Valerie Wendenburg

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Fussabdrücke im Schnee 

Ein Gespräch mit dem Journalisten Sacha Batthyany über über Täter, Opfer und Nachkommen.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 23. Dezember 2016.

Freunde kann man sich aussuchen, Verwandte nicht. Wie wahr dieser Satz ist, hat Sacha Batthyany erfahren, als er unvermittelt mit der Vergangenheit seiner Grosstante Gräfin Margit Thyssen Batthyány konfrontiert wurde, die im Jahr 2007 in einem Artikel in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» als «Gastgeberin der Hölle» be zeichnet wurde. Batthyanys Grosstante Margit gab im März 1945 ein Fest in ihrem Schloss im österreichischen Rechnitz. In dieser Nacht wurden am Bahnhof des Ortes 180 Juden erschossen. Die Täter waren allesamt Gäste des Festes, Gräfin Thyssen Batthyány wusste von der Tat. Sie hat nicht nur in der Nacht im Anschluss an das Massaker mit den Tätern weitergefeiert sie hat auch die Namen der an der Tat Beteiligten mit ins Grab genommen. Bis heute wurden weder die Leichen des Massakers gefunden noch die Täter zur Verantwortung gezogen.

«Ich wollte heraus finden, welchen Einfluss die Ereignisse, die lange zurückliegen, auf mein eigenes Leben haben.»

Sacha Batthyany erzählt im Gespräch mit tachles: «Ich habe Tante Margit als Kind oft erlebt, aber von Rechnitz hatte ich noch nie gehört, darüber hat sie nie gesprochen.» Auch seine Eltern, die bei den jährlichen gemeinsamen Essen in Zürcher Restaurants dabei waren, mieden das Thema und verharrten in Gesprächen über Alltägliches. Sacha Batthyany aber liess seine Familiengeschichte nicht mehr los. Er recherchierte das Massaker von Rechnitz, besuchte die Orte, in denen seine Vor fahren in Ungarn und Österreich gelebt hatten, bevor sie in die Schweiz emigrierten, und arbeitete das Thema journalistisch auf. Aber auch nachdem sein Artikel im Dezember 2009 in «Das Magazin» unter dem Titel «Meine Tante Margit. Die Geschichte eines Monsters» erschienen war, beschäftigte seine Herkunft ihn weiter: «Ich wollte heraus finden, welchen Einfluss die Ereignisse, die lange zurückliegen, auf mein eigenes Leben haben», so Batthyany. 

Suche nach den eigenen Wurzeln 

Und so forschte er weiter nach seiner eigenen Familiengeschichte und geht in seinem Buch «Und was hat das mit mir zu tun?» der Frage nach, in wiefern die Erlebnisse der Vorfahren das eigene Leben prägen. Im Zuge seiner jahrelangen Recherchen kam Sacha Batthyany seiner ungarisch stämmigen Familie und somit seinen eigenen Wurzeln näher und wurde sich klar darüber, dass es so etwas wie ein «unsichtbares Band» gibt, das die Generationen miteinander verbindet. Und er stiess auf weitere Familiengeheimnisse. «Nach dem Tod meiner Grossmutter übergab mein Vater mir ihr Tagebuch, das er eigentlich hätte verbrennen sollen», so Batthyany. Jahrelang hatte seine Grossmutter Maritta ihr Leben aufgeschrieben, aber wenig darüber geredet, wenn sie mit ihrem Enkel zusammen war. «Ich dachte immer, der Grund wären sprachliche Barrieren, hatte das Ge fühl, mein Ungarisch wäre nicht gut genug», er zählt er, bis ihm bei der Lektüre des Tagebuchs klar wurde, dass auch seine Grossmutter ein Geheimnis hütete, das sie ihr Leben lang beschäftigt hatte. Er wusste, dass ihr zweiter Sohn als Baby den Krieg nicht überlebt hatte aber es gab noch ein weiteres Drama in ihrem Leben. So wurde sie selbst als junge Frau Zeugin eines Mordes am jüdischen Ehepaar Mandl, das auf ihrem Anwesen in Ungarn von einem deutschen Wehrmachtssoldaten erschossen wurde. Dieser Vorfall sollte Maritta ihr Leben lang nicht mehr loslassen, in ihrem Tagebuch schrieb sie: «Wenigstens die Mandls hätte ich retten können. Wenigstens die.»

