Valerie Wendenburg

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Eine Frage der Haltung 

Das Kunstmuseum Bern will bis zum kommenden Mittwoch darüber entscheiden, ob es das Gurlitt-Erbe annimmt – ein gewichtiger Entscheid, der Chancen wie auch grosse Risiken birgt. 

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 21. November 2014. 

Es steht ausser Frage, dass Hildebrand Gurlitt (1895–1956) zu den wichtigsten Kunsthändlern des «Dritten Reichs» gehörte. Sein Erbe ist vorbelastet: Die Sammlung Gurlitt, die aus 1600 Gemälden, Zeichnungen und Grafiken besteht, enthält Teile von Raubkunst und sogenannter entarteter Kunst. Pikant ist: Als Schlüsselfigur in Kunstfragen wusste Hildebrand Gurlitt zu seiner Zeit über die kriminellen Umstände der Herkunft mancher Werke genau Bescheid. Er und auch sein Sohn, der im Mai verstorbene Cornelius Gurlitt, profitierten somit direkt von den Raubzügen der Nazis. Der Schweizer Kunstrechtsexperte Andrea Raschèr bringt es auf den Punkt, wenn er gegenüber tachles sagt: «Für das Kunstmuseum Bern stellt sich zwangsläufig die Frage: Soll ein Schweizer Museum, das zu einem grossen Teil von der öffentlichen Hand finanziert wird, die Sammlung eines der wichtigsten Kunsthändlers des Naziregimes in sein Haus aufnehmen? Es ist eine Frage der Haltung.» 

International Massstäbe setzen 

Da die gesetzliche Frist zur Ausschlagung des Erbes Anfang Dezember ausläuft, muss sich das Kunstmuseum Bern, das von Cornelius Gurlitt als Erbe benannt worden ist, in den kommenden Tagen entscheiden: Nimmt es das Erbe an oder nicht? Spekuliert werde viel – Chancen und Risiken werden abgewogen –, und die Öffentlichkeit werde völlig aussen vor gelassen, kritisiert Raschèr. Er begründet, es handle es sich bei dem Entscheid des Berner Kunstmuseums um eine Angelegenheit, die auch die Schweizer Bevölkerung betreffe: Möchten die Bürgerinnen und Bürger die Gurlitt-Sammlung prominent in ihrer Hauptstadt ausstellen? Sind sie bereit, die mit Sicherheit anfallenden Kosten aufgrund der zu erwartenden Prozesse und der notwendigen Provenienzforschung mitzutragen? Dies sind nur wenige der anfallenden Fragen über den Umgang mit der im Erbe vorhandenen Raubkunst, die im Vorfeld einer Annahme des Erbes geklärt sein sollten, meint Raschèr. Für ihn geht der Fall Gurlitt weit über die Frage hinaus, ob das Kunstmuseum Bern die Erbschaft antritt oder nicht: «Mit verantwortungsvollem Verhalten, selbstkritischen Überlegungen des eigenen Verhaltens, auch in der Nach-NS-Zeit, kann das Kunstmuseum international Massstäbe setzen oder gar zum Vorbild werden.» Dies vor dem Hintergrund, dass die Schweiz bisher in Sachen Provenienzforschung – mit wenigen Ausnahmen – noch kein Ruhmesblatt verdient hat (tachles berichtete). Auch das Kunstmuseum hat sich zwar klar zu den Washingtoner Prinzipien bekannt, die «faire und gerechte» Lösungen bei der Rückgabe von Werken verlangt.

«Die Schweiz hat bisher in Sachen Provenienzforschung noch kein Ruhmesblatt verdient.»

Aber, wie Raschèr betont: «Das Bekenntnis ist das eine, die Anwendung der Prinzipien etwas anderes. In der Schweiz haben die meisten Museen gelinde gesagt Mühe mit der Anwendung. Sie wenden die Prinzipien sehr formalistisch und eng an, sodass die Repressionen und brutalen Verfolgungen der Nazis geradezu ausgeblendet werden.» Viele Museen würden sich auf den Standpunkt stellen, dass nur Kulturgüter zurückzugeben sind, die beschlagnahmt wurden. «Viele Werke aber haben die Verfolgten, die Opfer selber verkauft – in der Not! Ob ein Mensch seine Sammlung tief unter ihrem Wert verkaufen musste, um sich und seine Familie zu retten, das ist vielen Museen egal. Die Washingtoner Prinzipien ist auch in Fällen von sogenanntem Fluchtgut anzuwenden. Das ist ein entscheidender Aspekt», so Andrea Raschèr. Als ein positives Beispiel nennt er das Bündner Kunstmuseum, das 1999 das Gemälde «Nähschule» von Max Liebermann bedingungslos an die Erben zurückgab. Das Kunstwerk war von der Familie Silberberg 1935 auf Druck der Nazis verkauft worden. «Das Museum betrachtete das Verfolgungsschicksal der Familie und den Verkauf aus einer Zwangslage als ausschlaggebend. Würde sich das Kunstmuseum Bern ähnlich konsequent verhalten, wäre dies ein wichtiges Signal für andere Museen in der Schweiz», so Raschèr. Diese Ansicht vertritt auch Historiker Thomas Buomberger, der es begrüssen würde, wenn der Begriff des «verfolgungsbedingten Verlustes» in der Schweiz Einzug erhalten würde. Dieser Begriff vereinigt alle Transaktionen, die ohne die Herrschaft der Nationalsozialisten nicht stattgefunden hätten – somit auch Fluchtgut. Für Buomberger birgt eine Annahme des Erbes von daher grosse Chancen nicht nur für das Kunstmuseum, sondern auch für die ganze Schweiz – vorausgesetzt das Museum handelt vorbildlich, gründlich und seriös im Sinne der Washingtoner Prinzipien: «Im Falle von Raubkunst muss in jedem Fall eine faire und gerechte Lösung gefunden werden», so Buomberger. 

