Valerie Wendenburg

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«Frankreich steckt in einer moralischen Krise»

Im Gespräch äussert sich die Autorin Cécile Wajsbrot über die Spaltung der französischen Gesellschaft, über Antisemitismus und die Notwendigkeit einer politischen Veränderung.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 12. Mai 2017.

Emmanuel Macrons Sieg bei den französischen Präsidentschaftswahlen hat weltweit für Erleichterung gesorgt. Nun sitzen wir drei Tage später zusammen in Zürich. Wie fühlen Sie sich?
Auch ich spüre eine grosse Erleichterung und Zufriedenheit. Aber die Wahl ist noch nicht zu Ende, es ist noch völlig offen, ob Macron auch Erfolg bei der Wahl zur Nationalversammlung haben wird. Zu denken gibt mir, dass mehr als zehn Millionen Menschen für Marine Le Pen gestimmt haben. Das finde ich sehr erschreckend.

Frankreichs Bevölkerung ist gespalten. Neben den Menschen, die den Front National gewählt haben, sind elf Millionen Wahlberechtigte den Urnen ferngeblieben, weitere vier Millionen haben einen ungültigen oder leeren Wahlzettel abgegeben. Warum ist das Vertrauen vieler Franzosen in die Politik so erschüttert?
Es gibt schon seit langem Gefühle des Hasses und Ressentiments innerhalb der Bevölkerung. Diese Wahl zeigt das deutlich. Im ersten Wahlgang haben insgesamt mehr als 40 Prozent der Wähler für Le Pen oder Jean-Luc Mélenchon gestimmt – diese Menschen vertreten oftmals ähnliche Ansichten, egal ob sie politisch links- oder rechtsaussen stehen. Sie vereint die Angst vor dem Fremden.

Frankreich wird immer wieder als ein von einer Identitätskrise zerrissenes Land beschrieben. Die Bürger müssen, so sagt es Macron, ihren Kampfgeist wiederfinden, um ein neues Frankreich aufzubauen. Sind die Menschen dazu bereit?
Ich bin ziemlich überrascht und ein bisschen erschüttert, wie sich viele Leute, die in der Stichwahl für Macron gestimmt haben, geäussert haben. Sie haben ihn nur gewählt, um Le Pen zu verhindern. Macron bekommt also keinen grossen Vertrauensvorschuss von der Bevölkerung. Es sind bereits Leute auf die Strasse gegangen, um zu demonstrieren, dass sie kein Vertrauen in ihn setzen. Ich kann mich nicht erinnern, dass dies bei Jacques Chirac so gewesen ist.

Cécile Wajsbrot (© Valerie Wendenburg)

Im Jahr 2002 stimmten immerhin 82 Prozent für Jacques Chirac, um bloss nicht Front National unter Jean-Marie Le Pen zu wählen. Eine Erkenntnis der aktuellen Wahl scheint auch zu sein, dass der Front National seinen Schrecken verloren hat.
Ja, in dieser Hinsicht wurde ein Tabu wurde gebrochen. Der Grund liegt meiner Ansicht nach darin, dass die verschiedenen Präsidenten Frankreichs seit mindestens 20 Jahren nahezu nichts gemacht und bewirkt haben. Sie sind an die Macht gekommen, um an der Macht zu sein und zu bleiben. Das führte zu einer moralischen Krise im Land, sie seit den 1990er-Jahren existiert. In Frankreich gibt es eine Kluft innerhalb der Gesellschaft, die das Land spaltet. Dagegen wurde nichts unternommen, bis heute nicht. Viele Menschen denken daher, dass es nun nur noch eine Partei gibt, der sie noch keine Chance gegeben haben – und das ist der Front National. Fatal ist, dass er die Ängste der Leute noch schürt und ihnen zum Beispiel vermittelt, es gäbe immer mehr Einwanderer. Was gar nicht stimmt. Interessanterweise hat Marine Le Pen dort am meisten Stimmen erhalten, wo am wenigsten Einwanderer leben. Die Menschen haben nicht vor etwas Konkretem Angst, sondern vor dem, was kommen könnte.

«Heute wählen Menschen aus allen Bildungsschichten den Front National.»

Sie haben bereits vor zehn Jahren in einem Interview vorausgesagt, dass die Rechtsradikalen aufgrund des Reformstaus und der Kluft innerhalb der Bevölkerung in Frankreich an Zulauf gewinnen könnten.
Damit habe ich leider recht gehabt. Aber es wählen heute Menschen aus allen Bildungsschichten den Front National, das ist neu. Ich denke, es hat mit der Angst vor einer Veränderung zum Negativen zu tun und mit der Sorge vor einer Wirtschaftskrise.
Macron hat versprochen, in den nächsten fünf Jahren alles zu tun, damit es keinen Grund mehr gibt, für extreme Parteien zu stimmen. Kann ihm das gelingen?
Es ist ja schon einmal bemerkenswert und beruhigend, dass er das überhaupt gesagt hat und er sich der Situation im Lande bewusst ist. Das ist ein grosser Schritt. Es scheint mir bisher so, als würde Macron ernst meinen, was er sagt, und das zu versprechen, was er wirklich vorhat zu tun. Auf mich wirkt er authentisch, also bin ich hoffnungsvoll.

