Valerie Wendenburg

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Jedes Kind ein Unikat

Erschienen im Blog des Elternmagazins Fritz & Fränzi am 19. Oktober 2021

Als meine Zwillingssöhne vor knapp 21 Jahren das Licht der Welt erblickten, waren sie eine kleine Attraktion. Die ersten Babies im Freundeskreis traten gleich im Doppelpack auf. Bis heute sprechen viele meiner Freunde noch immer von «den Zwillingen», nur wenige erkundigen sich nach jedem der Brüder einzeln. Ich hingegen vermeide seit ihrer Geburt das Wort «Zwillinge» und habe die beiden auch nie identisch angezogen.
Abgesehen davon, dass es mir viel zu umständlich gewesen wäre, immer parallel alle Kleider zu waschen und beide Kinder neu anzuziehen, nur weil einer in die Pfütze springt, war es mir wichtig, die beiden losgelöst voneinander als zwei Brüder und eben nicht nur als Zwillinge wahrzunehmen. Sie machten es mir nicht schwer, denn sie waren beide – trotz ihrer äusserlichen Ähnlichkeit – in ihrer Art sehr unterschiedlich.

Einer schlief gut ein, der andere nur, wenn ich stundenlang am Bett Händchen hielt. Aber auch tagsüber wurden schon bald die Unterschiede klar: Kurz nachdem die beiden sitzen gelernt hatten, spielten sie das Holzspiel, bei dem man runde und eckige Formen in die dazu passenden Öffnungen stecken muss. Einer meiner Söhne versuchte es wieder und wieder, grübelte, stellte alles auf den Kopf und versuchte es von Neuem: bis ihm das Spiel gelang und jede Form in das richtige Loch passte. Er war selig. Der andere versuchte es 20 Sekunden erfolglos, öffnete kurzentschlossen die ganze Holzbox, stopfte alle Formen hinein und beklatschte sich selbst, strahlend vor Glück, die Herausforderung gemeistert zu haben. Ich freute mich mit beiden.

«Jeder kann was anderes gut»
In solchen Momenten sehe ich meine Eltern als Vorbilder, die mich und meine drei Geschwister nie miteinander verglichen haben. Der Satz meines Vaters: «Jeder kann was Anderes gut» klingt erst einmal simpel, aber er hat mich geprägt und Spuren hinterlassen. Keine Sekunde habe ich mich in Konkurrenz zu meinem zwei Jahre jüngeren Bruder gesehen, der meine mittelprächtigen Schulnoten angesichts seiner lobenswerten Zeugnisse noch schlechter dastehen liess. Der Altgriechisch lernte, als ich bei der ersten Gelegenheit Latein wieder abwählte. Mich störte auch nicht, dass er ein begabter Trompetenspieler war und meine Bemühungen, Klavier und Querflöte zu spielen, kläglich scheiterten. Während er für Jazzkonzerte probte, lag ich auf meinem Bett und schrieb Geschichten. Oder ging mit einer Freundin in die Natur, um R.E.M. zu hören, in den Himmel zu gucken und über Jungs zu reden. Meine Eltern verglichen uns Geschwister nicht miteinander und gaben uns immer das Gefühl, genau so richtig zu sein, wie wir eben waren. Sie vermittelten uns die Botschaft: Ihr seid einzigartig.

«Jeder kann was Anderes gut»

Dies gelang ihnen auch bei meinen jüngeren Zwillingsgeschwistern. Mein Bruder konnte lesen, bevor er in die Schule kam und übersprang schon bald die erste Klasse, während meine Schwester noch das Alphabet schreiben lernte. Sie hingegen war unternehmungslustiger und widmete sich früh und mit Begeisterung ihren Hobbies. Konkurrenz kam zwischen den beiden nicht auf – und das ist bis heute so geblieben. Meine Eltern unterstützten uns vier Kinder auf den Wegen, die wir uns ausgesucht haben, sie haben immer an uns geglaubt und uns vertraut. Ich habe sehr lange Zeit gedacht, das sei normal, weil ich es nicht anders kannte. Bis ich eigene Kinder bekam und merkte, wie diffizil es ist, Geschwister eben nicht miteinander zu vergleichen und jedes auf seine eigene Weise zu fördern.

Zwillinge nicht gleich Zwillinge
Vielleicht ist dies gerade bei Zwillingen eine Herausforderung. Mir wurde empfohlen, die beiden nach der Primarschule in unterschiedliche Klassen zu geben, damit sie sich unabhängig voneinander entfalten können. Für mich als Mutter hiess das: zwei Elternabende, doppelt so viele Lehrer, Tests und Hausaufgaben. In Abendstunden, in denen ich erst einen Sohn in Bio und danach den anderen in Französisch abfragen musste, habe ich mich selbst für verrückt erklärt und gedacht, ich hätte es wahrlich leichter haben können. Im Grunde habe ich aber immer gewusst, dass die Entscheidung die Beste für meine Kinder ist – denn wenn einer eine ungenügende Note heimbrachte, konnte er getrost über den unfairen Test schimpfen ohne dass sein Bruder auftrumpfend neben ihm sass.

«Jeder meiner Söhne hat ein anderes Talent »

Ich kam nicht in Versuchung, automatisch das von einem Kind zu erwarten, was das andere mit Leichtigkeit tut. Sinnbildlich dafür sehe ich immer meine drei Söhne vor mir, die leidenschaftlich Fussball spielen. Teilweise wurden sie sogar in derselben Mannschaft eingeteilt, aber jeder von ihnen hat ein anderes Talent auf dem Platz – und spielte auf einer anderen Position. Das zu erkennen und zu akzeptieren ist eine Kunst.

Die Eltern steuern das Selbstvertrauen
Wenn Eltern Geschwister aneinander messen und Erwartungen an sie stellen, setzen sie ihnen auch Grenzen – denn den Kindern wird die Möglichkeit genommen, unbeschwert ihren eigenen Begabungen und Interessen nachzugehen. Der Satz «Jeder kann was Anderes gut» steht auch für ein Grundvertrauen seitens der Eltern in ihre Kinder. Ihnen wird vermittelt, dass sie in jedem Fall irgendetwas gut können, das sich lohnt herauszufinden. Die Aussage betont die Einzigartigkeit eines jeden Menschen und gibt Kindern Selbstvertrauen. Sie merken, dass sie einmalig sind. Ein Unikat. Gleiches gilt auch für die Schwester oder den Bruder. Jeder Mensch muss seine eigenen Begabungen selbst herausfinden – und wer schon im Kindesalter die Chance dazu hat, kann Selbstvertrauen erfahren und sich glücklich schätzen. Ich bin meinen Eltern bis heute dankbar dafür, dass sie immer an mich geglaubt und mir vermittelt haben, dass es Dinge gibt, die ich gut kann – und andere dafür eben nicht gut können muss. Wer weiss, was sonst aus mir geworden wäre?