Valerie Wendenburg

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Den Finger in die Wunde legen

Der israelische Autor Dror Mishani hat mit seinem neuen Roman «Drei» einen Bestseller geschrieben – mit tachles sprach er an der BuchBasel über die israelische Gesellschaft, häusliche Gewalt und seine Rolle als Autor.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 20. Dezember 2019

«Drei» ist nicht Ihr erster Kriminalroman. Wann und aus welcher Motivation heraus haben Sie begonnen, Bücher zu schreiben?
Ich begann vor acht Jahren mit dem Schreiben meiner Kriminalromane. Das war zu der Zeit, in der ich meinen PhD an der Universität über die Geschichte der Kriminalromane schrieb. Ich habe zudem als Lektor bei einem Verlag gearbeitet. Ich habe mich die ganze Zeit mit klassischen Kriminalromanen beschäftigt und kam schliesslich zu dem Punkt, selber schreiben zu wollen. Es reizte mich, einen Kriminalroman in Holon spielen zu lassen, in den Strassen, die ich kenne, in meiner Welt. Ich wollte zudem einen Krimi auf Hebräisch schreiben.

Das Genre des Kriminalromans ist in Israel ja kaum verbreitet.
Das stimmt. In den späten 1980er-Jahren gab es die ersten israelischen Krimis, aber die wenigsten von ihnen wurden übersetzt. Israelische Autoren widmeten sich bisher eher anderen Themen, Kriminalromane bilden eine kleine Nische in der sonst so breit gefächerten israelischen Literatur.

«Es war mein Ziel, die echte Tragik des Todes zu vermitteln.»

Ihr Buch «Drei» ist kein klassischer Kriminalroman. Es gibt keinen Kommissar, ganz anders in Ihren bisherigen Büchern, in denen Avi Avraham immer im Mittelpunkt stand. Wie kamen Sie zu der Idee dieses neuen Romans?
Es ist etwas mysteriös, man weiss ja meist nicht genau, woher eine Inspiration plötzlich kommt. Meine allererste Idee zu dem Roman kam mir nach einem Literaturfestival in Frankreich. Auf dem Rückflug hatte ich den Gedanken, einen Roman in drei Teilen zu verfassen, in dem drei Protagonistinnen vorkommen. Noch im Flugzeug schrieb ich diese Idee nieder, und als ich die Maschine verlassen hatte, stand die Struktur von «Drei» fest. Wenn ich dieses Ereignis rückblickend analysiere, dann denke ich, es gab aber einen konkreten Auslöser für das «Drei»: Ich habe in der jüngsten Vergangenheit einige Verluste erlebt, Todesfälle im engsten Verwandten- und Freundeskreis. Ich glaube, dieser Schock hat mir klar gemacht, wie steril klassische Kriminalromane oft aufgebaut sind. Es gibt zwar immer eine verstorbene Person, aber meist lernt man diese gar nicht wirklich kennen. Es geht mehr um den Detektiv und seine Arbeit, und es gibt eine grosse Diskrepanz zwischen dieser im Grund sachlichen Tätigkeit und dem, was ein Tod für Menschen im realen Leben bedeutet.

In «Drei» blickt man tief in die Psyche der Opfer, ist das der Unterschied?
Genau, ich wollte den Lesern die gleiche Tragik vermitteln, die ich erlebt habe. Wenn Orna im Roman stirbt, stellt dies für die Leser einen Verlust dar, weil das Buch plötzlich ohne die bisherige Hauptprotagonistin auskommen muss. Normalerweise verliert ein Roman seine Protagonisten nicht. Ich glaube, die Leser sind dann plötzlich sehr hilflos, wie im echten Leben, wenn jemand von uns geht. Es war mein Ziel, die echte Tragik des Todes zu vermitteln.

Wie haben Sie den Roman, der aus drei Teilen besteht, geschrieben? Folgte eine Geschichte der anderen?
Ja. Denn auch ich brauchte etwas Zeit zwischen den Geschichten, auch ich musste erst einmal überlegen, wie das Buch ohne Orna überhaupt weiter funktionieren kann. Damit hatte ich nicht gerechnet, aber ich musste längere Pausen zwischen den jeweiligen Parts machen, um in eine neue Richtung zu denken. Auch ich musste mich von den ermordeten Frauen verabschieden. Auch wenn sie im Buch ja auf ihre Weise weiterleben.

War es eine Herausforderung für Sie, drei Geschichten aus verschiedenen Frauenperspektiven zu schreiben?
Das war für mich eigentlich ganz natürlich. Ich habe auch meinen ersten Krimi «Die schwere Hand» aus der Sicht einer Frau geschrieben. Mir macht das Freude. Denn wenn ich über Männer schreibe, dann schreibe ich immer irgendwie über mich selbst. Die Frauenperspektive fällt mir fast leichter, weil ich meine Persönlichkeit dann ganz aussen vor lassen kann.

Der Täter Gil, dem alle drei Frauen im Buch auf unterschiedliche Weise begegnen, wird als eher unauffällig geschildert. Er ist Jurist, etabliert und Aschkenasi. Spielt seine Herkunft eine Rolle?
Wichtiger als die Tatsache, dass Gil Aschkenasi ist, ist, dass er keine Person ist, die einem bei einem Gewaltverbrechen in den Sinn kommen würde. Er würde als «guter Israeli» gelten. Und darüber wollte ich schreiben: über die Brutalität und Gewalt, die oft unbeachtet und innerhalb der Gesellschaft stattfinden. Es ist leicht, stereotype Verbrecher und Gefährder zu erkennen. Aber Gil ist der absolut «normale» Israeli, der einem als Letzter einfallen würde, wenn man an einen Mörder denkt.

