Valerie Wendenburg

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«Der Holocaust war immer präsent»

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 8. Oktober 2014.

Katja Petrowskaja, Sie wurden für die Geschichte «Vielleicht Esther» mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Wie fühlen Sie sich mit diesem plötzlichen Erfolg?
Zuerst war ich absolut geschockt. Ich habe mich vorher nie getraut, zu schreiben, und war zu Beginn überhaupt nicht auf den Erfolg vorbereitet. Ich habe über etwas sehr Intimes geschrieben, es sind eigentlich Geschichten für meine Freunde, bei denen ich nie an Preise oder Auszeichnungen gedacht habe. Langsam beginne ich überhaupt erst, das alles zu geniessen.

In Ihrem Buch «Vielleicht Esther» gehen sie auf Spurensuche und forschen nach jüdischen Vorfahren. Welche Bedeutung hat das Judentum in ihrem Leben?
Wenn man weiss, das man jüdischer Herkunft ist, bedeutet das noch lange nicht, dass man irgendetwas von dieser Kultur mitbekommt. Ich bin mit meinen jüdischen Grossmüttern zusammen in Kiew aufgewachsen, aber das heisst nichts. Das Judentum spielte keine Rolle, die Juden in der Sowjetunion lebten ihre Religion zum grössten Teil ja ohnehin nicht aus. Bezeichnend ist vielleicht, das es im Russischen zwei verschiedene Worte für «jüdisch» gibt. Zum einen für die Menschen, die religiös sind, und zum anderen für die, die jüdischer Herkunft sind. Bis vor Kurzem stand in unseren Pässen noch das Wort «Jude», auch wenn die Religion nichts bedeutet hat. Das führte zu der eigenartigen Situation, dass die einzige Identifikationsmöglichkeit, die wir Juden in der Ukraine hatten, die Massengräber aus dem Zweiten Weltkrieg waren. Ansonsten war das Judentum für mich eigentlich kaum existent.

 

Katja Petrowskaja (© Wikipedia)

Wurde bei Ihnen zuhause oft über ihre Familiengeschichte und die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg gesprochen?
Meine Mutter ist Historikerin. Ihr Hauptthema war die Zeit des Krieges, sie hat in Schulen unterrichtet, Theaterstücke und Ausstellungen zum Thema organisiert. Der Holocaust war immer präsent, ich bin mit diesem Thema gross geworden. Meine beiden Eltern sind Kriegskinder. Die Religion hingegen war bei uns überhaupt nicht relevant.

«Ich hatte zu viel zu erzählen, und so entstanden meine Geschichten.»

Wann kam das Bedürfnis bei Ihnen auf, selbst nachzuforschen?
Ich habe dieses Bedürfnis schon immer gehabt. Mir ist von Beginn an sehr viel erzählt worden. Wenn man aus einer typischen Intelligenzia-Familie in der Sowjetunion stammt, dann wird viel diskutiert wie bei uns. Dass ich schliesslich ein Buch geschrieben habe, resultiert viel mehr aus einer gewissen Unfähigkeit: Ich wollte Literaturwissenschaftlerin sein, das hat nicht wirklich geklappt, ich schaffte nicht wirklich da zu stehen, wo ich stehen wollte. Dann kam ich nach Berlin und schrieb als Journalistin für russische Medien – aber ich hatte zu viel zu erzählen, und so entstanden meine Geschichten. Erst wollte ich über die fünfziger und sechziger Jahre schreiben, über die Jugend meiner Eltern, aber das klappte auch nicht. Ich kann nicht ohne ein «Ich» schreiben, das hat nicht funktioniert. Es fällt mir leichter, über Dinge zu schreiben, bei denen ich dabei bin oder die ich sehen oder mir vorstellen kann.

Sie haben erst mit 26 Jahren gelernt, Deutsch zu sprechen. Aus welchem Grund haben Sie «Vielleicht Esther» auf Deutsch verfasst und nicht in Ihrer Muttersprache?
Ich habe viele verschiedene Antworten darauf. Erstens lebe ich in Berlin und ich rede den ganzen Tag Deutsch. Teilweise denke ich in Deutsch. Ich wollte meinen Freunden meine Geschichten erzählen, das ist ein Grund. Viele der Freunde kommen aus verschiedenen Ländern, aber sie sprechen alle Deutsch. Ferner ist man, wenn man eine sowjetisch-jüdische Familiengeschichte aufschreibt, schnell auf eine Rolle festgelegt, wenn man in Russisch schreibt. Auf den Siegeskurs der Russen ebenso wie auf die jüdische Opferrolle.

In dem Moment, in dem ich die Geschichten in Deutsch geschrieben habe, habe ich mich von all dem freigesprochen. Für viele Menschen passt nicht zusammen, dass jemand, der diese Geschichten erzählt, auf Deutsch schreibt – und daher denken viele, ich hätte mir alles nur ausgedacht. Es spielte für mich aber auch eine Rolle, dass ich als Kind schon im Chor Bach gesungen habe. Für mich war Deutschland nicht nur Krieg. Es war auch das Land der Märchen, der Prinzen, ein Land der Sehnsüchte. In meinem Text ist viel von diesen Sehnsüchten vorhanden.

«Mein Buch ist mehr als eine Familiengeschichte.»

Ist die Familiengeschichte für Sie nun mit dem Buch abgeschlossen?
Mein Buch ist mehr als eine Familiengeschichte. Es geht vielmehr um die Frage nach einer Haltung in der Welt. Um die Gewalt der Worte. Es ging mir daher konkret auch nie wirklich um die einzelnen Familienmitglieder. Ich habe auch schon gesagt: Meine Familie interessiert mich nicht. Das ist vielleicht übertrieben – aber es geht um mehr in den Geschichten. Wenn man diese Recherchen macht, dann hat man das Recht, darüber zu reden. Was das wirkliche Thema dabei ist, das ist eine andere Sache.

Ihre Eltern leben in Kiew – wie erleben Sie von Berlin aus, was in Ihrer Heimat gerade passiert?
Es ist eine absolute Katastrophe. Es ist für mich nicht zu fassen, was dort los ist, das eine solche russische Intervention stattfindet, oder kriminelle Separatisten unterstützt wurden. Der Missbrauch von Worten wiederholt sich ähnlich wie zur Zeit des Nationalsozialismus. Es findet eine unglaubliche Propaganda statt: Es wird für Frieden Krieg geführt, man spricht von Schutz für Menschen, die keinen Schutz gebraucht haben. Ein Propagandamittel ist auch, dass nun von ansteigendem Antisemitismus in der Ukraine gesprochen wird – soweit ich das beurteilen kann, stimmt dies nicht. Das ist absoluter Blödsinn.

Haben Sie persönlich das Gefühl, etwas bewirken zu können?
Nein, man steht in gewisser Weise machtlos vor der Situation und kann als Einzelperson gar nichts tun. Ich fühle mich auch wirklich überfordert, weil ich nun durch den plötzlichen Erfolg meines Buches und aufgrund meiner Herkunft so im Mittelpunkt stehe. Ich werde zu Talkshows eingeladen, soll Stellung beziehen – und habe oft selbst keine Sprache für die aktuellen Ereignisse in der Ukraine –, meine Rhetorik ist am Ende, aber man muss für die Menschen dort unbedingt weiter versuchen zu reden.

Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014