«Die Suche nach den eigenen Wurzeln liess sie ebenso wenig los mich selbst.»

Sie schreibt weiter, sie habe nie mehr in den Spiegel schauen können, ohne nicht an die Mandls zu denken, die ihre Eltern noch Minuten vor ihrem Tod um Hilfe gebeten hatten. Batthyany forschte nach der Familie Mandl und fand heraus, dass beide Kinder des ermordeten Ehepaars Auschwitz überlebt hatten und die Tochter, Agnes, heute noch mit über 90 Jahren in Argentinien wohnt. Der Kontakt entstand über die Töchter von Agnes, mit denen Batthyany sich austauschte und erstaunliche Parallelen entdeckte. «Auch die Nachkommen der Familie Mandl waren von ihrer Familiengeschichte eingenommen, sie sind immer wieder aus Südamerika in ihren Ferien nach Ungarn in das Dorf gereist, aus dem unsere beiden Familien stammen. Die Suche nach den eigenen Wurzeln und die Frage, was genau während des Holocaust mit ihrer Familie geschehen ist, liess sie ebenso wenig los mich selbst», so Batthyany, der erkennt: «Auch sie versuchen, sich ein Stück ihrer Identität aus dem Vergangenen zu holen». Der Holocaust sei in Agnes’ Familie nach wie vor sehr präsent, «und ich hatte aus dem Tagebuch meiner Grossmutter viele Informationen über ihre Familie, die sie nicht hatten». 

Von aussen betrachtet dramatisch wirkt der Umstand, dass Agnes immer davon ausgegangen ist, ihre Eltern hätten sich das Leben genommen. Sacha Batthyany aber weiss durch die Aufzeichnungen seiner Grossmutter vom Mord an Agnes Eltern, dem Ehepaar Mandl er fuhr auch im Bestreben nach Argentinien, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Doch rieten Agnes Töchter davon ab, sie wollten ihre Mutter im hohen Alter nicht mit der Ermordung ihrer Eltern konfrontieren. Am Ende seines Besuches in Buenos Aires erhielt er das Tagebuch von Agnes, das er in sei nem Buch eindrücklich den Aufzeichnungen sei ner Grossmutter gegenüberstellt. 

Verfolgte und Jäger 

Im Zuge seiner Spurensuche stiess Sacha Batthyany auch auf das Schicksal seines Grossvaters, dem Mann von Maritta, der zehn Jahre im russischen Gulag war. Zusammen mit seinem Vater reiste Batthyany bis nach Sibirien, um auch diesen Teil seiner Familiengeschichte zu erforschen und um seinem Vater näherzukommen. Dieser Teil des Buches ist besonders bewegend, zeigt er doch auf, dass sich die Grenzen zwischen Tätern und Opfern nicht immer klar ziehen lassen. Im Buch, das un ter anderem für den Schweizer Buchpreis nominiert war, heisst es: «Mein Vater hat den Krieg im Keller verbracht, mein Grossvater wurde von den Russen nach Sibirien verschleppt, meine Grossmutter verlor ihren zweiten Sohn und meine Grosstante hatte ein Massaker an 180 Juden zu verantworten. Sie waren Täter wie Opfer, Verfolgte wie Jäger, wurden erst gefeiert, dann geächtet.» Grossmutter Maritta schrieb in ihr Tagebuch: «Wir waren eine Familie von Maulwürfen. Wir zogen uns zurück, glaubten an nichts mehr und versanken in uns, den Kopf unter der Erde, immer am Ducken.» Und Batthyany fragte sich: «Was war mit mir?» 