Die drei Frauen, die im Mittelpunkt des Buches stehen, sind alle auf ihre Weise auf der Suche. Orna ist verlassen worden und plötzlich alleinerziehend, Emilia hält sich als Pflegekraft illegal im Land auf, und Ella ist eine junge Mutter, die sich ins Berufsleben zurücksehnt. Sind sie auch aufgrund ihrer Schwäche potenzielle Opfer?
Ich finde die Charaktere der drei Frauen nicht schwach. Die ersten beiden, Orna und Emilia, sind allein aufgrund ihrer sozialen Stellung ein schwaches Glied in der israelischen Gesellschaft, das stimmt. In dem, was sie tun, sind sie aber sehr stark: Sie suchen nach einem Ausweg, sie möchten ihr Leben verändern. Dass sie dabei auf Gil stossen ist ihr Schicksal. Leider ist es in Israel – aber wahrscheinlich leider überall – ein Fakt, dass Frauen immer wieder Opfer von männlicher, häuslicher Gewalt werden. So wie auch die Frauen in meinem Buch. Gil wählt sie natürlich auch aufgrund ihrer schwachen Position aus.

Er nutzt die Macht, die er hat, auf schlimmste Weise aus.
Ja, er ist sehr besessen von dieser Macht, die er über Frauen haben kann – im Alltag mit seiner Ehefrau aber überhaupt nicht hat. Sie ist dominanter als er, stärker und auch erfolgreicher. Den Frauen, die Gil trifft, erzählt er aber eine völlig andere Geschichte. Gerade im Fall von Emilia findet er grossen Gefallen daran, dass sie abhängig von ihm ist.

«Häusliche und zwischenmenschliche Gewalt gibt es überall auf der Welt.»

Sie haben einmal gesagt, dass Frauen wie Orna, Emilia und Ella in der israelischen Gesellschaft nahezu unsichtbar sind.
Ja, wobei es natürlich grosse Unterschiede zwischen den drei Protagonistinnen gibt. Emilia ist die Unsichtbarste von allen, sie steht für all die Menschen, die in Israel arbeiten, aber kein Teil der israelischen Gesellschaft sind. Sobald sie nicht mehr gebraucht werden, spielen sie überhaupt keine Rolle und haben keine Rechte mehr. Sie ist nicht jüdisch und gehört allein deshalb schon nicht wirklich dazu. Diese Kirche in Jaffa, die ich beschreibe, existiert tatsächlich. Dort treffen sich sehr viele Christen, diese Kirche ist voller Leben. Die israelischen Juden aber nehmen Institutionen wie diese überhaupt nicht wahr. Natürlich gibt es in Israel zahlreiche Nationalitäten und Religionen, aber schockierend ist, dass viele von ihnen eben nicht als vollwertig angesehen werden. Es gibt Tausende ausländische Arbeitskräfte, die illegal im Land sind und keine Rechte haben. Diese ausländischen Arbeitskräfte kommen meist nach Israel, um zu bleiben. Die israelische Gesellschaft sieht diese Menschen aber nicht. Sie werden geduldet, aber es gibt kein Konzept dafür, wie sie integriert werden könnten.

Ist «Drei» auch daher ein typisch israelisches Buch?
Wissen Sie, das Fantastische an Büchern ist ja, dass sie sehr ortstypisch und gleichzeitig ganz universell sein können. Häusliche und zwischenmenschliche Gewalt gibt es überall auf der Welt. Frauenmorde durch Männer geschehen immer wieder und überall. In Holon wie in Basel oder New York. Die Tragödie, die im Zentrum des Romans steht, ist universell gültig und uns allen bekannt. Aber gleichzeitig könnte das Buch in dieser Form nirgendwo anders spielen als in Israel. Die konkreten Geschichten der drei Frauen aber sind aus meiner Sicht sehr typisch für die israelische Gesellschaft.

Möchten Sie als Autor auch auf soziale Missstände hinweisen?
Wissen Sie, die Rolle israelischer Autoren ist ja eine ganz besondere. In Israel herrscht die Ansicht vor, dass die Schriftsteller diejenigen sind, die Israel beobachten, das Land beschreiben und durch ihr Wirken auch eine hohe Verantwortung tragen. Von den Autoren wird erwartet, die Gesellschaft zu erklären und auf Missstände aufmerksam zu machen. Ich muss zugeben, ich fühle mich in dieser Rolle nicht wirklich wohl. Ich bin ja kein Soziologe. Ich sehe mich viel eher als jemand, der Einblicke vermittelt und den Finger in die Wunde legt. Ich masse mir nicht an, die Gesamtsituation im Land überblicken und beurteilen zu können. Aber ich picke gewisse Aspekte heraus, um diese zu beleuchten. Denn es gibt so viele verschiedene Schattierungen innerhalb der israelischen Gesellschaft, und als Autor kann ich ja nicht die Verantwortung für das ganze Land mit auf meinen Schultern tragen.

Dror Mishani: Drei. Diogenes Verlag, Zürich 2019