Valerie Wendenburg

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Kein vereintes jüdisches Engagement

Heute findet in der Schweiz der Frauenstreik statt – tachles hat sich innerhalb der jüdischen Gemeinschaft umgehört und zeigt auf, dass es bisher keine organisierte jüdische Initiative für einen Streik gibt. 

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 14. Juni 2019 .

Wenn diese tachlesAusgabe erscheint, werden bereits die ersten Frauen – und auch Männer – auf die Schweizer Strassen gehen, um gegen Lohnungleichheit, Diskriminierung, sexuelle Belästigung und ungleiche Verteilung von Betreuungsarbeit zu demonstrieren. Dies sind nur einige der Gründe für den nationalen Frauenstreik 2019. In der ganzen Schweiz wird es heute, Freitag, Aktionen, Arbeitsniederlegungen, Protestkundgebungen, Versammlungen, Flashmobs und viele weitere Aktivitäten geben. Am Frauenstreik gibt es keine nationale Demonstration, sondern Anlässe in der ganzen Schweiz – jede Gruppe, jede Region, jeder Betrieb und jede Einrichtung entscheidet selbst, was sie unternimmt. Wie aber sieht es innerhalb der jüdischen Gemeinschaft der Deutschschweiz aus? Während einige kirchliche Vereine sich engagieren und zu Protesten für die Gleichstellung der Frau aufrufen, bleiben jüdische Institutionen nach aussen stumm. Auf Nachfrage von tachles aber werden pointierte und sehr unterschiedliche Auffassungen geäussert. 

Lohnungleichheit betrifft Frauen und Männer

Vielen jüdischen Frauen in der Schweiz ist der Frauenstreik ein grosses Anliegen. So auch Rachel Manetsch von der Zürcher Agentur Made Marketing. Sie sagt: «Ich werde am Frauenstreik teilnehmen, weil der ‹Gender Pay Gap›, also der unerklärte Lohnunterschied zwischen dem Lohn von Frauen und Männern im selben Job, nach wie vor vorhanden ist.» Dies sei diskriminierend und habe zur Folge, dass auch Männer, die eigentlich mehr für ihre Familie da sein wollen, eher schlechte Chancen hätten. «Die Lohnungleichheit betrifft also alle. Und ich werde streiken, weil Elternschaft in der Schweiz einen ganz schwachen Stellenwert hat, wie der Bundesrat eben erst bewiesen hat. Erst kürzlich hat er den Vaterschaftsurlaub von zwei (!) Wochen abgelehnt. Solange Frauen beziehungsweise Mütter im Job diskriminiert werden, wird die Familie per se diskriminiert», so Rachel Manetsch. Letztlich sei es eine gesamt­gesellschaftliche Frage: Was ist uns die Familie wert? Aus ihrer Sicht ist es auch aus jüdischer Sicht sinnvoll, sich für mehr Frauenrechte zu engagieren: «Gerade die Frage der Agunot, also jener Frauen, die keinen Scheidungsbrief von ihrem Noch-Ehemann erhalten, zeigt auf, dass auch im Judentum Themen der Gleichberechtigung aktueller sind denn je. Auch was die Eheschliessung in (ultra-)orthodoxen Kreisen betrifft, herrscht noch viel Luft nach oben.»

«Vielen jüdischen Frauen in der Schweiz ist der Frauenstreik ein grosses Anliegen.»

Abgesehen davon, dass die «zu vermählende Frau» die Ketuba nicht selbst unterzeichnet, wäre es dringend notwendig, das Konzept der Partnerwahl und der Zweckheirat zu überdenken. Nicht nur für emanzipierte, selbstbestimmte junge Frauen, sondern auch für emanzipierte, selbstbestimmte junge Männer. Die Psychoanalytikerin Madeleine Dreyfus spricht sich auch klar für den Frauenstreik aus, sie sagt: «Prinzipiell erachte ich den Kampf für die Gleichstellung und Gleichbezahlung von Frauen und Männern für ein wichtiges emanzipatorisches Anliegen. Der Frauenstreiktag ist ein Mittel, um auf dieses gesellschaftspolitische Anliegen aufmerksam zu machen. Frauen – und Minderheiten – sind traditionell Leidtragende sozialer Diskriminierung. Leider ist das Judentum immer noch sehr patriarchalisch orientiert, aus Konvention oft mehr als halachisch nötig, wie Valérie Rhein in ihren Artikeln aufgezeigt hat. Deshalb würde es auch den jüdischen Frauenverbänden gut anstehen, sich öffentlich für die Stellung der Frauen zu engagieren.» 

«Keine offizielle Position» 

