Valerie Wendenburg

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Isoliert von der Aussenwelt 

Ältere Menschen und Bewohner von Alters- und Pflegeheimen sind besonders hart von der Corona-Pandemie betroffen, persönliche Kontakte nach aussen sind vorerst nicht möglich – Einblicke in jüdische Heime in der Schweiz. 

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 30. April 2020.

Seit dieser Woche werden in der Schweiz die ersten Lockerungen der Corona-Massnahmen umgesetzt. Eine Entspannung der Situation in Altersheimen gibt es allerdings noch nicht. Am Montag sprach der Bund erneut die Empfehlung dazu aus, das Besuchsverbot in Alters- und Pflegeheimen beizubehalten. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind mit am stärksten von der Pandemie betroffen, sie leben seit fast zwei Monaten völlig isoliert von der Aussenwelt, da sie aufgrund ihres Alters automatisch zur Risikogruppe zählen. Dies gilt oft auch für die älteren Menschen in der Selbstisolation. Die jüdischen Alters- und Pflegeheime in der Deutschschweiz gehen unterschiedlich mit der herausfordernden Situation um. Nach Aussage der Verantwortlichen gab es zwar bereits Corona-Fälle bei Bewohnern wie auch dem Pflegepersonal, allerdings bisher ohne schlimme Konsequenzen. Die Angst vor dem Virus aber ist allgegenwärtig und die Situation für alle Betroffenen neu. 

© Pixabay

Social Distancing auch im Heim 

Die Zürcher Altersresidenz Hugo Mendel setzt das Versammlungsverbot von mehr als fünf Personen auch im Heim um. «Der Speisesaal ist geschlossen, alle essen im Zimmer», so Heimleiter Michael Sutter gegenüber tachles. Das Betreuungsteam telefoniere täglich mit allen Bewohnern, Magazine, Zeitungen und Kreuzworträtsel würden auf die Zimmer gebracht. Der Kontakt mit den Angehörigen über Skype wird ermöglicht. Sutter betont: «Alle leiden unter dem Social Distancing. Vor allem das Besuchsverbot macht den Bewohnern zu schaffen.» Die allermeisten Bewohnenden und Angehörigen seien aber sehr kooperativ und würden verstehen, dass die Massnahmen zu ihrem eigenen Schutze seien. Hier ist die Sorge vor dem Virus real, denn es gab im Haus bereits einige Corona-Erkrankungen bei Bewohnern wie auch beim Personal. Sutter erklärt: «Alle Ansteckungen erfolgten noch vor dem Inkrafttreten der ersten Massnahmen Mitte März. Die hochbetagten Patienten haben das Virus viel leichter überstanden, mit kaum oder gar keinen Symptomen, als jüngere Patienten mit Vorerkrankungen. Nach der ersten Welle gab es keine  Coronafälle mehr, momentan sind wir frei von Covid-19.» 

«Der Kontakt mit den Angehörigen über Skype wird ermöglicht.»

Im Margoa, der Pflegeresidenz in Lengnau, können sich die Bewohner frei bewegen. Alexa Amorosini, Bereichsleiterin Personal und Sekretariat, sagt:  «Wir halten aber ein, dass sie beim Essen, beim täglichen Kaffee oder auch bei unseren Aktivitäten zwei Meter voneinander sind oder sitzen und sich nur maximal fünf Personen im selben Raum aufhalten. Wir haben verschiedenen Räume und haben zum Beispiel auch unsere Synagoge zu einem Aufenthaltsraum umgewandelt.» Grundsätzlich werde versucht, kleine Programme in kleinen Gruppen abzuhalten. «Bewohnende wie auch Angehörige vermissen sich sicherlich sehr. Man telefoniert vermehrt und schreibt einander Briefe oder Karten. Viele der Angehörigen haben auch iPads oder andere Geräte gesendet, um per Videoanruf mit den Bewohnern zu zu sprechen.» Die Pflegemitarbeitenden würden immer helfen, damit die Online-Anrufe auch funktionieren. Im Margoa hat es bislang noch keinen Corona-Fall gegeben. «Wir sind sehr bemüht, dass alle Richtlinien eingehalten werden, tragen seit Beginn im direkten Kontakt zu unseren Bewohnern Masken und reinigen alles sehr stark.» Auch den Mitarbeitenden werde nahgelegt, dass sie in ihrer privaten Zeit zu Hause bleiben. 

