Valerie Wendenburg

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«Jüdische Werte sind sehr wichtig für mich»

Joël Dicker ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz – der Schriftsteller über seine Bücher, Religion und die Liebe zu seiner Heimat

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 17. Mai 2019.

Sie sind einer der bekanntesten Schriftsteller der Schweiz. Sehen Sie sich auch als jüdischer Autor? Die «Geschichte der Baltimores» ist eine Art jüdische Familiensaga.
Ich bin nicht sicher, wie man einen jüdischen Autor definiert. Ist das möglich? Eine solche Definition würde zahlreiche Fragen und Debatten aufwerfen: Was ist die Essenz des Jüdischen? Wer ist überhaupt jüdisch? Und wie definiert sich ein Schriftsteller? Aber sicher, «Die Geschichte der Baltimores» ist eine Familiensaga jüdischer Menschen, die auf jeden Fall jenen Menschen vertraut vorkommen wird, deren Familiengeschichte von Auswanderung geprägt ist und vielschichtige Wurzeln hat.

Haben Sie Bezug zur jüdischen Gemeinschaft in Genf oder in den USA, wo Sie viel Zeit als Kind bei Verwandten verbracht haben?
Ja, ich bin Mitglied der jüdischen Gemeinde in Genf.

«Religion ist definitiv wichtig für mich»

Spielt Religion in Ihrem Leben eine wichtige Rolle?
Religion ist definitiv wichtig für mich, ja. Nicht nur die Feiertage durch das Jahr, sondern auch die Philosophie und Werte im Judentum haben Bedeutung für mich.

Seit wann haben Sie gewusst, dass Sie Schriftsteller werden wollten?
Ich habe begonnen zu schreiben, als ich zehn Jahre alt war. Von diesem Zeitpunkt an habe ich immer geschrieben und nicht mehr damit aufgehört. Ich war laut der «Tribune de Genève» der jüngste Chefredaktor der Schweiz, weil ich ein Magazin über Tiere, «La gazette des animaux», herausgegeben habe. Ich startete das Vorhaben mit zwei Freunden, wir erledigten alle Aufgaben alleine und hatten sogar Abonnenten. Im Teenageralter haben sich dann meine Freunde aus dem Magazin zurückgezogen, aber ich machte weiter, bis ich 20 Jahre alt war. Ich liebte es, zu recherchieren und Artikel zu schreiben – und meine Liebe dazu hat bis heute nicht aufgehört.

Ihre Romane haben immer einen unerwarteten Plot. Haben Sie die ganze Geschichte in Ihrem Kopf, wenn Sie mit dem Schreiben beginnen?
Nein. Ich liebe es, wenn die Geschichten sich während des Schreibens entwickeln. Jede Geschichte, die ich schreibe, gibt es in verschiedenen Versionen mit unterschiedlichen Plots. Irgendwann stellt sich eine Version als die beste und überzeugendste heraus.

Sind Sie manchmal selbst erstaunt darüber, wie die Charaktere in Ihren Romanen sich entwickeln und welche Wege sie einschlagen?
Ja! Die Charaktere entwickeln sich unabhängig und, wie Sie sagen, manchmal überrascht es mich, wie sie in bestimmten Situationen reagieren. Dies ist ein Part am Schreiben, der mir grosse Freude bereitet.

Gibt es Charaktere in Ihren Büchern, die Ihnen selbst am Nächsten stehen? Wenn ja, welche?
Das ist so, als wenn Sie Eltern fragen würden, welches Kind sie am liebsten mögen. Ich bin absolut unfähig, einen Lieblingscharakter auszuwählen, aus dem Grund, weil jeder von ihnen ein wichtige Rolle spielt. Um Alphonse de Lamartine zu zitieren: «Ein einziger Mensch fehlt und die Welt wird leer.»

Wie arbeiten Sie? Schreiben Sie «von neun bis fünf» oder immer dann, wenn Sie gute Ideen haben? Oder andersrum gefragt: Beschreiben Sie bitte einen Tag im Leben von Joël Dicker?
Ich arbeite im Grunde «von neun bis fünf». Bei mir aber sind die Zeiten eher von fünf Uhr morgens bis zum Mittag und dann von 14 bis 18 Uhr. Ich bin ein Frühaufsteher, und ich nehme mir ein paar Stunden am Tag, um Sport zu machen. Aber ich bevorzuge es, mehrere Stunden am Stück zu arbeiten, wenn ich einen Roman schreibe.

Sie werden nun in der Deutschschweiz bekannter, aber es hat eine Weile gedauert, obgleich Sie bereits Bestsellerautor sind. Woran liegt es, dass Sie in Frankreich oder auch in Südamerika wesentlich mehr gelesen wurden?
Meine Bücher verkaufen sich besser in der Welschschweiz als in der Deutschschweiz. Die Preise, die ich in Frankreich gewonnen habe, sind auch ein Grund dafür. Ich glaube, dass man sich in Zürich oder Basel mehr daran orientiert, welche Literatur in Deutschland bekannt ist. In der Tat habe ich eine grosse Leserschaft in Spanisch sprechenden Ländern. Die Leser dort haben meine Bücher wirklich mit offenen Armen aufgenommen, was sehr aufregend für mich war. Dadurch hatte ich die Gelegenheit, viele dieser Länder kennenzulernen und einige wundervolle Menschen zu treffen. Für diese Erfahrung bin ich sehr dankbar.

«Ich bin sehr patriotisch, was die Schweiz betrifft.»

Welche Bücher sind für Sie am wichtigsten, und welche Autoren haben Sie inspiriert?
Ich habe Romain Gary und Jack London immer geliebt. Ihre Werke waren meine Lieblingsbücher, als ich erwachsen wurde, und sie sind es noch immer.

Sie sind auch Schauspieler. Haben Sie schon einmal daran gedacht, den Job zu wechseln?
Ich habe einige kleine Erfahrungen bei den Dreharbeiten zur Fernsehserie über «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» gemacht, die ich wunderbar fand. Aber nein, ich werde meine Karriere in naher Zukunft nicht wechseln! Ich war sehr glücklich, dass Regisseur Jean-Jacques Annaud mir einige Drehs ermöglicht hat, ich werde diese Erfahrung nie vergessen.

Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie in der Schweiz – so wie nun in Zürich – lesen oder in anderen Ländern?
Ja, selbstverständlich! Ich bin sehr patriotisch, was die Schweiz betrifft. Mir ist es immer sehr wichtig, meine Leser aus der Schweiz zu treffen, egal, welche Sprache sie sprechen. Ich bin so stolz aus diesem multikulturellen, mehrsprachigen, friedlichen Land zu kommen.

Wird es einmal ein Buch von Ihnen geben, das in Genf oder an einem anderen Ort in der Schweiz spielt?
Vielleicht eines Tages! Im Moment bin ich noch nicht in der Lage, Genf aus einer ausreichenden Distanz zu betrachten, um eine fiktive Geschichte über die Stadt zu schreiben. Vielleicht wird es ein solches Buch aber geben, wenn ich älter bin …