Valerie Wendenburg

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Ein Startversuch aus dem Nichts

Erschienen am 11. März 2022 im jüdischen Wochenmagazin «tachles» .

Das Interesse an der Flüchtlingshilfe der Israelitischen Gemeinde Basel (IGB) ist gross: Rund 50 Gemeindemitglieder kamen am Sonntagabend im Cercle in Basel zusammen, um an einem spontan einberufenen Informations-anlass zum Thema «Jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine in Basel» teilzunehmen. 80 weitere hatten sich via Zoom zugeschaltet. Tatsächlich hat die IGB zeitnah nach Ausbruch des Kriegs in der Ukraine eine Flüchtlingshilfe organisiert – und zahlreiche Freiwillige machen mit. Bisher hat die IGB 38 jüdischen Menschen bei der Flucht in die Schweiz geholfen, und weitere werden folgen. Die Aktionen verantwortet auf strategischer Ebene eine Taskforce, bestehend aus IGB-Vorstandsmitgliedern, Gemeinderabbiner Mosche Baumel und IGB-Geschäftsführerin Isabel Schlerkmann.

Die Koordination des Projekts der Flüchtlingshilfe liegt in den Händen von Vorstandsmitglied Claudine Fried. Zudem wurde neu ein Flüchtlingsstab geschaffen, dem Rolf Stürm vorsteht, der auch durch den Anlass im Cercle führte. Sein Stellvertreter ist Rav Auriel Silbiger. Der Stab steht in ständigem Austausch mit der Taskforce und seine Aufgaben sind vielfältig: Von der Aufnahme der Flüchtlinge über deren Registrierung, Sicherheit, Unterkunft, Verpflegung bis hin zur medizinischen Versorgung werden alle Bereiche vom Stab abgedeckt, dem zahlreiche engagierte freiwillige IGB-Mitglieder angehören. IGB-Gemeindepräsident Emmanuel Ullmann sagt: «Ich finde es bewundernswert, wie schnell wir die Taskforce und den operativ tätigen Stab auf die Beine gestellt haben und wie viele Gemeindemitglieder die Hilfsaktion mit Geldern oder Hilfsangeboten unterstützt haben.» Tatsächlich ist die Hilfsbereitschaft gross; die Unsicherheit aber auch. So ist auf einer Folie der Präsentation an dem Anlass zu lesen: «Es ist ein Startversuch aus dem Nichts.» Es wird deutlich, dass aktuell niemand weiss, wie lange der Flüchtlingsstab tätig sein muss, und dass die Gemeinde längerfristig auf die freiwillig angebotene und nicht vergütete Arbeit ihrer Mitglieder zählt.

Grosse Hilfsbereitschaft
Wie aber gelangen die Flüchtlinge nach Basel? Die erste Kontaktaufnahme geht über den IGB-Rabbiner Mosche Baumel, sie wird an das Stabsteam weitergeleitet, das sich um die weiteren Angelegenheiten kümmert. Der Rabbiner prüft vor der Flucht der Menschen zudem, ob sie jüdisch sind oder nicht. Bisher sind von den 38 Geflüchteten einige weiter nach Zürich gereist, die anderen sind in Wohnungen der IGB und der Timberg-Stiftung im Haus Eden, privat bei Gemeindemitgliedern sowie in Wohnungen, die der Gemeinde zur Verfügung gestellt wurden, untergebracht. Was mit den Flüchtlingen in Zukunft geschieht, sollten sie länger in der Schweiz bleiben müssen, ist offen.

«Aktuell ist die Hilfsbereitschaft in der Gemeinde sehr hoch.»

Isabel Schlerkmann sagt: «Dies muss sich zeigen. Mit dem S-Status könnten Flüchtlinge nach einem Monat arbeitstätig werden. Wir hoffen, dass der Entscheid der Behörden zu den Hilfestellungen bald fällt und die IGB beispielsweise bei den Unkosten entlastet wird, auch durch allfällige Rückerstattung. Ziel ist, dass die Familien selbstständig wohnen können.» Wie viele Menschen die IGB aufnehmen kann, steht zurzeit nicht fest. Es sei aber klar, dass die ehrenamtliche Betreuung «stemmbar bleiben muss», wie die IGB-Geschäftsführerin betont. Aktuell ist die Hilfsbereitschaft in der Gemeinde sehr hoch, es liegen über 250 Angebote für Sachspenden, Unterstützung oder Schlafplätze vor. Erwähnenswert ist, dass das jüdische Basel über die Grenzen der einzelnen Gemeinden (IGB, Migwan, Israelitische Religionsgesellschaft) hinweg agiert. Besonders engagieren sich zudem auch das Restaurant Numnum, das für die Verpflegung der schutzbedürftigen Menschen besorgt ist, wie auch die Wizo, die Sachspenden entgegennimmt und die Flüchtlinge vor Ort mit dem Notwendigen ausstattet.

