Valerie Wendenburg

mail(a)valeriewendenburg.ch

         
 

Jüdische Gemeinden im Wandel der Zeit

Der Artikel ist erschienen in der Fabrikzeitung vom Mai 2022.

In diesem Jahr fielen der Karfreitag und der Beginn des Pessach­festes auf exakt dasselbe Datum. Während Christ*innen an diesem Tag des Leidens und Sterbens Jesu Christi am Kreuz gedachten, erinnert das jüdische Pessachfest an den Auszug aus Ägypten, also an die Befreiung der Israelitinnen aus der Sklaverei. Mehr als 3’000 Jahre später ist die jüdische Minderheit in der Schweiz nach einer längeren Zeit der Ausgrenzung Teil der Gesellschaft. Das, was heutzutage als selbstverständlich erscheint, war es über viele Jahre nicht. So wurde allen Schweizern nach einer Volks­abstimmung im Jahr 1866 mit einer knappen Mehrheit die Nieder­­lassungsfreiheit und die Ausübung der vollen Bürger­rechte gewährt. Es dauerte aber noch bis 1874, als mit der revidierten Bundesverfassung allen Schweizer auch die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert wurde. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde rechtlich gesehen die Emanzipation der Juden in der Schweiz vollzogen.

Integraler Bestandteil der Gesellschaft
Mehr als 150 Jahre nach der Emanzipation sind die Juden*Jüdinnen ein integraler Bestandteil der Schweiz und ihrer Gesellschaft geworden. Der Grossteil von ihnen lebt heute vor allem in den grösseren Städten. Im Jahr 1904 wurde der Schweizerische Israel­itische Gemeindebund SIG als Interessenvertreter jüdischer Gemeinden gegründet. Der Wirtschaftsboom der 1950er Jahre förderte seine Akzeptanz nachhaltig, anschliessend folgte seine politische Anerkennung im Zuge des vermehrten interreligiösen Dialogs zwischen JudenJüdinnen und Christ*innen. Im Jahr 1972 wurde die Israelitische Gemeinde Basel dann als erste jüdische Gemeinde der Schweiz vom Kanton Basel-Stadt als öffentlich-rechtliche Körperschaft anerkannt. Weitere Gemeinden wie die Israelitische Cultusgemeinde Zürich folgten. Anfang des Jahr­tausends starteten auch liberale Gemeinden den Versuch, in den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund aufgenommen zu werden – ein entsprechendes Aufnahmegesuch wurde im Jahr 2003 allerdings abgelehnt. In Folge wurde die Plattform der Liberalen Juden der Schweiz als Dachverband der liberalen Gemeinden gegründet.

Integration als Herausforderung
Heute sind in der Schweiz mit knapp 18’000 Personen nur etwa 0,25 Prozent der Gesamtbevölkerung jüdisch. Das religiöse Spektrum dieser Minderheit ist allerdings weit gefächert: So gibt es verschiedene Strömungen, denen sich die JudenJüdinnen zugehörig fühlen, die Ausrichtung der Gemeinden reicht von ultra­orthodox über orthodox bin hin zu liberal – aber auch andere jüdische Bewegungen wie zum Beispiel «Chabad Lubawitsch» sind in der Schweiz aktiv. Chabad ist eine chassidische Gruppierung oder Dynastie innerhalb des orthodoxen Judentums, die bestrebt ist, Juden*Jüdinnen das Judentum wieder näherzubringen. Innerhalb der grossen orthodox geführten Einheitsgemeinden verstehen sich die meisten Mitglieder als «traditionell», nur ein Teil von ihnen hält sich an die jüdischen Speisegesetze (Kaschrut) und an die Schabbatruhe. Die grösseren Gemeinden bieten ihren Mitgliedern neben den Gottesdiensten zum Teil eine Infrastruktur mit Kinderhort, Kindergarten, Primarschule, sozialen Diensten wie auch kulturellen Angeboten und natürlich Friedhöfe. Ausserdem gibt es ein Angebot an Jugendbünden, Sportvereinen, religiöser und allgemein-kultureller Erwachsenenbildung, an Bibliotheken oder Restaurants. Hinsichtlich der religiösen Ausrichtung gibt es innerhalb der jüdischen Gemeinden aber Unterschiede.

«Die Zahl der interreligiösen Ehen nimmt zu.»