Uneingeschränkte Bewegungsfreiheit 

Die Leiterin des Alters- und Pflegeheims Holbeinhof, Heike Bittel, sieht sich in diesen Zeiten vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Bisher, so sagt sie, habe sie sich in erster Priorität um die Ressourcenzuteilung gekümmert, das heisst, dass alles zur richtigen Zeit am richtigen Ort sei. Nun aber fühle sie sich aber in erster Linie für die Gesundheit der 111 Bewohnenden und mehr als 150 Mitarbeitenden verantwortlich. Bisher habe es keinen Fall von Corona unter den betagten Menschen gegeben, aber Heike Bittel berichtet, dass es bereits drei erkrankte Mitarbeitende gab, die rechtzeitig und für längere Zeit zu Hause geblieben seien. Auch im Holbeinhof herrscht eine Ein- und Ausgangssperre, Besuch von Angehörigen ist seit mehreren Wochen nicht mehr möglich. Dies sei hart für die älteren Menschen, aber im Haus könnten sie sich uneingeschränkt bewegen. Zudem sei das interne Angebot erweitert worden, damit niemand einsam sein müsse. Die Bewohnenden können sich nun viel im Garten aufhalten, und auch der Tante-Emma-Laden wird nun nahezu täglich angeboten, damit eingekauft werden kann. Das Frühstück kann je nach Wunsch zurzeit gemeinsam im Carmen-Rueff-Stübli oder draussen und nicht mehr nur wie bisher auf der Station eingenommen werden. Die Bewohnenden würden sehr gut kooperieren und seien verständnisvoll. «Wir haben ihnen von Anfang an erklärt, dass all diese Massnahmen nur zum Schutze ihrer eigenen Gesundheit sind und das haben die Menschen auch verstanden», sagt Bittel. Ihre Angehörigen können sie trotz des Besuchsverbots sehen – und zwar durch die Glasscheibe im Wintergarten beim Foyer. Eintreten dürfen die Verwand- ten oder Freunde nicht, aber man verständigt sich durch die Scheibe. Für die mittlerweile wieder etwas mehr als 20 jüdischen Bewohnenden des Holbeinhof sei der Koscheraufseher, Jakov Pertsovski, ein Segen, da er sich mit grossen Engagement und Herzenswärme um die Menschen kümmere, so Heike Bittel. Sollte einer der Bewohner im Holbeinhof an Corona erkranken, werde er in seinem Zimmer isoliert. Wenn sich der Zustand massiv verschlechtere, liege die Entscheidung über eine allfällige Verlegung beim Bewohner respektive seiner Vertretung. Heike Bittel sagt: «Für diese Fälle sind wir bestens gerüstet», auch wenn sie und ihr Team hoffen, dass es dazu weiterhin nicht kommen werde. 

Wie in einer Grossfamilie 

An die tachles-Redaktion gelangte ein Brief von Madeleine Erlanger-Wyler, die mit ihrem Mann im Seniorenzentrum Sikna Stiftung in Zürich lebt. Darin betont sie, dass es «nicht selbstverständlich ist, dass nach so langer Zeit alle Pensionäre noch positiv aufgestellt sind. Sehr dankbar sind wir der Leitung für ihren riesigen Einsatz und dem Personal für ihre aufopfernde Arbeit.» Alle Vorbereitungen zu Pessach seien nach strengsten Vorschriften durchgeführt worden, aber es wurde ein Seder geboten, bei dem die Betagten jeweils zu zweit an Tischen mit zwei Meter Abstand sassen. «Das zeigt, wie gut es uns geht, besser als vielen anderen. Wir sind unendlich dankbar dafür», heisst es in dem Brief. Auch die Bewohnerin Ruth Neuhaus lobt die Verantwortlichen der Sikna und ihr Engagement. Im Telefongespräch betont sie aber auch, dass es für die Menschen schwer sei, die nicht mehr agil seien und die aktuelle Situation nicht mehr verstünden. Besonders froh sei sie darüber, dass es in der Sikna noch keinen einzigen Corona-Fall gegeben habe. Offensichtlich ist ihr nicht bewusst, dass es bereites erkranktes Personal gab. RogerHeld,CEO, und Ewelina Czembor, COO der Sikna-Stiftung, sagen auf Nachfrage: «Wir hatten wenige Einzelfälle von Mitarbeitenden, die sich nachweislich ausserhalb der Sikna angesteckt haben.

«Bis zum Tod haben alle Menschen das gleiche Recht auf Leben.»

