Valerie Wendenburg

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Ein jüdischer oder ein demokratischer Staat?

Im Jahr der Jubiläen spricht der Historiker Michael Brenner über Theodor Herzl, die Staatsgründung Israels und die aktuellen inneren Konflikte des Landes.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 1. September 2017.

Der erste Zionistenkongress, der 1897 in Basel stattgefunden hat, jährt sich zum 120. Mal. Was würde Theodor Herzl wohl denken, würde er heute einen Blick nach Israel werfen?
Als Historiker muss ich die langweilige Antwort geben: Wir wissen es nicht. Denn wenn Herzl heute leben würde, wäre er nicht Herzl. Aber das ist natürlich eine ausweichende Antwort. Ich denke schon, dass Herzl von vielem einerseits beeindruckt wäre. So von der ganzen technologischen Entwicklung und der wirtschaftlichen Situation und auch durchaus von der Tatsache, dass Menschen aus so vielen unterschiedlichen Ländern doch relativ gut integriert sind. Er würde sich sicher auch gerne ins Kaffeehaus in Tel Aviv setzen. Aber andererseits wissen wir natürlich, dass Herzl ganz andere Vorstellungen hatte: Er ging davon aus, dass Staat und Religion voneinander getrennt sein würden. Er dachte auch, dass es keine Armee braucht. Ferner ging er davon aus, dass die arabische Bevölkerung die Zionisten mit offenen Armen begrüssen würden. Diese drei sehr wichtigen Dinge sind ja nun völlig anders abgelaufen als er sie sich erhofft hatte.
Herzl war ja ein Utopist, der von Gleichberechtigung der Religionen, der Geschlechter und einem friedlichen Nebeneinander geträumt hat. War sein Traum naiv?
Wenn man heute seinen Roman «Altneuland» liest, dann denkt man schon, dass die Vorstellungen auch naiv waren. Das wurde ihm auch schon zu seinen Lebzeiten vorgeworfen. Was das Nebeneinander der Religionen oder vielmehr der verschiedenen Nationen und Ethnien angeht, hatten ihn andere Zionisten wie Achad Haam bereits kritisiert.

Im Basler Programm von 1897 war von der Gründung einer «öffentlich-rechtlichen Heimstätte» die Rede, nicht von der Gründung eines«Staates».WaswarderGrundgedanke?
Das finde ich einen ganz wichtigen Punkt, der heute oft übersehen wird. Selbst, wenn man den «Judenstaat» liest, ist man nicht der Meinung, dass das ein unabhängiger Staat im modernen Sinne ist. Herzl spricht von der «Jewish company» und meint eher eine Art Genossenschaft. Meiner Meinung nach war bis in die 1930er- oder sogar 1940er-Jahre hinein nicht klar, dass das Ziel des Zionismus unbedingt ein völlig unabhängiger Staat sein müsste. In der Balfour-Deklaration von 1917 wird ja eben gerade kein eigener Staat ver- sprochen, sondern ein «national home», eine nationale Heimstätte, die beispielsweise auch eine autonome Region innerhalb des briti- schen Empire hätte bedeuten können.

«Herzl war ohnehin der Meinung, man würde in Israel kein Hebräisch und selbstverständlich kein Jiddisch sprechen.»

Was ist unter dem Begriff «jüdischer Staat» konkret zu verstehen?

Der Grundgedanke bei Herzl war zunächst, eine Heimstätte für Juden zu finden. Der Staat hat in seinen Schriften keinen jüdischen Charakter. Die Sprachen, die Herzl sich vorstellte, waren die westeuropäischen Kultursprachen, er träumte von Theater auf Deutsch, Französisch und Englisch. Herzl war ohnehin der Meinung, man würde kein Hebräisch und selbstverständlich kein Jiddisch sprechen. Von dem ausgehend, was wir heute wissen, sozusagen von hinten gelesen, denkt man immer, alles sei schon vorgegeben gewesen, obgleich die Grundidee früher eine ganz andere war. Selbst Zeev Jabotinsky, der den nationalistischen Flügel der zionistischen Bewegung geführt hat, schrieb noch 1940 davon, dass es ein Gemeinwesen geben soll, in dem Juden und Araber gleiche Rechte und jeweils Autonomie haben sollen. Er schrieb, wenn es einen jüdischen Ministerpräsidenten gäbe, dann soll es einen stellvertretenden arabischen Ministerpräsidenten geben – und umgekehrt!