Dies wird auch am Umgang mit interreligiösen Eheschliessungen deutlich. Heutzutage heiraten mehr als die Hälfte aller Juden*Jüdinnen in der Schweiz nicht-jüdische Partner*innen, was als ein deutliches Zeichen für eine ausgeprägte Integration und Akkulturation der jüdischen Bevölkerung zu werten ist. Während in den ultraorthodoxen Gemeinden nicht-jüdische Eheschliessungen gar nicht akzeptiert werden, bemühen sich vor allem die liberalen Gemeinden um einen Einbezug der nicht-jüdischen Partnerinnen sowie um die Kinder, die aus gemischt religiösen Ehen hervorgehen. Hier spielt die Tatsache eine grosse Rolle, dass Kinder nur als jüdisch anerkannt werden, wenn sie eine jüdische Mutter haben. Sogenannte «Vaterjuden*jüdinnen» sind vor dem Religionsgesetz, der Halacha, nicht jüdisch und damit oftmals vom Gemeindeleben ausgenommen. Nach langen Diskussionen hat sich die Israelitische Gemeinde Basel vor wenigen Jahren zum Beispiel dazu durchgerungen, Kinder mit jüdischem Vater in der Jüdischen Primarschule aufzunehmen, was vorher nicht möglich war. Dieses – von vielen Mitgliedern kritisch beäugte – Umdenken fand vor allem aus einem Grund statt: Für einen immer grösser werdenden Teil der jüdischen Bevölkerung entsprechen die othodox geführten Gemeinden nicht mehr den religiösen und sozialen Bedürfnissen. Wenn die Gemeinden sich nicht der Realität anpassen und beispielsweise Kinder mit nicht-jüdischer Mutter in ihre Gemeinschaft miteinbeziehen, werden sie stetig Mitgliedern verlieren.

Auswanderung
Ein Umdenken gerade innerhalb der Einheitsgemeinden ist spürbar, auch indem sich einige von ihnen heute aufgeschlossener gegenüber gemischt jüdischen Paaren zeigen als früher. So sind die Gemeinden zum Beispiel sogar darum bemüht, nicht-jüdische Ehepartnerinnen nach ihrem Tod zusammen mit den jüdischen Gemeindemitgliedern beizusetzen, was vor nicht allzu vielen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Anders ist dies bei den liberalen jüdischen Gemeinden in der Schweiz, die für viele deshalb attraktiv sind, weil sie neben der Gleichstellung der Frau im religiösen Leben den interreligiösen Ehen offener gegenüberstehen und zudem einen Übertritt zum Judentum leichter ermöglichen. Um gerade den Kindern von jüdischen Vätern eine religionsgesetzliche Anerkennung zu sichern, wird in liberalen Gemeinden ein Übertritt der nicht-jüdischen Mütter zum Judentum unterstützt.

«1897 wurde in Basel der Grundstein für die Staatsgründung Israels gelegt.»

Dennoch: während die Gesamtbevölkerung in der Schweiz stetig anwächst, nimmt die Zahl der Juden*Jüdinnen konstant ab. So zählt die Israelitische Gemeinde in Basel heute rund 855 Mitglieder, vor 20 Jahren waren es noch knapp 1’300. Die Gründe dafür liegen nicht nur an der steigenden Zahl interreligiöser Ehen. Ein weiterer Grund ist zudem auf eine Überalterung der jüdischen Bevölkerung zurückzuführen – und auch auf eine hohe Auswander­ungsrate gerade jüngerer Menschen nach Israel. Die Verbindung nach Israel ist stark und sie stellt für die jüdischen Gemeinden eine weitere Herausforderung dar: Auch wenn ein Leben in Israel grundsätzlich unterstützt wird, gehen den Gemeinden zahlreiche junge Mitglieder verloren, die nach Israel auswandern. Es ist ein Fakt, dass die meisten Basler Juden*Jüdinnen inzwischen nicht in der Schweiz, sondern in Israel leben. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund interessant, dass während des ersten Zionistenkongresses im Jahr 1897 in Basel der Grundstein für die Staatsgründung Israels gelegt wurde. Vor genau 125 Jahren wurde an dem Kongress im Basler Stadtcasino die «Zionistische Weltorganisation» gegründet. Sie brachte die organisatorischen Strukturen hervor, um einen jüdischen Staat zu gründen – daher wird teilweise gerne behauptet, der Staat Israel sei in Basel gegründet worden. Die bedeutendste Rolle spielte damals der Wiener Journalist Theodor Herzl, der im Anschluss an den Kongress in sein Tagebuch schrieb: «Fasse ich den Baseler Congress in einem Wort zusammen (…) so ist es dieses: In Basel habe ich den Judenstaat gegründet. In fünf, jedenfalls in fünfzig Jahren wird es jeder einsehen.» Er sollte recht behalten. Bis zur Gründung Israels im Jahr 1948 aber fanden noch 22 weitere Zionistenkongresse statt, 14 davon in der Schweiz, zehn in Basel. Die Stadt spielt also im Hinblick auf die Staatsgründung nach­weislich eine wegweisende Rolle, auf die die heute noch enge Verbindung zwischen Basel und Israel zurückgeführt werden kann.