Niemand von ihnen hatte Bewohnerkontakte. Glücklicherweise konnten die Kontakte zu anderen Mitarbeitenden, die sie in der Sikna gehabt hatten, nachvollzogen werden. Nach eingehender Prüfung stellten wir erleichtert fest, dass es im Haus zu keinen Folgeansteckungen gekommen ist, weder bei Bewohnern noch bei Mitarbeitenden.» Beide betonen, dass sich die Bewohner innerhalb der Sikna und der eigenen Parkanlage frei bewegen können. «Das Zusammenleben der Bewohner bei uns gleicht dem Zusammenleben in einer Grossfamilie – sie sind immer zusammen.» Die Tischordnung im Restaurant und in der Cafeteria ist so verändert worden, dass die Sicherheits- abstände eingehalten werden. «Der wichtigste Punkt ist, dass sich die Mitarbeitenden, die von aussen zur Arbeit kommen, strikte an die Weisungen bezüglich Hygiene und Schutz halten und auch ausserhalb der Sikna auf die Verhaltensregeln achten», so Roger Held und Ewelina Czembor. 

Eine äusserst schmerzhafte Angelegenheit 

Das Programm für die Bewohner ist aktuellen Situation angepasst worden, und es werden täglich mehrere Aktivitäten angeboten. Das Angebot reicht von Handwerken, Spielen und Kinonachmittagen über Gedächtnistraining oder Challot-Backen bis zum Turnen. Auch Schiurim von Rabbiner Sholom Rosenfeld sowie Gesprächsrunden zum Wochenabschnitt der Thora mit Mireli Treuhaft finden statt. An Pessach wurde ein grosser Seder durchgeführt. Auf die Frage, wie die Bewohnenden und Angehörigen mit dieser speziellen Situation umgehen, sagen beide: «Es ist für Seniorinnen und Senioren wie auch für die Angehörigen eine schwierige Situation. Sich über Wochen nicht sehen zu können ist eine äusserst schmerzhafte Angelegenheit. Am Anfang war die Ablehnung und die Skepsis bei einigen Bewohnern stark spürbar. Mit der Zeit haben aber die meisten verstanden, dass das Besuchsverbot zu ihrem eigenen Schutz ist. Die Massnahme von Kanton und Bund hat aus unserer Sicht sehr dazu beigetragen, dass wir bis heute innerhalb des Hauses keine Ansteckungen haben.» Sollten die bestehenden Beschränkungen gelockert werden, werde die Sikna weiterhin mit grösster Sorgfalt und Konsequenz die dann geltenden Massnahmen umsetzen, mit dem einzigen Ziel, die Bewohner weiterhin zu schützen. Sollte es bei Bewohnern trotz aller Vorsichtsmassnahmen zu Infektionen kommen, werden sie in den geschützten Demenzbereich Shalva verlegt, der zu einer Isolationsstation umgewandelt wurde. 

Das gleiche Recht auf Leben 

Auch mit Blick auf die Bewohner in Alten- und Pflegeheimen gibt Michael Fried, Gastroenterologe am Stadtspital Triemli zu Bedenken, dass ältere Menschen als Risikogruppe während der Corona-Epidemie diskriminiert würden (vgl. tachles 17/20). So werde in den Medien immer wieder suggeriert, zu viele an Corona erkrankte Alte könnten den jüngeren Menschen Spitalbetten wegnehmen. Zudem werde Betagten in Altersheimen von ärztlicher Seite nahegelegt, auch bei einem schweren Verlauf der Krankheit im Heim zu verbleiben. Auch die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich hat empfohlen, diese Patienten in ihren Alters- und Pflegeheimen zu belassen. Nach Meinung von Fried können diese Institutionen allenfalls eine palliative Betreuung anbieten, sie können aber schwerkranke Corona-Patienten nicht adäquat behandeln. «Dieser Rat kann über das Überleben der älteren Patienten entscheiden», sagt Fried. «Jeder ältere Mensch sollte die Möglichkeit haben, frei zu entscheiden, ob er lebensverlängernde Massnahmen mit einer Verlegung in ein Spitalzentrum und gegebenenfalls eine Intensivstation will oder lieber im Alters- oder Pflegeheim verbleiben möchte.» Denn: «Bis zum Tod haben alle Menschen das gleiche Recht auf Leben.» Die Realität sieht in Zeiten von Corona aber teilweise anders aus. Es bleibt zu hoffen, dass es keine weiten Fälle von Covid-19 in den genannten Heimen gibt. Die Betagten selbst wie auch ihre Angehörigen sollten aber heute schon weiterdenken, um einer ungerechtfertigten Benachteiligung aufgrund des Alters und einer Altersdiskriminierung vorzubeugen. Denn wie die Beispiele aus dem Hugo-Mendel-Heim zeigen, sind es nicht automatisch immer die Alten, die am härterten vom Virus betroffen sind. Daher sollten sie – wie jeder andere Mensch auch – die Möglichkeit haben, sich auf Wunsch im Spital behandeln zu lassen.