Valerie Wendenburg

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«Es ist eine israelische Tragödie»

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 19. März 2021

Abigail, die Protagonistin in Ihrem Buch «Siegerin», ist Expertin für die Psychologie des Tötens. Sie trainiert Soldatinnen und Soldaten, ihre Feinde ohne moralische Bedenken umzubringen. Ist dies aus Ihrer Sicht überhaupt möglich?
Mir ist wichtig zu betonen, dass Abigail nicht fanatisch ist. Sie möchte erreichen, dass unsere Soldaten ihr feindliches Gegenüber töten – und nicht umgekehrt. Ich spreche natürlich nicht von Kriegsverbrechen oder dem Töten von Zivilsten. Aber wenn Soldaten ihren Feinden gegenüberstehen, sollte Moral eine untergeordnete Rolle spielen. Zahlreiche psychologische Studien zeigen, dass die meisten Menschen grosse Schwierigkeiten damit haben, andere Menschen zu töten, vor allem aus der Nähe. Dies scheint aber noch mehr am Instinkt zu liegen als an Moralvorstellungen. Abigails Aufgabe ist es, die Soldaten auf genau diese herausfordernde Situation vorzubereiten, die in Israel ja leider immer wieder Realität ist.

Ist es für Israel eine Herausforderung, junge Menschen zu rekrutieren und für das Militär zu gewinnen?
In Israel ist es nach wie vor Usus, dass die jungen Leute in die Armee gehen, um das Land zu verteidigen. Dies ist selbst für Linke wie mich eine Selbstverständlichkeit. Meine Tochter ist zurzeit im Militär. Ich selbst habe sechs Jahre gedient, drei Jahre länger als es Pflicht ist. Die Jahre im Militär waren für mich sehr prägend und wichtig hinsichtlich meiner persönlichen Entwicklung. Ich war allerdings nie in einer Kampfeinheit, sondern im Nachrichtendienst.

Heute steht Israel aber vor einem Problem: Die jungen Frauen und Männer sind erst 18 Jahre alt und in einer westlichen Welt aufgewachsen. Plötzlich wird von ihnen erwartet, im Ernstfall Menschen zu töten, und das ist für die meisten ein echtes Problem. Es ist nicht leicht, junge Menschen für den Nahkampf zu begeistern. Das Land hat hervorragende Technologien, Hightech-Kampfflugzeuge und erfolgreiche Rakentenabwehrsysteme. Aber wenn es darum geht, Menschen für den Kampf an vorderster Front zu finden, wie damals im Gaza- oder im Libanon-Krieg, so stösst das Militär an seine Grenzen.

Sind viele Menschen in Israel aufgrund ihrer Erfahrungen im Militär traumatisiert?
Ja, das ist ein Fakt. Es wurde nie wirklich darüber gesprochen, aber es gab eine Zeit, in der fast jeder Einwohner Israels irgendwie von den Kriegen betroffen war. Die Situation hat einen signifikanten psychologischen Einfluss auf alle Menschen. Nach den Einsätzen führen die Soldaten ihr Leben zwar meist fort wie bisher, auch wenn es einige Schwierigkeiten geben sollte. Aber eine beachtliche Anzahl von Menschen ist psychologisch oder emotional beeinträchtigt.

Werden die Betroffenen auch von der Armee unterstützt, ihre Traumata zu verarbeiten?
Ja, sie werden schon behandelt, aber die Ressourcen sind auch begrenzt. Man kann nicht jedem helfen und manche Fälle sind schwerwiegend.

Die Tatsache, dass der Krieg und ein Kampfeinsatz so real sind, hat doch sicher einen grossen Einfluss auf die junge Generation?
Auf jeden Fall. Als ich im Jahr 1983 rekrutiert wurde, war es noch etwas unangenehm, nicht in eine Kampfeinheit zu gehen. Heute ist es anders, es ist viel mehr akzeptiert, seinen Militärdienst zum Beispiel im Nachrichtendienst zu absolvieren. Daher setzen sich viele Eltern natürlich dafür ein, ihre Kinder in Einheiten zu schicken, in denen diese sicherer sind, zumal sie dort ebenso bedeutsame Arbeit leisten können. Was zählt ist, dass sie weder getötet werden noch andere Menschen töten müssen.