Steigender Antisemitismus
Problematisch für die Juden*Jüdinnen in der Schweiz ist die Tatsache, dass sie immer wieder mit der Politik Israels konfrontiert werden, auch wenn sie diese in keiner Weise mitverantworten. Die meisten von ihnen haben den Schweizer Pass und nicht den Israelischen. Sie stimmen in der Schweiz ab und wählen nicht in Israel, beteiligen sich am gesellschaftlichen und politischen Leben hierzulande, leisten Militärdienst und werden dennoch immer wieder – gerade in Krisenzeiten – an der israelischen Politik gemessen und sind einem israelfeindlich motiviertem Antisemitismus ausgesetzt. Auch wenn die Juden*Jüdinnen in der Schweiz – im Vergleich zu den europäischen Nachbarländern – weniger offenem Antisemitismus oder gar Tätlichkeiten ausgesetzt sind, sind sie mit einem steten Anstieg antisemitischer Vorfälle konfrontiert. In den Antisemitismusberichten für die Deutschschweiz, die Romandie und die italienisch- und rätoromanischsprachige Schweiz wurden im Jahr 2021 vor allem antisemitische Aussagen, Beschimpfungen (in der realen wie auch digitalen Welt), Schmierereien oder Sach­beschädigungen gemeldet. Sorge bereitet aktuell die grosse Präsenz antisemitischer Verschwörungserzählungen, die aufgrund der besonderen Lage während der Corona-Pandemie ins Auge stechen.

«Der Bund unterstützt die Gemeinden in Sicherheitsbelangen finanziell.»

Im nahegelegenen Ausland sind jüdische Einrichtungen vermehrt zum Ziel antisemitischer und terroristischer Angriffe geworden – und so ist es mehr als nachvollziehbar, dass die Juden*Jüdinnen in der Schweiz besorgt sind – und wachsam. Die jüdischen Gemeinden haben in den vergangenen Jahren teils massiv in die Sicherheit ihrer Institutionen investiert und diese Mehrkosten zum Grossteil (anders als im Ausland) aus eigener Tasche bezahlt. Nun aber hat der Bundesrat eine wegweisende Entscheidung getroffen: Ab dem 1. Januar 2023 sollen Einrichtungen von Minder­heiten mit besonderen Schutzbedürfnissen höhere Unterstützungs­beiträge des Bundes erhalten. So sollen die Mittel in den Jahren 2023 bis 2027 von 500’000 Franken pro Jahr auf insgesamt 2,5 Millionen Franken erhöht werden. Dies hat der Bundesrat an seiner Sitzung vom 13. April 2022 entschieden, nachdem sich gezeigt hat, dass die bisherigen Finanzhilfen nicht ausreichen. Mit den Beiträgen sollen nun insbesondere bauliche und technische Mass­nahmen, laufende Sicherheitskosten sowie ganzheitliche Sicherheitskonzepte unterstützt werden. Positiv reagierten der Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG und die Platt­form der Liberalen Juden der Schweiz PLJS, die diese Lösung des Bundesrates für angemessen und konstruktiv halten.

Aufbruchstimmung
Obgleich Juden*Jüdinnen in der Schweiz eine Minderheit dar­stellen, ist das Interesse am Judentum gegeben und vor allem im universitären wie auch im kulturellen Bereich wahrnehmbar. Jüdische Veranstaltungen nehmen in der Schweizer Kulturlandschaft einen hohen Stellenwert ein und Anlässe wie der jährlich statt­findende «Europäische Tag der jüdischen Kultur», jüdische Filmfestivals, der «Tag des jüdischen Buches» in Zürich oder das jüdische Musikfestival «Mizmorim» in Basel sind Publikums­magnete. Es herrscht aktuell zudem eine Aufbruchstimmung in der jüdischen Kulturszene: Nicht nur das im Jahr 1966 gegründete Jüdische Museum der Schweiz in Basel vergrössert sich mit einem symbolträchtigen neuen Standort, auch der Verein «Doppeltür» in Endingen, das Museum Schauplatz Brunngasse oder der Verein «Omanut», beide in Zürich, blicken mit neuen Visionen in die Zukunft. Auch wenn sich das Judentum aktuell im Wandel befindet und vor allem die orthodox geführten Einheitsgemeinden neue Modelle für die Zukunft denken und realisieren müssen, um ihre Mitglieder zu halten und neue zu gewinnen, ist jüdisches Leben in der Schweiz aktiv, sichtbar und in die Zukunft gerichtet. Am diesjährigen Pessachfest wurde erneut nicht nur an das Elend und die Verfolgung, sondern auch an die Wiederer­langung der Freiheit gedacht. Für diese Freiheit gilt es in jeder Hinsicht zu kämpfen – denn sie ist auch in der Schweiz für Juden*Jüdinnen nicht immer selbstverständlich gewesen.