Wäre der Staat Israel auch ohne den Holocaust gegründet worden?
Die zionistische Bewegung gab es ja lange vorher.
Die Frage kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten, aber ich würde nur sagen, es gibt viele Menschen heute, die vergessen, dass es schon vor dem Holocaust eine sehr ausgeprägte jüdische Autonomie im britischen Mandatsgebiet Palästina gab. Viele Historiker sprechen von einem «Staat im Werden», der bereits eigene Institutionen im kulturellen wie administrativen Bereich aufwies. Natürlich waren das alles Grundsteine zum Aufbau des Staates. Man kann nicht wissen, ob es den Staat Israel ohne den Holocaust gegeben hätte, aber die Bestrebungen, so einen Staat zu gründen, waren schon vorher relativ weit gediehen. Zudem hätte es potenziell natürlich viel mehr Einwanderer gegeben, wenn nicht sechs Milli- onen Juden ermordet worden wären.

«In der Tat war Herzl gar nicht religiös, er hat seinen Sohn nicht beschneiden lassen und hatte einen Weihnachtsbaum zu Hause.»

Die Begründer der zionistischen Bewegung waren areligiös oder antireligiös, auch Theodor Herzl. Wie ist es zu erklären, dass die Zahl der Orthodoxen so stark angewachsen ist?
In der Tat war Herzl gar nicht religiös, er hat seinen Sohn nicht beschneiden lassen und hatte einen Weihnachtsbaum zu Hause. David Ben Gurion aber ist bei der Staatsgründung Kompromisse mit den Orthodoxen eingegangen, in denen der Orthodoxie bestimmte Bereiche der Gesellschaft zugestanden wurden. Der folgenreichste Kompromiss ist wahrscheinlich der ganze Bereich des Ehe- und Scheidungsrechts, aber auch im Erziehungswesen wurden Eingeständnisse gemacht – so werden sogar private ultraorthodoxe Schulen staatlich unterstützt. Er ging aber davon aus, dass die Orthodoxen und vor allem auch die Ultraorthodoxen einen kleine Minderheit sind, die eher schrumpfen wird. Dass dem nicht so ist, das ist meiner Meinung nach die grösste Herausforderung, die die israelische Gesellschaft im Inneren bewältigen muss. Vor zweit Jahren hat Staatspräsident Reuven Rivlin darauf hingewiesen, dass die Mehrzahl der Erstklässler zum ersten Mal nicht mehr in die normalen säkularen jüdischen Schulen geht. Die Mehrzahl geht in nationalreligiöse, charedische oder arabische Schulen, Tendenz steigend. Das heisst, die Bevölkerungsgruppe, die einmal die grosse Mehrheit des Staates gebildet hat, ist jetzt – zumindest wenn man die Zahl der Kinder betrachtet – in der Minderheit, und das sagt natürlich etwas über die Weiterentwicklung aus. Das ist eine Herausforderung hinsichtlich der Werte, die der ursprüngliche Staat Israel einmal verkörpert hatte. Es gibt heute ja Umfragen, in denen mehr Menschen in Israel eher dafür stimmen würden, eher einen jüdischen als einen demokratischen Staat zu haben, falls sie sich zwischen beiden entscheiden müssten. Dadurch könnte ja auch die Diskrepanz zwischen der Diaspora und Israel grösser werden. Es gibt ja nur eine wirklich grosse Diaspora heute in den USA. Die meisten amerikanischen Juden, sofern sie überhaupt einer religiösen Richtung angehören, rechnen sich dem Reformjudentum oder dem konservativen Judentum zu. Das bedeutet, dass die Juden in den USA sich die aktuelle Entwicklung in Israel nicht lange gefallen lassen werden.

