Valerie Wendenburg

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Innerjüdische Ausgrenzung als Eigentor

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 3. September 2021.

In Deutschland tobt aktuell eine Debatte darüber, wer jüdisch ist und wer nicht. Auslöser der Kontroverse ist ein Disput zwischen dem Lyriker und Publizisten Max Czollek und dem Schriftsteller Maxim Biller. Dieser bezeichnete Czollek als «Faschings- und Meinungsjuden», da dessen Mutter keine Jüdin ist und er daher unter halachischen Aspekten nicht als Jude anerkannt werde. Dem Religionsgesetz folgt auch der Zentralrat der Juden in Deutschland. Deshalb werden Kinder jüdischer Väter und nicht jüdischer Mütter von zahlreichen jüdischen Gemeinden in Deutschland als Mitglieder nicht akzeptiert – auch dann nicht, wenn sich die Menschen aufgrund ihrer Herkunft und Sozialisation als jüdisch verstehen. Im Fall vom Max Czollek meldete sich nun sogar Zentralratspräsident Josef Schuster in der «Jüdischen Allgemeinen» zu Wort. Darin positioniert er sich Seite an Seite mit Maxim Biller und wirft Czollek vor, «unter falscher Flagge» zu segeln. Ob man jüdisch sei oder nicht, richte sich nach den Regeln der Religion, so Josef Schuster. Max Czollek twitterte daraufhin, er habe nun beschlossen, den «Zentralrat der Ausgestossenen» zu gründen – und einige seiner Follower wollten sofort beitreten. Was wie eine Posse anmutet, ist eine der grossen Herausforderungen der jüdischen Gemeinschaft im 21. Jahrhundert: Wer ist jüdisch und wer nicht? Wer sich wie Biller oder Schuster ausschliesslich auf die Halacha beruft, hat eine klare Antwort im Sinne der orthodoxen Rabbinate – und ein unverrückbares Argument, das jene Menschen ausgrenzt, die jüdische Wurzeln väterlicherseits haben. Gibt es Spielraum hinsichtlich der Auslegung der Halacha? Dass Offenheit je nach Bedürfnissen durchaus möglich sein kann, zeigt ein Blick in orthodox geführte jüdische Gemeinden, die ihre Kindergärten und Schulen für Kinder mit jüdischem Vater öffnen, nicht jüdische Ehepartner integrieren und deren Bestattung auf jüdischen Friedhöfen ermöglichen möchten. Viele Gemeinden wissen: Sie sind allein aus demografischen Gründen angewiesen auf jene Menschen, die laut Halacha nicht jüdisch sind, sich aufgrund ihrer Herkunft und Identität aber dem Judentum zugehörig fühlen.

«Menschen sind aufgrund ihrer Herkunft jüdisch genug, um mit Antisemitismus konfrontiert zu werden, aber nicht jüdisch genug, um innerhalb des orthodoxen Judentums anerkannt zu werden.»

In Osteuropa, etwa Polen, sind sogenannte «Vaterjuden» längst Mitglieder in Gemeinden und wichtige Stützen für das Weiterbestehen dieser Institutionen. Vereinfachte Aufnahmen oder Übertritte sind vielerorts, weit über liberale Gemeinden hinaus, möglich. Dass die Übertrittspraxis in den letzten Jahrzehnten in westlichen Gemeinden zum Teil massiv erschwert und strenger wurde, verkennt gerade die jüdische Realität zerrissener Familien nach dem Holocaust. Juden haben seit jeher Ausgrenzung erfahren und es mutet merkwürdig an, wenn sie innerhalb der eigenen Minderheit gegenüber loyalen Mitgliedern praktiziert wird. Daher müssen Rabbinate Lösungen für die Integration dieser Menschen finden – ansonsten wird sich in Europa eine Spaltung der jüdischen Gemeinden wie in den USA nicht aufhalten lassen. Nicht immer wurde die Grenze so streng gezogen, wie Josef Schuster es heute tut. Anfang der 1990er-Jahre, als Tausende Juden aus der ehemaligen UdSSR in die Bundesrepublik Deutschland als sogenannte «Kontingentflüchtlinge» kamen, entschied eine weltlichere Definition darüber, wer jüdisch ist. Damals konnten Kinder und zum Teil auch Enkelkinder jüdischer Väter oder jüdischer Mütter (oder beider Elternteile) nach Deutschland auswandern. Dies, da die sowjetischen Juden trotz ihrer starken Assimilation in der UdSSR massivem Antisemitismus ausgesetzt wurden. Ähnlich war dies in Israel bei der Einwanderung von Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Es mutet fatal an: Menschen sind aufgrund ihrer Herkunft jüdisch genug, um mit Antisemitismus konfrontiert und während des Zweiten Weltkriegs sogar verfolgt und ermordet zu werden, aber nicht jüdisch genug, um innerhalb des orthodoxen Judentums anerkannt zu werden. Die Betroffenen fühlen sich zwischen Tisch und Bank und erfahren Ausgrenzung von verschiedenen Seiten. Wer die Realität in den jüdischen Gemeinden von heute ernst nimmt, wird auch Juden mit jüdischen Wurzeln väterlicherseits in ihrer Gemeinschaft aufnehmen müssen, denn mehr als die Hälfte nicht nur der Schweizer Juden heiraten nicht jüdische Partner. Ein Diktat der orthodoxen Rabbinate und eine damit verbundene Ausgrenzung in einer offenen Gesellschaft ist nicht nur unzeitgemäss, sondern ein falsches Zeichen und auf längere Sicht ein Eigentor. Jüdische Funktionäre beklagen ständig die rückläufige Demografie, anstatt neue Wege zu beschreiten und den Trend umzudrehen. Josef Schuster könnte hier nun einen Anfang machen, anstatt als Sprachrohr orthodoxer Rabbiner zu fungieren.