Valerie Wendenburg

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«Heute ist nichts mehr vorhersehbar»

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 2. Dezember 2016.

Ihr neues Buch «Weltschatten» gleicht einem Abenteuerroman, er ist sehr umfangreich und umfasst drei verschiedene Handlungsstränge, die jeweils in einer anderen Zeit an verschiedenen Orten spielen und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden. Was war Ihre Motivation zu diesem monumentalen Buch?
Meine Art, zu schreiben, hing stark mit der Idee des Buches ab. Ich wollte einen Roman über die Zeit schreiben, in der wir heute leben, und ein Bild von unserer Zeit kreieren. Es ging mir darum, die verschiedenen Ebenen und Perspektiven der Menschen in ihrer jeweiligen Situation darzustellen. Wie funktionieren wir heute in dem globalen System als Individuum, als Gruppe oder als Verantwortliche eines Unternehmens? Die verschiedenen Perspektiven auszuloten, hat mich fasziniert. Literatur ist für mich auch ein Spiel, ich mag es, verschiedene Stile auszuprobieren und neue Erzählformen auszuprobieren.

 Sie zeigen, dass die Handlungen von Menschen in Zeiten der Globalisierung und der weltweit vernetzten sozialen Medien kaum mehr kontrollierbar sind. Die Dinge entwickeln sich teils anders, als von den Akteuren erwartet. 
Genau. Viele Menschen denken ja, sie wüssten alles, sie hätten die Lösung für jedes Problem. Aber niemand kann alles wissen. Jeder sieht nur seine kleine Welt aus seiner eigenen Perspektive. Diese falsche Selbsteinschätzung der Leute ist in meinem Buch ein grosses Thema. Jeder Mensch sieht heute nur einen kleinen Ausschnitt in der global funktionierenden Welt. Das ist die Herausforderung unserer Zeit alles ist so wirr, so unvorhersehbar. Die Macht kann nicht mehr klar zugeordnet werden, die Gefahr auch nicht – es gibt keine wirklichen Parameter und somit auch keine Stabilität mehr.

Dies wird auch Gavriel Manzur im Buch zum Verhängnis. Er ist ja eine eher tragische Person, die die Situation nicht wirklich abschätzen kann, und die an sich nichts Schlechtes im Sinn hat.
Aber er hat auch nichts Gutes im Sinn, das ist der Punkt. Er macht einfach mit. Manzur ist ein klassischer Mitläufer, der sich in seiner kleinen Welt bewegt. Er wird sich immer selbst verteidigen, er hat eigentlich nur sein eigenes Wohl im Blick. Im Grunde aber versteht er nicht wirklich, was sich um ihn herum abspielt. Er hat die Hybris zu glauben, er könne im grossen Spiel der Macht mitspielen, aber er versteht überhaupt nicht, worum es geht. Das ist die eigentliche Tragik – aber er steht ja nicht alleine da. Alle Protagonisten wollen etwas verändern, ein bestehendes System umstürzen, ohne zu wissen, was sie stattdessen eigentlich möchten. So ist die Welt von heute – darum wurde auch Donald Trump gewählt. 

«Ich könnte mir eine Konföderation vorstellen, in der Juden und Nichtjuden in allen Belangen gleichgestellt sind.»

Woher rührt diese Unzufriedenheit?
Die Menschen haben Visionen und Träume, sie sind unzufrieden mit der aktuellen Situation,  haben aber keine Vorstellung davon, wie eine gute Alternative aussehen könnte. Heute sind auch die Menschen unglücklich, die gute Stellen und keine finanziellen Nöte haben. Sie arbeiten viel zu viel und wissen im Endeffekt nicht, warum sie dieser Arbeit nachgehen. Verstehen Sie mich nicht falsch, Arbeit ist sehr wichtig, wir verbringen die meiste Zeit unseres Lebens im Job. Aber viele Menschen leben ein Leben, das ihnen nicht wirklich entspricht. Ein Leben ohne wirklichen Sinn und damit auch ohne Erfüllung. Sie spüren eine grosse Leere, weil sie sich mit nichts mehr identifizieren können. 

Sie kritisieren in Ihrem Buch den Kapitalismus, zeigen aber keine Alternative auf …
Ich zeige auch die positiven Seiten des Kapitalismus auf und beschreibe, was der Kapitalismus mit den Menschen macht, welche Chancen und Risiken er bietet. Was er für die Welt heute bedeutet. Aber es ist kein politisches Buch, auch wenn manche Menschen es so lesen wollen. Die absurdeste Interpretation lieferte übrigens eine jüdische Wochenzeitung aus Berlin, die mir suggerierte, mein Buch hätte antisemitische Züge, da einer der Hedgefund-Manager im Buch jüdisch ist. Darauf muss man erst einmal kommen.