«Es gab eine Zeit, in der fast jeder Einwohner Israels irgendwie von den Kriegen betroffen war.»

Was tut die Regierung, um wieder mehr Menschen für die Kampftruppen zu begeistern?
Es ist nicht nur ein militärisches Problem, sondern ein gesellschaftliches. Junge Menschen aus der höheren Gesellschaftsschicht gehen nicht mehr in die Kampfeinheiten, sie suchen sich andere Einsatzmöglichkeiten. Ausnahmen gibt es allerdings immer wieder für Ultraorthodoxe – und das ist eine Ungerechtigkeit. Hier handelt es sich um eine der grössten offenen Wunden innerhalb der israelischen Gesellschaft, denn wir fragen uns doch: Weshalb müssen unsere Kinder ins Militär einrücken und andere nicht?

Zahlt Israel einen hohen Preis für seine Sicherheit?
Heute gehen rund 70 Prozent aller jungen Männer und 50 Prozent der jungen Frauen in die Armee. Sie verbringen dort zwei oder drei Jahre – die besten Jahre ihres jungen Lebens. Statt zu studieren, zu arbeiten oder zu reisen. Hinzu kommt das Risiko, kämpfen zu müssen, entführt oder sogar umgebracht zu werden. Natürlich zahlt Israel einen hohen Preis.

Im Verlaufe des Romans muss auch Abigails Sohn Schauli ins Militär einrücken. Man hat den Eindruck, dass sie ihn immer mehr verliert. Warum?
Das stimmt. Ihr Sohn Schauli ist nicht schwach, aber sehr sensibel und kultiviert. Er geht nur für seine Mutter in eine Kampfeinheit, ohne sie hätte er sicher einen anderen Weg in der Armee für sich gesucht. Abigail lässt ihm keine andere Chance und er entfernt sich von ihr.

Als er Probleme hat und während eines Einsatzes zusammenbricht, wird sie gerufen, kann ihm aber nicht helfen. Sie wirkt das erste Mal im Buch hilflos.
Abigail steht in dieser Szene für viele israelische Mütter und auch Väter. Sie schicken ihre Kinder aus Überzeugung ins Militär und verlieren von diesem Moment an die Kontrolle über sie. Die Eltern kooperieren und unterstützen die Armee, sie geben ihre Töchter und Söhne in ihre Hände. Von dem Moment an wissen sie nicht mehr, was mit ihren Kindern im Ernstfall geschieht. Dies ist ein grosser Konflikt. Schauli kann seine Mutter in seiner Not nur rufen lassen, da sie eine Persönlichkeit innerhalb des Militärs ist, aber selbst sie stösst an ihre Grenzen.

Interessant ist auch die Rolle des Vaters von Schauli, der Generalstabschef und Vertrauter von Abigail ist. Sie denkt, niemand wüsste etwas über ihr gut gehütetes Geheimnis. Ist dies ein Trugschluss?
Abigail denkt an ihre gemeinsame Abmachung und geht davon aus, dass niemand weiss, wer Schaulis Vater ist, nicht einmal ihr Sohn selbst. Aber wir wissen ja aus dem echten Leben, dass Geheimnisse schneller bekannt werden, als man ahnt – dies ist aus meiner Sicht besonders in Israel der Fall.

 

Yishai Sarid (© Wikipedia)

Im Buch gibt es eine junge Soldatin, die Hubschrauberpilotin Noga, die Menschen aus der Luft abschiesst.
Noga steht für eine neue Generation von Frauen in Israel und Abigail ist es deshalb extrem wichtig, dass Noga erfolgreich ist. Sie ist eine Feministin, die absolute Gleichberechtigung fordert, auch innerhalb der Armee. Das ist ein neues Phänomen in Israel, denn früher waren die jungen Frauen nicht unbedingt an vorderster Front, sie wurden anders eingesetzt. Heute möchten sie gleichberechtigt dabei sein, zum Beispiel in der Luftwaffe oder der Marine. Noga ist eine echte Kämpferin in einer Eliteeinheit, anders als Abigail, die ja eher im Hintergrund wirkt. Feministinnen wie Noga betonen heutzutage, Frauen könnten ebenso gut kämpfen und auch töten wie Männer. Die Armee ist in Israel von grosser Bedeutung und es ist genauso wichtig für Frauen wie für Männer, dort erfolgreich zu sein, wenn sie Karriere machen wollen.