Im Sechstagekrieg von 1967 eroberte Israel den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel, das Westjordanland mit Ostjerusalem und die Golanhöhen. Seit 50 Jahren nun halten israelische Truppen die Palästinensergebiete besetzt. Bei weitem nicht jeder Israeli ist mit dem Besatzungsregime einverstanden. Wie beurteilen Sie die Situation?
Es wird auf Dauer nicht möglich sein, einen jüdischen und demokratischen Staat zu haben, der keine eindeutige jüdische Mehrheit hat. Das ist ja offensichtlich. Darauf hat die israelische Regierung bisher keine Antwort gefunden. Entweder müssen die demokrati- schen Rechte der nicht jüdischen Bevölkerung eingeschränkt werden, oder der Staat verliert seinen jüdischen Charakter – eine dritte Alternative sehe ich nicht.

Wie steht es um Jerusalem? Die Stadt scheint für die grosse Mehrheit der Israeli aller Schattierungen die unteilbare Hauptstadt Israels zu sein – ihre Wiedervereinigung vor 50 Jahren wurde jüngst gross gefeiert.
Es ist eben auch für die grosse Mehrheit der Palästinenser so, dass sie auf Jerusalem eigent- lich nicht als Hauptstadt verzichten. Im Falle Jerusalems gibt es zwei Ansprüche auf das- selbe Territorium, bei dem ich keine grosse Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten sehe. Man könnte sich eine Lösung vorstellen mit einer geteilten Kontrolle über die Stadt – aber all diese Konzepte wurden schon durchdacht und im Jahre 2000 kam man sich in Camp David ja schon sehr nahe. Zurzeit sehe ich aber keine Lösung dieses Problems. Der Uno-Teilungsbeschluss von Palästina jährt sich zum 70. Mal. Die Resolution hatte zum Ziel, den Konflikt zwischen arabischen und jüdischen Bewohnern im britischen Mandatsgebiet Palästina zu lösen.

«Insgesamt sitzt man aber doch auf einem Pulverfass, das jederzeit explodieren kann.»

Kann dieser Konflikt aus Ihrer Sicht überhaupt gelöst werden, und wenn ja, wie?
Im Moment sieht es nicht nach einer Zweistaa- tenlösung aus. Vor allem, weil die Motivation der amerikanischen Seite fehlt. Das heisst, der Status quo wird erst einmal eine Weile weitergehen und damit leben die meisten Israeli ja auch sehr gut. In Israel selber geht es wirtschaftlich gut, das Bildungsniveau ist auf einem hohen Stand. Insgesamt sitzt man aber doch auf einem Pulverfass, das jederzeit explodieren kann. Die Frage ist: Was ist der Unterschied zwischen der israelischen Rechten und der Linken in Bezug auf die Konflikthaltung? Die Linke ist vielleicht eher gewillt, ein grösseres Risiko einzugehen, und sagt sich: Langfristig müssen wir zwei Staaten schaffen. Aber das Risiko, das damit verbunden ist, ist unbestreitbar da. Natürlich schauen viele Israeli auf ihre Nachbarländer und beobachten, was seit dem «Arabischen Frühling» in Syrien und anderen Ländern passiert. Dennoch: Man kann nicht ewig mit dem Status quo leben, und man kann nicht ewig ein Volk, und damit meine ich vor allem die Palästinenser in den besetz- ten Gebieten, kontrollieren, das nicht unter der israelischen Herrschaft leben möchte. Ich kann auch keinen Ehepartner zwingen, mit mir verheiratet zu bleiben, wenn er dies nicht möchte. Der Konflikt wird nicht verschwinden, und die arabische Seite hat natürlich auch Zeit. Demografisch gesehen ist die Entwicklung ja klar.

Worin sehen Sie daneben die grössten Herausforderungen für Israel in der nahen Zukunft?
Neben dem Weiterbestehen des eben genannten Konflikts der Besatzung ist es sicher die Herausforderung, einen gangbaren Weg zwischen den alten Idealen eines säkularen Israel und den für den jüdischen Staat doch neuen Idealen sowohl der Nationalreligiösen wie auch der Ultraorthodoxen zu finden.