Austausch mit dem VSJF
Auf die Frage, ob die Aktion der IGB mit dem Joint Distribution Council, mit dem Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF) oder Behörden koordiniert ist, sagt Isabel Schlerkmann: «Zeitnah nach Kriegsausbruch haben wir als Gemeinde uns entschlossen, zu helfen. Die Unterstützung der genannten Organisationen hat einen anderen Fokus bei den Hilfestellungen, sodass wir uns gut ergänzen. Aktuell stehen wir mit VSJF, Behörden und anderen Gemeinden, vor allem mit der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, in gutem und produktiven Austausch.» An dem Anlass im Cercle sagte Rolf Stürm auf Nachfrage, dass selbstverständlich der Austausch mit dem Kanton Basel-Stadt gesucht werde, aber dies sei bisher aufgrund von Schabbat und anschliessend der Basler Fasnacht kaum möglich gewesen. Gabrielle Rosenstein, Präsidentin des VSJF, lobt das schnelle Vorgehen der IGB, sie sagt: «Die Geschwindigkeit der Ereignisse erfordert Spontanität.» Tatsächlich sei es so, dass die praktische Aufnahme der Flüchtlinge und die Betreuung vor Ort allein von den Gemeinde geleistet werden könne. «Es ist gut, dass wir in ständigem Kontakt sind und weiterhin bleiben», so Gabrielle Rosenstein.

«Es kann der Zeitpunkt kommen, an dem die Gemeinden nicht mehr spontan handeln können.»

Denn «es ist wichtig, dass an einer zentralen Stelle ein Gesamtüberblick über die Hilfsaktivitäten der Gemeinden vorhanden ist». Eine gemeinsame Koordination sei besonders dann wichtig, wenn die Flüchtlingsaufnahme eine längere Zeit andauere. Denn dann werde es nationale Strukturen und Vorgaben geben. «Es kann der Zeitpunkt kommen, an dem die Gemeinden nicht mehr spontan handeln können, und sie sollten auf die Zeit vorbereitet sein, in der sie nicht mehr alles selbst bewältigen können.» Dann sei man darauf angewiesen, die nationalen Angebote in Anspruch zu nehmen. Der VSJF ist der Schweizerischen Flüchtlingshilfe angegliedert und hat jahrzehntelange Erfahrungen in der Flüchtlingspolitik und ist in Kontakt mit dem Staatssekretariat für Migration. Diese Kooperationen sind wichtig, denn – und auch das ist eine Erfahrung – die spontane Hilfsbereitschaft der ehrenamtlich Tätigen kann im Laufe der Zeit abnehmen. Damit das Hilfsprojekt auch dann noch gestemmt werden kann, ist ein gemeinsames Vorgehen vonnöten.

Kompetenz, Kenntnisse und Ausdauer
Martina Ziegerer, Geschäftsleiterin der Stiftung Zewo, sagt gegenüber tachles: «Es ist beeindruckend, wie gross die Solidarität und die Hilfsbereitschaft für die Menschen aus der Ukraine ist. Die vielen Initiativen und Sammlungen zeigen es deutlich. Doch die Hilfe in Kriegs- und Krisengebieten ist anspruchsvoll. Wir raten deshalb, eine vertrauenswürdige Organisation, die darin Erfahrung hat, mit einer Geldspende zu unterstützen.» Denn um die benötigte Hilfe zu organisieren, brauche es Kompetenz, Kenntnisse und Kontakte vor Ort und natürlich auch die nötige Ausdauer. «Wer selber, als Verein oder Gemeinschaft, eine Hilfsaktion auf die Beine stellen möchte, sollte nicht ohne Erfahrung und die nötigen lokalen Kenntnisse sowie Kontakte vor Ort zu Sachspenden aufrufen. Geldspenden für eine Hilfsorganisation zu sammeln, die Erfahrung hat mit der Hilfe in Kriegs- und Krisengebieten, macht aber durchaus Sinn», so Martina Ziegerer. Auch aus ihrer Sicht sind Kooperationen mit erfahrenen Organisationen ratsam, denn diese Organisationen wissen, welche Hilfe benötigt wird: «Sie können Hilfsaktionen koordinieren und sind dank Spenden, die jetzt gesammelt werden, in der Lage, die dringend benötigte Hilfe auch über eine längere Zeit zu erbringen.» Die IGB ist mit ihrer Flüchtlingshilfe noch ganz am Anfang. Am Anlass vom Sonntag wurde betont, dass die IGB die erste jüdische Gemeinde sei, die aktiv Flüchtlingshilfe betrieben habe. Nun muss sich zeigen, wie lange das beachtliche Engagement auch in Zukunft anhält, denn ein baldiges Ende des Kriegs in der Ukraine ist leider aktuell nicht abzusehen.