Valerie Wendenburg

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«Ich verbeuge mich vor allen Migrantinnen»

Die Autorin und Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann über ihren neuen Roman, ihr Jüdischsein und über Hannah Arendt.

Dieses Interview erschien im Jüdischen Wochenmagazin tachles am 1. Juli 2022.

Ihr aktueller und zweiter Roman heisst: «Im Menschen muss alles herrlich sein». Wie kamen Sie auf den Titel?
Hier handelt es sich um ein bekanntes Zitat aus dem Schauspiel «Onkel Wanja» von Anton Tschechow. Damit ist gemeint, dass im Menschen alles schön sein muss, nicht nur das Äussere, sondern auch das Wesen. Das Wort «herrlich» ist meine Eigenkreation statt der offiziellen Übersetzung «schön». Ich habe das Wort «herrlich» gewählt, weil hier das Wort «Herr» versteckt ist und das Wort für mich etwas Grausames hat. Die Forderung des Satzes, jemand anderes zu sein als man ist und besser zu werden, konnte in der ehemaligen Sowjetunion natürlich nur als Rüge verstanden werden: «Sei jemand anderes!» Es war eine gängige Redensart. Je härter die Lebensbedingungen wurden, um so zynischer klang der Ausspruch von der Herrlichkeit der Menschen.

Es geht in Ihrem Roman vor allem um vier starke Frauen aus der ehemaligen UdSSR. Wie kommt es, dass sie bisher kaum Gehör gefunden haben?
Sobald es einer Gesellschaft schlechter geht, wird dies stets zuerst bei den Minderheiten sichtbar und Frauen sind aufgrund ihrer Zugänge zu strukturellen Ressourcen eine Minderheit oder zumindest marginalisiert, überall auf der Welt. Gerade in einem System, in dem die Verteilungskämpfe so rabiat waren, wie in der Sowjetunion, hatten die Frauen kaum eine Chance auf Gleichberechtigung. An Wünsche nach Selbstverwirklichung, wie wir sie hier und heute kennen, konnte man beispielsweise in der ehemaligen UdSSR gar nicht denken. Eigene Bedürfnisse, eigene Sexualität – dafür gab es keine Zeit. Es ging ja nicht darum, ob die Frauen sich neue Maniküre leisten, sondern ob sie ihre Kinder versorgen konnten.

Im ersten Teil Ihres Buches wird das Leben von Lena beschrieben. Um in ihre Welt einzutauchen, haben Sie mit Frauen über die Vergangenheit in der ehemaligen Sowjetunion gesprochen. Wie haben diese Frauen reagiert?
Niemand von den Frauen war es gewohnt, über ihrer Geschichte ausgefragt zu werden. Meine Inspiration für diesen Stoff rührte auch daher, dass ich dachte, alle diese Frauen müssen befragt und auf Bühnen gesetzt werden. Ich will, dass sie wissen, dass wir ihre Arbeit sehen und dass wir dankbar sind. Ich verbeuge mich vor allen Migrantinnen auf der ganzen Welt.
Meine eigene Mischpoke ist das Konglomerat an postsowjetischem Leben um meine Mutter herum, hier fand ich meine Interviewpartnerinnen. Sie sind alle in den 1960er und 1970er Jahren geboren, sie kommen alle aus der Ostukraine. Das habe ich bewusst so gewählt. Ich habe sie aber nicht nach dem Krieg gefragt, noch nicht einmal nach der Ukraine. Wir haben uns hingesetzt und die Frauen haben einfach geredet und ich habe zugehört. Ich habe nach den Fragen gesucht, die ich bisher noch nicht denken konnte – denn die sind doch am interessantesten.