Dass dies nicht der Fall ist, haben Recherchen von tachles ergeben. Nach der Anfrage beim Bund Schweizerischer Jüdischer Frauenorganisationen (BSJF) ist die Antwort eher verhalten. Gabi Elikan, Vorstandsmitglied des Präsidialkomitees vom BSJF, erklärt: «Wir, der Bund Schweizerischer Jüdischer Frauenorganisationen BSJF, sind Mitglied der AllianceF und sind schon bei der Initiative zum Frauenstreik informiert worden. Wir verfolgen mit grossem Interesse alle politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen, Initiativen in der Schweizer Politik. Da wir ein freiwillig arbeitendes Präsidialkomitee sind, das mit kleinen personellen und finanziellen Ressourcen funktioniert, fokussieren wir uns lieber auf innerjüdische und interreligiöse Frauenfragen.» Sie betont: «Der Frauenstreik hat sich zum Zusammenschluss von so vielen verschiedenen Organisationen mit so verschiedenen Forderungen mit deren Werten entwickelt, mit denen wir uns als jüdische Organisation nicht mehr voll identifizieren können.» Zudem, so fügt Gabi Elikan hinzu: «Wir glauben auch, dass die Stellung der jüdischen Frau eine andere ist als die in der schweizerischen Gesellschaft. Die Frau ist dem Mann ebenbürtig, jeder hat eine Funktion. Jeder ist verantwortlich für das Wohlergehen der Gesellschaft und der Familie. In Israel sind Teilzeitarbeit, flexible Arbeitszeiten etc. an der Tagesordnung. Väter holen die Kinder vom Kindergarten ab, gehen mit ihnen in den Park. Wie viele Väter gehen hier ihre Kinder abholen?» Sie sieht «das Ganze» als ein gesellschaftliches Problem, das auch den Einbezug der Partner benötigt. Gabi Elikan schliesst mit der Frage: «Wir müssen eher diese Mentalität in Bewegung bringen. Ist der Frauenstreik ein gutes Mittel?»

«Ist der Frauenstreik ein gutes Mittel?»

Auch der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) hat «keine offizielle Position zum Frauenstreik». Das betont deren Generalsekretär Jonathan Kreutner, der aber hinzufügt: «Der SIG als Arbeitgeber wiederum wird seinen Mitarbeitenden, die es wünschen, die Teilnahme am Streik ermöglichen. Der SIG versteht sich als moderner Arbeitgeber. Es gilt zum Beispiel gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Der SIG kennt flexible Arbeitszeitlösungen, insbesondere für Mitarbeitende mit Kindern.» Der Co-Präsident der Plattform der Liberalen Juden der Schweiz, Peter Jossi, befürwortet den Frauenstreik dezidierter, auch wenn keine direkten Aktionen und Kooperationen geplant seien. Jossi sagt: «Wenn sich jedoch Mitglieder unserer Gemeinden in diesem Rahmen beziehungsweise für die Anliegen und Forderungen engagieren, begrüssen wird die ausdrücklich.» Im liberalen/progressiven Judentum sei die Gleichberechtigung der Geschlechter von zentraler Bedeutung insbesondere auch im Kultus- und Liturgiebereich. Rabbinerinnen sind in liberal-jüdischen Gemeinden seit vielen Jahren zunehmend verbreitet, wie Jossi betont. 

Dialog statt Konfrontation 

In diesem Sinne spricht sich auch Iris Ritzmann, Präsidentin der Jüdischen Liberalen Gemeine Or Chadasch in Zürich (JLG), für den Frauenstreik aus, denn: «Die Gleichstellung von Frau und Mann ist eines der zentralen Anliegen unserer Gemeinde. Selbstverständlich unterstützen wir den noch immer notwendigen Kampf der Frauen für gleichen Lohn bei gleicher Arbeit, gegen Unterdrückung, Gewalt und Sexismus, für eine adäquate Bildung und Weiterbildung.» Da ihre Gemeinde als kleines Team auf die Mitarbeit jeder und jedes Angestellten angewiesen sei, sei eine Beteiligung der weiblichen Angestellten am Frauenstreik zwar sehr im Sinne der JLG, sollte aber vorher kurz mit den anderen Angestellten abgesprochen werden. Kritisch gegenüber dem Frauenstreik äussert sich die Präsidentin der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ). Shella Kertész sagt: «Der Gewerkschaftsbund ruft nach 1991 erneut zu einem Frauenstreik am 14. Juni auf. In einer Demokratie, wie wir es in der Schweiz erleben dürfen, können für wichtige Anliegen verschiedene politische Schritte unternommen werden. Ein Streik erreicht eine grosse mediale Aufmerksamkeit, ist aber für mich eines der letzten Mittel, die eingesetzt werden sollten, um Forderungen durchzusetzen. Wir in der ICZ setzten auf Dialog und nicht auf Konfrontation.» Das sind deutliche Worte. In der Israelitischen Gemeinde Basel (IGB) heisst es seitens Vorstandsmitglied Nora Refaeil: «Die IGB ist zurzeit von der Frage des Frauenstreiks nicht betroffen.» 

Lust zum Widerstand? 

Shelley Berlowitz, Projektleiterin der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich, gibt zu bedenken, dass ein politischer Streik von innen beginnen muss und man ihn nicht von aussen empfehlen kann. Sie betont: «Nur wenn direkt betroffene, religiöse Frauen Ungleichheit empfinden und dagegen aufbegehren, wenn sie Forderungen formulieren und wenn sich jüdische Frauenverbände diesen Forderungen anschliessen würden, käme ein Streik zustande.» Shelley Berlowitz verweist auf die Historikerin Elisabeth Joris, die angezeigt hat, dass eine Bewegung erst entsteht, wenn ein Wir-Gefühl und Lust zum Widerstand da ist. Eine Bewegung brauche auf die Länge aber auch Institutionen, die sie unterstützen, Geld sprechen, ihre Forderungen aufnehmen – denn Emotionen verpuffen irgendwann. Shelly Berlowitz bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt: «Die Frage ist also nicht: Sollen Frauen im Judentum einen Streik lancieren, sondern: Wollen sie? Und gibt es Institutionen, die ihre Forderungen aufnehmen würden?» Aktuell, am 14. Juni, dem zweiten grossen Frauenstreik in der Geschichte der Schweiz, gibt es kein vereintes jüdisches Engagement auf Schweizer Strassen. Es sind vor allem einzelne jüdische Frauen, die aus privatem Engagement für die Rechte der Frauen einstehen.