Wie kamen Sie auf das Thema des Romans?
Ich stehe politisch links, mein Vater war Vorsitzender der Partei Meretz. Man wundert sich immer wieder, wie ich mit meinem Hintergrund überhaupt dazu komme, einen Charakter wie Abigail zu beschreiben. Zuerst einmal aber handelt es sich um einen Roman und nicht um ein Buch über den Krieg, das ist mir sehr wichtig zu betonen. Abigail möchte ja auch keine Kriege führen, sie tut nur ihre Pflicht in ihrem Beruf, um den Soldatinnen und Soldaten zu helfen. Ich möchte mit meinem Buch die israelische Tragödie aufzeigen: Das Land muss Jahrzehnte nach seiner Gründung noch seinen Kriegsapparat am Laufen halten und Jahr für Jahr junge Menschen rekrutieren mit all den Risiken, die damit verbunden sind. Ihr Leben aufs Spiel setzen. Das ist ein Fakt, den ich wichtig finde, zu thematisieren. Und die Literatur ist für mich der einzige Ort, an dem ich diesen Gedanken Ausdruck verleihen kann.

Wie wurde Ihr Buch in Israel besprochen?
Dies ist nicht so leicht zu beantworten. Zuerst einmal ist das Buch recht erfolgreich in dem Sinne, dass es eine hohe Auflage und eine grosse Aufmerksamkeit erreicht hat. Erstaunlicherweise wurde es aber sehr wenig politisch diskutiert. Vielmehr steht Abigails Charakter im Vordergrund des Interesses. Einige Leserinnen und Leser respektieren Abigail und schätzen ihre Stärke und auch ihr Pflichtbewusstsein. Andere mögen ihren Charakter gar nicht und kritisieren ihr Verhalten scharf – aus exakt den gleichen Gründen.

«Israel muss Jahrzehnte nach seiner Gründung noch seinen Kriegsapparat am Laufen halten.»

Nächste Woche wird in Israel zum vierten Mal in zwei Jahren gewählt. Was wäre Ihr Wunsch für die israelische Politik?
Ich kann Ihnen ganz sicher sagen, dass meine Hoffnungen nicht erfüllt werden. Ich bin ein linker Zionist. Mein Traum ist ein friedliches Zusammenleben mit unseren Nachbarn, die Einhaltung der Menschenrechte und so weiter. Aber diese Ansicht ist in Israel zurzeit nicht so populär. Israel hat sich in den vergangenen Jahren politisch stark nach rechts bewegt. Der Grund ist das Scheitern des Osloer Friedensprozesses und die zweite Intifada. Der Mörder von Itzhak Rabin war jüdisch, aber hauptsächlich geht der Terrorismus von den Palästinensern aus. Israel war bereit, Kompromisse einzugehen und Territorium abzugeben. Ehud Barak stimmte zu, den Palästinensern Ostjerusalem zurückzugeben. Die Antwort der Palästinenser war weiterer Terror. Diese Tatsache hat die israelische Linke getötet. Die Menschen in Israel haben kein Vertrauen mehr in die Palästinenser und daher gibt es für viele keine Alternative mehr zur rechten Politik. Obwohl die Wahlen in wenigen Tagen stattfinden, kann ich nicht abschätzen, wie sie ausgehen. Wenn ich raten müsste, dann tippe ich darauf, dass Netanyahu wieder Premierminister wird.

Können Sie sich eine stabile Regierung in Israel vorstellen?
Nur sehr schwer, denn das politische System ist sehr instabil. Genau so wie die israelische Gesellschaft ist auch die Politik aufgesplittert. Es gibt Religiöse und nicht Religiöse, Liberale und Konservative, es gibt Araber und Juden, Linke und Rechte. Viele kleine Parteien erschweren es, eine stabile Regierung zu bilden. Das politische System in Israel ist genauso so gespalten wie seine Gesellschaft.

Yishai Sarid: Siegerin. Kein & Aber, Zürich 2021.