Sie haben aber auch einen Historiker hinzugezogen, um die Geschichten zu verifizieren.
Ja, denn es ist doch so: Bei jeder Feier erzählt jeder irgendeine Geschichte. Als Geschichte funktioniert sie gut, aber dann kommt die Frage auf: Kann das sein? In meiner Familie zum Beispiel waren ja alle Frauen immer nur Superheldinnen: Sie waren in der Roten Armee, Partisaninnen, Ärztinnen, sehr stolze Jüdinnen. Mir war schon klar, dass das ein Familienmythos ist, aber ich habe auch nicht genau nachgefragt, weil ich die Geschichten unterhaltsam genug fand. Es ist ja in Ordnung, das eigene Leben zu mystifizieren. Einer der zentralen Sätze in meinem Roman ist: «Wenn man Verlierer der Geschichte ist, dann weiss man es nicht.» Ich glaube, dass es sehr wichtig war, den Historiker hinzuzuziehen und Geschichtsbücher zu lesen, um zu verstehen, in welchem Kontext die Sätze dieser Frauen fallen. Auch Geschichte ist subjektiv, da es immer um die Perspektive geht, aus der heraus man sie erinnert. Der schönste Moment der Recherche war, als die Frauen untereinander zu streiten angefangen haben, was die jeweils andere mir für einen Quatsch erzählt habe. Das zeigt doch, wie heterogen das sowjetische Leben war. Es gibt nie nur eine Version des Geschehens.

«Viele Fragen werden aus Selbstschutz nicht gestellt, da die Antwort schmerzen wird.»

Der zweite Teil des Buches spielt im heutigen Deutschland. Nina und Edi sind die Töchter zweier ausgewanderter Ukrainerinnen. Beide verstehen die Welt ihrer Mütter nicht. Warum gelingt dieser Brückenschlag zwischen den Generationen nicht?
Ich glaube, die wichtigen und wesentlichen Fragen werden oft gar nicht gestellt, weil man die Antwort nicht hören will. Viele Fragen werden aus Selbstschutz nicht gestellt, da die Antwort schmerzen wird. Das finde ich auch in Ordnung, aber ich habe mich gefragt: Bin ich in Lage, über meine Mutter als Menschen zu denken und nicht ausschliesslich in der Funktion einer Mutter? Geht das überhaupt? Um diese Frage zu beantworten, brauche ich das ganze Panorama, alle Hintergründe, jedes Detail. Ich brauche das voll ausgemalte Monet-Bild, um ihre eigenen Wünsche und ihre Träume zu verstehen. Dinge, die ich nicht gut finden muss.
Meine Mutter ist ja nicht nur diese Energietankstelle, an der ich ab und zu parke. Jede Mutter ist mehr als eine Versorgungsstelle. Genauso ist es auch für Eltern sehr schwierig, Kinder als vollständige Menschen zu sehen und nicht ausschliesslich als bedürftige Wesen, für deren Schutz man verantwortlich ist.

War es Ihnen – Sie sind selbst mit zehn Jahren ausgewandert – ein Bedürfnis, so auch mehr über Ihre Mutter und Ihre Familie zu erfahren?
Das war nicht mein Antrieb. Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Mutter, in jedem meiner Stoffe kommt irgendwas von ihr vor und sie liest alles, bevor es die Öffentlichkeit sieht. Aber auch wenn es nicht das Ziel war, mehr über meine Familie herauszufinden, ist dies natürlich trotzdem geschehen. Mein Anliegen war es, diese Frauen zu porträtieren. Und wenn ich dann auch etwas über meine Mutter erfahren habe, dann war das für mich wichtig, aber nicht für den Roman.

Hannah Arendt ist für Sie ja sehr wichtig, auch ihre Gedanken zur Verformungen eines Individuums.
Ich habe ihr Buch «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» und die Passagen über die Verformungen eines Individuums durch totalitäre Strukturen erneut gelesen, während ich den Roman geschrieben habe. Arendt schreibt, dass das Ziel von totalitären Strukturen nicht ist, eine neue Weltordnung herzustellen, sondern eine irreparable Verformung des Individuums zu erreichen. Das hat die Sowjetunion geschafft und das Ergebnis heisst Homo sowjeticus. Das sehen wir gerade schmerzhaft in der Z-Trunkenheit der Putin-Anhängerschaft. Das letzte Kapitel über Einsamkeit in «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» habe ich übrigens in dem ersten Jahr der Pandemie wiedergelesen. Ich fand es hilfreich, um zu verstehen, was um mich herum geschah. Hannah Arendt zeigt auf, dass die Vereinsamung und Isolation der Menschen zu gefährlichen Massenbewegungen führen kann.

«Was mich trifft, ist die Erkenntnis, dass der slawische Mensch in den Augen der westlichen Welt ein Untermensch ist.»