Ihr zweites Buch «Im Land der Verzweiflung. Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete», erschien auch in diesem Jahr auf Deutsch. Es besteht aus Reportagen, die Sie 2014 und 2105 für «Haaretz» während Ihrer Reisen in besetzte Gebiete geschrieben haben. Warum haben Sie diese Reise angetreten?
Mein Ziel war, herauszufinden, ob die Zweistaatenlösung, für die ich mich immer eingesetzt habe, tatsächlich ein realistisches Modell ist. Ich dachte, das finde ich nur heraus, wenn ich mit den Menschen vor Ort spreche. Mit beiden Seiten. Ich hatte irgendwie das Gefühl, das ich mit meinen Überzeugungen vielleicht falsch liegen könnte, und wollte wissen, was in den Gebieten wirklich vor sich geht. Hinzu kommt, dass die überwiegende Mehrheit aller Israeli keine Ahnung hat, wie das Leben auf der Westbank aussieht. Die meisten sind niemals dort gewesen und sprechen somit über einen rein theoretischen Ort, der nur in ihrer Vorstellung existiert.

 Was hat sie auf dieser Reise überrascht?
Die grosse Präsenz der Siedler. Sie sind mittlerweile überall, nicht nur in den grossen Siedlungsblöcken. Egal, über welche Strasse ich durch das Westjordanland gefahren bin, immer sah ich man Siedlungen. Wir haben es heute mit einer neuen Realität zu tun, in der Hunderttausende Siedler im Westjordanland leben – Juden und Palästinenser leben dort total vermischt. Die Situation der Siedler empfand ich als bedenklich, sie haben einen kleinen israelischen Staat in den Gebieten geschaffen und üben dort Macht aus. Zudem habe ich gemerkt, dass die meisten Palästinenser gar nicht mit einem Staat im Rahmen der Grenzen von 1967 zufrieden wären. Die Palästinenser sprechen nicht von 1967, sondern von 1948 und der Nakba («Katastrophe», Anm. d. Red.), der Vertreibung ihrer Vorfahren im israelischen Befreiungskrieg von 1948. Sie haben die Vision von der Rückkehr der Flüchtlinge in die alte Heimat, also in das heutige Israel. Erstaunt war ich auf beiden Seiten oftmals über das Desinteresse, wenn es darum ging, eine friedliche Lösung zu suchen.

«Ich denke einfach, dass die Zweitstaatenlösung so nicht funktioniert.»

 Haben Sie Ihre Ansichten über die Zweistaatenlösung nun geändert?
Ich habe meine Meinung nicht geändert, ich denke einfach, dass die Zweitstaatenlösung so nicht funktioniert. Denn ich weiss einfach keine politisch umsetzbare Idee, wie man die Siedler wieder aus dem Westjordanland herausbekommen könnte. Ich könnte mir eher eine Konföderation vorstellen, in der Juden und Nichtjuden in allen Belangen gleichgestellt sind. Zwei gleichberechtigte Völker in einem Land lautet vielleicht die Lösung. Dann könnten alle Menschen bleiben, wo sie sind. Ein gutes Beispiel ist Jerusalem. Man kann diese Stadt nicht teilen, wir müssen Jerusalem zu einer internationalen Stadt machen, in der Juden wie Palästinenser leben können, gemeinsam und mit gleichen Rechten. 

 Was denken Sie über die Wahl von Donald Trump im Hinblick auf Israel?
Trump war ein katastrophaler Kandidat, aber ich habe seinen Sieg kommen sehen. Was Israel angeht, so glaube ich nicht, dass sich irgendetwas ändern wird. Die Amerikaner haben nun so viele andere Themen, der Nahostkonflikt spielt auch für Trump nur eine marginale Rolle.

Nir Baram während den Deutsch-Israelische Literaturtage 2016
unter dem Titel «Im Neuland» (© Stephan Roehl)

 

In dieser Woche stand Israel ganz im Zeichen der schlimmen Waldbrände. Gab es inmitten der Katastrophe ein Zeichen der Hoffnung auf eine engere Kooperation zwischen Juden und Palästinensern im Land? Letztere haben bemerkenswerte Hilfe geleistet, Binyamin Netanyahu hat Mahmoud Abbas angerufen, um ihm zu danken …
In Israel ist etwas Interessantes geschehen: Die verantwortlichen israelischen Politiker waren nicht gerade hilfreich, da sie mit ihren Vermutungen über eine terroristische Brandstiftung grosse Anspannung erzeugten – und die Behauptung war wohl falsch. Aber die Menschen, sowohl die arabischen wie auch die jüdischen in Israel und ausserhalb des Landes, waren durch die Brände miteinander verbunden. Die Palästinenser vor Ort haben zusammengehalten, sie haben ihre Häuser, ihre Hilfe und ihr Essen angeboten. Dies war ein Moment der Hoffnung, der von den Menschen ausging. Unser Premierminister hat zwar Mahmoud Abbas angerufen, aber er äusserte sich öffentlich kaum über die grosse Hilfe, die wir von den Palästinensern erhalten haben. Ich denke, mit ihm gibt es keine neue Hoffnung. Aber auf der menschlichen Ebene passierte etwas Positives, während die schrecklichen Brände wüteten.

 Was haben Sie nun für Pläne?
Ich schreibe zurzeit an einem Buch über meine Familie, auch über meine Mutter, es wird eine Art Biografie, ist aber gleichzeitig Fiktion. Ich hoffe, das Buch erscheint im Jahr 2017. Soviel kann ich verraten: Es ist ein kurzes Buch, dieses Mal erwartet die Leser eine kürzere Lektüre als «Weltschatten». 

Nir Baram: Im Land der Verzweiflung. Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete, Hanser Literaturverlage, Berlin 2016. Nir Baram: Weltschatten, Hanser
Literaturverlage, Berlin 2016