Bedeutung der eigenen Existenz 

Auf seiner Suche nach der Antwort darauf, inwiefern die Erlebnisse seiner Vorfahren sein eigenes Leben beeinflussen, hat sich Sacha Batthyany in Therapie beim Zürcher Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalytiker Daniel Strassberg begeben. Strassbergs Mutter überlebte den Holocaust, sein Vater half Juden nach Ende des Zweiten Weltkriegs, nach Palästina zu fliehen so lernten sich seine Eltern kennen. Mit tachles spricht er darüber, inwieweit Erlebnisse, die nicht selbst erlebt worden sind, das eigene Leben prägen können. «Natürlich werden Traumata oder schwerwiegende Geschehnisse nicht im klassischen Sinne vererbt», sagt er. Vielmehr bekomme man diese durch be stimmte Verhaltensweisen oder Stimmungen der Eltern in die Wiege gelegt. Nachkommen ob von Opfern oder Tätern spiele keine Rolle müssten mit dem Schicksal leben, dass das bedeutendste Ereignis und das Zentrum ihrer Identität stattgefunden hat, bevor sie auf die Welt gekommen sind. Dies sei eine grosse Herausforderung, denn «das tatsächliche Leben der Nachgeborenen wird gegenüber der Grösse dessen, was einst geschah, wertlos, und die Bedeutung der eigenen Existenz in Frage gestellt», so Strassberg. Viele der Nach kommen versuchten daher, dem eigenen Leben einen besonderen Sinn zu geben und die eigene Identität im Weltgeschehen zu verankern.

«Jeder Betroffene muss seinen Weg finden, wie er mit dem Schicksal, ein Nachgeborener zu sein, am besten umgeht.»

Denn: «Ihr Leben gehört ihnen nicht, es wird in merkwürdiger Weise kollektiviert weil sie Kinder oder Enkel von Exempeln sind», erklärt er. Als Reaktion darauf würden zahlreiche Nachkommen versuchen, etwas von der Bedeutsamkeit des Lebens ihrer Vorfahren «abzuzapfen», indem sie sich einem Kollektiv in Form einer Vereinigung für Betroffene anschliessen. Damit aber verschreiben sich die Nachkommen zu einem Leben als «Beispiel», und ihr Blick sei stets in die Vergangenheit gerichtet. Erstrebenswerter sei es, so Strassberg, das eigene Leben zu leben, um schliesslich als nicht auswechselbare Identität «in genau dieser Welt» vorzukommen. Jeder Betroffene müsse hier seinen Weg finden und ein Bewusstsein dafür erlangen, wie er mit dem Schicksal, «nur» ein Nachgeborener zu sein, am besten umgehe, sagt er. Darum geht es auch Batthyany, schreibt er doch in seinem Ro man: «Denn das war es doch, worüber ich auf Strassbergs Couch seit Jahren sprach, endlich existieren, endlich Fussabdrücke hinterlassen im Schnee.» 

In die Zukunft gewandt 

Skeptisch äussert Strassberg sich gegenüber der Annahme, man müsse alles Geschehene von den Vorfahren in Erfahrung bringen und mit ihnen über das Erlebte sprechen: «Über Traumata zu re den, wird aus meiner Sicht deutlich überschätzt», so Strassberg, der zu bedenken gibt, dass man durchaus respektieren müsse, wenn Menschen nicht über ihre Erlebnisse sprechen möchten. Zu dem könne man als Zuhörer die eigene Fantasie ohnehin nicht ausschalten, mit der man sich so fort sein eigenes Bild der Geschehnisse machen würde. Sacha Batthyany hat nie mit seiner Grossmutter über die Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs gesprochen. Dennoch spürt er eine Verbindung «in ihren Verhaltensweisen und besonders auch in ihren Schwächen», wie er zugibt: «Durch die Recherche an meinem Buch habe ich er fahren, woher ich komme und was aus früherer Zeit in meinen Knochen steckt.» Und er fragt sich selbst: «Wie standhaft bin ich? Wie reagiere ich in Extremsituationen?» In die Zukunft gewandt versucht er, die Verhaltensweisen seiner Vorfahren zu deuten und positiv für sich umzusetzen: Nicht wegzuschauen, für Gerechtigkeit einzustehen und den Kopf nicht wie ein Maulwurf einzuziehen, wenn es unbequem wird. Und auf diese Weise mit der Ge schichte seiner Familie im Reinen zu sein.

Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016