Sie haben als Vorbereitung für Ihr jüngstes Buch viele Gespräche mit Ukrainerinnen geführt, Sie kennen viele Menschen, die dort leben. Was macht der Krieg mit Ihnen?
Es spielt eigentlich keine Rolle, was die Situation mit mir macht, da ich nicht die Leidtragende des Krieges bin. Es ist emotional sehr schwer. Ich habe täglich mit Familien zu tun, deren Familien unter Beschuss stehen. Meine Realität ist, den betroffenen Leuten zuzuhören. Was aber vielleicht wichtiger ist, als mir klar war: Meine Familie kommt ja aus der Ukraine, aber das hätte sie so nie formuliert. Es hiess immer, wir kommen aus der Sowjetunion. Fakt aber ist, dass es für meine Familie weder die ukrainische Kultur noch die ukrainische Sprache gab, denn es war alles Jiddisch. Odessa und Czernowitz waren jüdische Städte und aus ihnen kommt meine Familie. Was mich trifft, ist die Erkenntnis, dass der slawische Mensch in den Augen der westlichen Welt ein Untermensch ist. Wir sind weniger wichtig oder weniger wert. Das war schon 2014 bei der Annexion der Krim zu spüren und mit Blick auf Belarus. Die Erkenntnis ist für mich also nicht neu, aber sie schockiert mich deshalb nicht weniger.

Sie schreiben Drama und Prosa, wie gegensätzlich ist das Arbeiten in so verschiedenen Genres?
Ich bin mit 17 Jahren zum Theater gegangen und dort geblieben, bis ich 32 war. Das ist fast die Hälfte meines Lebens. Ich habe nicht nur Dramen geschrieben, sondern eine Bühne geleitet, Regie geführt, ich habe moderiert, habe im Theater gelebt. Es war meine Identität, ich wurde im Theater geformt. Dort ist man immer unter vielen, man muss permanent sozial interagieren, man arbeitet immer miteinander, alles ging immer sehr schnell. Der Theaterrhythmus entsprach mir sehr. Ich rede zu schnell, ich denke zu schnell. Heiner Müller sagte ja: «Theaterstücke schreibt man im Gehen und Romane im Sitzen.» Jetzt als Autorin von Prosa habe ich einen Identitätswandel durchlaufen. Ich sehe teilweise wochenlang niemanden mehr, wenn ich schreibe. Ich habe meinen eigenen Rhythmus, der nur für mich gilt.

Mit Max Czollek haben Sie ja den Desintegrationskongress gegründet. Was ist Ihr Bestreben, was ist Ihre Definition von jüdischem Selbstbewusstsein heute?
Wir haben den Kongress 2016/17 ins Leben gerufen und seitdem ist sehr viel geschehen. Im Laufe der Zeit habe ich verstanden, wie wichtig es ist, immer wieder zu betonen, dass wir uns nicht von der Generation unserer Eltern abgrenzen. Es wirkt oft so, weil wir radikal andere Dinge tun. Wir rebellieren – aber bestimmt nicht gegen unsere Vorfahren. Wir rebellieren gegen eine bestimmte deutsche Öffentlichkeit, die Juden nur mit Kippa am 9. November denken kann. Wir rebellieren gegen das «Judentheater», das in Deutschland immer Hochkonjunktur hat und haben wird. Es hat sich aber schon vieles bewegt, was natürlich auch damit zusammenhängt, dass Jüdischsein noch nie so divers war wie heute in Berlin. Dort leben Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt an einem relativ kleinen Fleck. Israelische Juden sind völlig anders als die Juden aus Detroit, der Sowjetunion oder aus Äthiopien.

Was möchten Sie mit Ihrem Projekt erreichen?
Die Idee war, diese diverse Gruppen im Desintegrationskongress aufeinander loszulassen und zu erkunden, ob es überhaupt Gemeinsamkeiten gibt. Was verbindet uns denn? Die Idee war die Suche nach einer zeitgenössischen jüdischen Identität. Wer sind wir? Unsere Kultur ist so reich und so divers und wir wissen selber so wenig voneinander. Darin steckt doch ein wahnsinniges Potential. Wir sind aber auch noch mehr als Holocaust-Überlebende, und ich hoffe, dass das die deutsche Gesellschaft anerkennt, denn dann haben wir alle gewonnen. Ich bin in einem Deutschland gross geworden, in dem jüdisch zu sein nur unter deutschen Bedingungen möglich war. Das ändert sich gerade und das macht mich hoffnungsvoll.
Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.