Tatsächlich könnte ein neuer Standard hinsichtlich des Umgangs mit Raubkunst in der Schweiz entstehen. Wie Informationen aus der Presse zu entnehmen ist, soll es eine Vereinbarung zwischen dem Kunstmuseum Bern, der Deutschen Regierung und dem Freistaat Bayern geben. Danach soll sich das Kunstmuseum Bern verpflichten, über die Washingtoner Prinzipien hinaus auch die deutsche Handreichung zu befolgen. Diese geht entschieden weiter als die Washingtoner Prinzipien – dies ergibt sich schon aus dem Titel der deutschen Handreichung: der Geltungsbereich ist der verfolgungsbedingte Entzug. Die Washingtoner Prinzipien hingegen sprechen «nur» die Konfiskation an. Sollte diese Anwendung auch für das Berner Kunstmuseum gelten, hätte dies sicherlich Auswirkungen auf den Standard der übrigen Museen in der Schweiz. 

Ronald Lauder warnt 

Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald Lauder, warnte das Berner Kunstmuseum vor kurzer Zeit vor einer voreiligen Annahme des Erbes von Cornelius Gurlitt. Liesse sich das Museum auf dieses Erbe ein, «wird es die Büchse der Pandora öffnen und eine Lawine von Prozessen auslösen», sagte Lauder, selbst Präsident des New Yorker Museum of Modern Art und renommierter Kunstsammler, in einem Gespräch mit dem «Spiegel». Dass eine Prozesslawine über die Schweiz kommen könnte, erscheint Raschèr insofern übertrieben, als das Kunstmuseum Bern durch sein Verhalten selbst beeinflussen kann, «ob aus einem Schneeball eine Lawine wird». Aber ein Restrisiko bestehe immer. Thomas Buomberger zweifelt an, dass Ronald Lauder in dieser Sache glaubwürdig ist, da ihm nicht bekannt sei, dass Lauder selbst seine Sammlung einer Provenienzforschung unterzogen habe. Dass ein gewisses Risiko bestehe, was künftige Prozesse angeht, scheint ihm allerdings realistisch: «Amerikanische Kläger sind unberechenbar, allerdings drohen sie auch gerne mal», so der Historiker. Eine sichere Aussage könne aber nicht getroffen werden, da man den Bestand des Erbes noch gar nicht kenne. 

Die deutschen Behörden haben nach dem Fund der Gurlitt-Sammlung eine spezielle Task-Force gegründet, um die Werke einzuordnen, deren Provenienz offen ist. Mehrere hundert Bilder wurden schon in die Datenbank Lost Art gestellt, auf der jene Kulturgüter erfasst werden, welche während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Zweiten Weltkriegs verloren gingen oder als verschollen gelten. Cornelius Gurlitt hatte sich vor seinem Tod dafür ausgesprochen, dass eine Lösung mit den jüdischen Erben gefunden werde. 

Diskussion lange nicht beendet 

In der Öffentlichkeit wird in diesen Tagen auch darüber spekuliert, ob das Testament von Cornelius Gurlitt überhaupt rechtsbeständig ist. Dies ist der Fall. Ob es nichtig ist, müsste die Nachlassbehörde überprüfen. Diese ist aber offenbar nicht gewillt, die Umstände über die Entstehung des Testaments zu überprüfen. Nur dann könnte das Testament angefochten werden. Sollte das Kunstmuseum Bern das Erbe ausschlagen, so würde die Kunstsammlung an die gesetzlichen Erben Uta Werner und Dietrich Gurlitt gehen. Der Vertreter der Familie, der Anwalt Wolfgang Seybold, gab kürzlich bekannt, dass in diesem Falle alle Bilder, die unter Raubkunst-Verdacht stehen, an die rechtmässigen Erben «unverzüglich und ohne Gegenleistung» zurückzugeben werden. Die weiteren rund 460 Bilder würden zusammen «dauerhaft in einem deutschen Museum ausgestellt» werden. Der Entscheid des Berner Kunstmuseum darf also mit Spannung erwartet werden: Sicher ist nur, dass die Diskussion um den fairen Umgang mit Raubkunst und Fluchtgut noch lange nicht beendet ist.