Nach Israel und den USA ist Frankreich das Land mit den meisten jüdischen Gemeindemitgliedern. Immer mehr aber wandern nach Israel aus. Ist der Antisemitismus eine ernsthafte Bedrohung?
Ich glaube, es hat schon immer Antisemitismus in Frankreich gegeben. Früher war er vielleicht versteckter und nun tritt er offener zutage. Eine Sache aber ist mir während des Wahlkampfes aufgefallen. Macron wurde immer wieder mit Verachtung vorgeworfen, dass er Banker gewesen sei. Es war wie ein Stigma. Ich frage mich ernsthaft, ob dieser Vorwurf ihm auch gemacht worden wäre, wenn er nicht bei der Bank Rothschild gearbeitet hätte. Mir scheint es, als könne man heute schon mit Antisemitismus konfrontiert werden, wenn man gar nicht selbst jüdisch ist.

Die Unsicherheit innerhalb der jüdischen Bevölkerung Frankreichs ist aufgrund der Terroranschläge gestiegen. Wie erleben Sie die Stimmung im Land?
Mit Erschrecken habe ich festgestellt, dass nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» und auf den jüdischen Supermarkt an der grossen Demonstration am 11. Januar 2015 fast nur Schilder mit der Aufschrift «Je suis Charlie» zu sehen waren. Es gab nur vereinzelte Parolen mit Hinweisen auf den Supermarkt. Von daher kann ich nachvollziehen, wenn Juden in Frankreich sich weniger beschützt fühlen. Ich lebe abwechselnd in Paris und Berlin, und muss sagen, dass in Deutschland schon viel früher eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte stattgefunden hat. Während meiner ganzen Kindheit und Jugend und auch noch als junge Erwachsene habe ich erlebt, wie in Frankreich die Verantwortung für die Vichy-Regierung und die Deportation der Juden beiseite geschoben wurde. Ich hatte immer das Gefühl, in zwei Welten zu leben: in meiner Familie, in der meine Grossmutter immer wieder erzählt hat, wie ihr Mann von der französischen Polizei vorgeladen und dann in ein Internierungslager gebracht wurde. Später wurde mein Grossvater in Auschwitz ermordet. In Frankreich spricht man übrigens bis heute nicht von Konzentrations-, sondern immer nur von Internierungslagern. Ausserhalb der Familien war diese Geschichte, die ja meine Familiengeschichte war, überhaupt kein Thema. Wenn aber darüber gesprochen wurde, dann war von Frankreich immer als einem besetzten Land die Rede. Auch Marine Le Pen hat diese Ansicht im Wahlkampf wiederholt vertreten.

«Zum ersten Mal seit 1981 gibt es im Frankreich der Nachkriegszeit eine Hoffnung.»

Kommendes Wochenende werden Sie im Literaturhaus Basel am Anlass «Fragile: Ein Blick nach Frankreich» über Frankreich und die Frage nach der Angst in Europa sprechen. Vereint die Menschen Europas diese Angst vor dem Ungewissen und vor der Zukunft?
Ich denke schon. Aus Angst sind viele Menschen empfänglich für Rechtspopulismus, auch in anderen Ländern. Ich schäme mich für Frankreich, wenn es um das Thema Flüchtlinge geht. Die Regierung von François Hollande hatte zugesagt, innerhalb von zwei Jahren 30000 Flüchtlinge aufzunehmen, was nicht geschehen ist. Das Paradoxe ist, dass viele Flüchtlinge gar nicht nach Frankreich wollen, was die Politiker wiederum gekränkt hat. Sie wollen nämlich, dass Frankreich attraktiv ist und jeder Lust hat, zu uns zu kommen. Wenn es aber darum geht, die Menschen aufzunehmen und zu integrieren, sieht es wieder ganz anders aus.

Die Wahl wird als Schicksalswahl für Europa bezeichnet. Stehen die Franzosen hinter der Idee der Europäischen Union?
Vielleicht bin ich zu pessimistisch, aber ich glaube, viele Menschen haben nur befürchtet, den Euro zu verlieren. Es geht der Mehrheit nicht um eine Zustimmung zu Europa, es geht mehr um eine Angst, Gewohntes zu verlieren und bisher Erreichtes zu bewahren.

Wird es Emmanuel Macron gelingen, auch bei der Wahl zur Nationalversammlung viele Wähler für seine Bewegung «On Marche» zu gewinnen?
Ich hoffe es, denn er hat eine Chance verdient. Meiner Meinung nach lohnt es sich, logisch zu handeln und wieder für Macrons Bewegung zu stimmen, damit er seine Ziele wirklich umsetzen kann. Zum ersten Mal seit 1981 gibt es im Frankreich der Nachkriegszeit eine Hoffnung. Damals wurde François Mitterand erstmalig gewählt, und diese Wahl hatte eine Veränderung der Gesellschaft zur Folge. Ich denke, die Menschen sind wieder bereit dazu.