»

Die Arbeit an Ihrem Buch hat Sie aber auch selbst verändert.

Sicher, ich konnte mir früher ja auch nicht vorstellen, dass ich Freunde aus der Westbank haben würde – und im Gegenzug viele meiner israelischen Freunde verlieren würde, die mir vorwerfen, ich sei eine Kollaborateurin, obwohl sie mein Buch gar nicht kennen. Es kam für mich nie infrage, eine andere Geschichte als die aus der jüdischen Opferperspektive zu erzählen. Aber ich habe irgendwann verstanden, dass das Opfer auch der Aggressor sein kann. Der Auslöser dafür war allein die Tatsache, dass ich eine neugierige Person bin, und mir jemand seine Geschichte erzählen wollte. Ich war auf der Suche nach neuem Stoff für ein Buch. Das Thema kam auf mich zu, ich habe es mir nicht ausgesucht. Aber nun ist mein Leben völlig anders, als es vorher war. Ich lebte in Tel Aviv, nun halte ich mich sehr viel in Berlin auf, wo ich arbeite. In Israel bin ich keine Schriftstellerin und bin kein Mitglied des kulturellen Lebens mehr. Es ist in Israel einfach nicht üblich und akzeptiert, palästinensische Freunde zu haben.

Einen palästinensischen Freund hatten Sie auch schon in «Who the Fuck Is Kafka», was ist nun anders?

Das Buch war für mich eher ein Einstieg in das Thema. Nun bin ich viel mehr eingetaucht, ich habe engen Kontakt mit Menschen, die vielleicht meine Freunde getötet haben – oder Menschen, die ich kannte. Mit Männern, die im Gefängnis waren, weil sie Terroristen gewesen sind. Ich bin nie so weit gegangen, sie zu fragen, was sie genau getan haben. Aber wir haben uns gegenseitig zugehört, und das war für mich wie ein Geschenk, denn ich habe verstanden, dass das Wort «Feind» ein Titel ist, der jedem aufgedrückt werden kann. Es war spannend, die Menschen dahinter kennenzulernen und zu verstehen. Ich bin glücklich darüber, dass ich den Mut hatte, Menschen zu treffen, die mich eigentlich hassen müssten. Es hat mich selbst toleranter werden lassen.

Haben sich die Grenzen zwischen Opfer und Täter aufgelöst?
Ich glaube, dass jeder, der davon träumt, eine Veränderung herbeizuführen, einen Preis dafür zahlen muss – auch die israelischen Protagonisten Chen und Emil, die für gleiche Rechte und Demokratie kämpfen. Jeder, der sich eine Heilung für sein Trauma wünscht und die Situation verändern möchte, in der er sich befindet, muss einen Preis zahlen. Das betrifft beide Seiten. Dennoch bin ich der Meinung, dass es sich lohnt, aktiv zu bleiben und sich zu verändern.

Die Männer in Ihrem Buch sind in der Gruppe Combatants for Peace vereint. Kannten Sie die Gruppe vorher?

Nein, ich kannte sie nicht. Ich wusste, dass es Gruppen wie diese gibt. Aber als ich meine Interviews begann, war die Gruppe Combatants for Peace noch recht klein. Es war eine neue Idee, dass Feinde sich vereinen, um gemeinsam eine Lösung zu finden. Die israelischen und palästinensischen Männer waren alle im Gefängnis und sind nun bereit, zusammen für den Frieden zu kämpfen – auf friedliche Weise. Das finde ich beeindruckend. Als ich die Gruppe getroffen habe, wusste ich, dass ich keine andere Alternative habe, als das Buch zu schreiben. Die Gruppe hat mir zudem eine wichtige Antwort auf eine Frage gegeben, die mich mein Leben lang beschäftigt hat. In meiner Familie hat Hass immer eine grosse Rolle gespielt. Dieser Hass hat mich ein Leben lang beschäftigt, seit meiner Kindheit. Schon sehr früh hatte ich das Gefühl, dass es jemanden gibt, der mich gerne umbringen würde. Ich habe gemerkt, dass ich dagegen vorgehen kann – durch persönliche Begegnungen. Es hat mich wirklich interessiert, was die Motivation der Menschen ist, die bereit sind zu töten und getötet zu werden. Es ist leichter zu sagen, der andere ist der Feind, als sich für ihn zu interessieren. Ich bin wirklich ein sehr ängstlicher Mensch, ich fühlte mich immer wehrlos meinem Feind gegenüber. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins habe ich durch die Gespräche mit dem angeblichen «Feind» überwunden.

«Die Besatzung ist für viele Leute sehr positiv, aber die Bevölkerung leidet unter ihr.»

Was bedeutet der Titel «Sweet Occupation»?
Ich habe schon öfter gehört, dass Palästinenser diesen Ausdruck gebrauchen – und es nie verstanden. Auch der verurteilte ehemalige Terrorist Suliman erwähnte «Sweet Occupation» und er ging davon aus, dass ich den Ausdruck kenne. Schliesslich erklärte er ihn mir: Für viele Menschen ist die Besetzung sehr angenehm. Es gibt viele Non-Profit-Organisationen, die viele Konferenzen organisieren, viele Menschen haben schon viel Geld mit der Besatzung verdient. Auch viele Politiker nutzen das Thema, um Macht zu gewinnen. Die Besatzung ist für viele Leute sehr positiv, aber die Bevölkerung leidet unter ihr. Meine palästinensischen Freunde haben mir aufgezeigt, warum die Besatzung für sie gar nicht «süss» ist, und daher wählte ich diesen zweideutigen Titel.

Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg in Deutschland?

Ich denke, die Deutschen sind bereit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, aus welchem Grund wir bestimmte Menschen oder Gruppen hassen. Meine deutschen Leser sind interessiert zu erfahren, wie sich Vorurteile abbauen und Konflikte überwinden lassen. Es fällt mich schwer zu sagen, dass meine besten Leser zurzeit nicht die israelischen sind. Das ist besonders bedauerlich, weil dieses Buch für mich weit mehr als ein Buch ist. Ich habe das Gefühl, alle meine anderen Bücher waren eine Art Einleitung in dieses neue Thema. Es ist mein schwerstes Buch und ich habe so viele Grenzen und Schranken überwunden – auch im Hinblick darauf, etwas in meiner Heimat zu bewirken.

Lizzie Doron: Sweet Occupation. dtv, München 2017