Valerie Wendenburg

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Klezmer mit Zugluft 

Die Schweizer Kulturszene leidet unter der Corona-Krise, viele Künstlerinnen und Künstler zeigen sich aber auf die neue Saison hin kreativ und zuversichtlich. 

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 17. Juli 2020.

Kulturschaffende waren hierzulande die Ersten, die wirtschaftlich von den Massnahmen gegen Covid-19 betroffen waren, und sie werden unter den Letzten sein, die von den Lockerungen profitieren. Nach wie vor herrscht in der Branche vor allem eines: Unsicherheit. In vielen Bereichen geht es weiter, aber unter anderen Vorzeichen als bisher. In einem Land wie der Schweiz, wo normalerweise rund 5,5 Millionen Besucherinnen und Besucher jährlich die grossen Musikveranstaltungen, Konzerte, Open Airs und Festivals besuchen, finden nun Kulturveranstaltungen eher im kleinen Rahmen statt. Auch wenn die Szene wieder live zu erleben ist und nicht nur virtuell wie zu Zeiten des Lockdowns, so hat die Covid-19-Pandemie eine grosse Krise im Kulturbetrieb verursacht. Die Absage aller Veranstaltungen hatte schwere wirtschaftliche Folgen für die meisten Kulturschaffenden, die sich zum Grossteil aber nicht unterkriegen lassen und weiter produzieren – in der Hoffnung auf einen stattfindenden Kulturherbst dieses Jahr. 

«Die Covid-19-Pandemie hat eine grosse Krise im Kulturbetrieb verursacht.»

Der Musiker Jonas Guggenheim spielt in verschiedenen Ensembles Akkordeon und tritt zudem mit einer Elektromusik-Installation auf. Er sagt, sein Alltag habe sich nun komplett verändert, da er nun viel mehr organisieren müsse, obgleich er weniger Engagements und auch Einnahmen habe. Nachdem im Frühling und Sommer alle Auftritte abgesagt worden sind, die er auf der Agenda hatte, sieht er nun ein wenig Licht am Ende des Tunnels: «Wenn an einem Tag zwei Absagen kommen, erhalte ich vielleicht auch eine neue Anfrage für ein anderes, spontanes Projekt», sagt Guggenheim. Aber auch bei ihm ist die Unsicherheit sehr gross. Niemand weiss, ob die Veranstalter die für Herbst geplanten Programme tatsächlich durchführen können und was für 2021 geplant werden kann. «Der Markt ist nun viel schwieriger als er ohnehin schon war», so sein Fazit. Ohne Einkommen und mit geringer Ausfallentschädigung von in seinem Fall 1300 Franken pro Monat «kann es in der Schweiz schnell ungemütlich werden». Und die Krise ist noch nicht vorbei; er rechnet damit, dass sie durchaus noch eineinhalb Jahre andauern könne. Trotz allem spürt Jonas Guggenheim in der Musikszene ein grosses Bedürfnis danach, Neues zu produzieren und auch zu spielen. Auftritte finden wieder statt, wenn auch im kleineren und privaten Rahmen. Dennoch sei es psychologisch schwierig, durchzuhalten. Mit seiner Band Zugluft, mit der er Folk, Jazz und Klezmer spielt, wird er kommende Woche neue Lieder proben und «weitermachen». Er betont: «Ich spüre auch eine grosse Solidarität, der Austausch unter den Kulturschaffenden ist grösser und offener als vorher.» Seiner Meinung nach ist dies auch eine Chance für die Verbände, die nun gestärkt aus der Krise hervorgehen könnten. 

Soforthilfe für Kulturschaffende gefordert 

Tatsächlich macht sich die verbandsübergreifende Taskforce Culture für die Kulturszene stark. Sie hat innert drei Wochen eine Vernehmlassungsantwort zum Entwurf des Covid-19-Gesetzes für den schweizerischen Kultursektor erarbeitet und der Bundeskanzlei eingereicht. 84 Kulturverbände und Stiftungen haben das Schreiben unterzeichnet. Damit zeigt die Schweizer Kulturbranche in herausfordernden Zeiten wie diesen ein starkes Signal. Die Taskforce Culture betont: «Ohne die Weiterführung der Finanzhilfen für Kulturschaffende und Kulturunternehmen würde der Kulturbereich faktisch zusammenbrechen.» 

Der Kultursektor sei grösser und vielfältiger als gemeinhin bekannt, heisst es weiter. Zudem sollen die Unterstützungsmassnahmen weitergeführt, aber vereinfacht und den Realitäten des Sektors angepasst werden. Gefordert wird unter anderem eine Soforthilfe für Kulturschaffende und Anpassungen bei der Arbeitslosenversicherung für Freischaffende. Dies scheint wichtig, damit sich die Kulturschaffenden überhaupt über 
Wasser halten können, bis ein Stück Normalität zurück in das Kulturleben kehrt. Der Bundesrat hat bereits ein Hilfspaket geschnürt, mit dem selbstständige Kulturschaffende sowie Kulturunternehmen landesweit mit insgesamt 280 Millionen Franken unterstützt werden sollen. Das Geld stammt je zur Hälfte vom Bund und den Kantonen. Aufgrund des grossen bürokratischen Aufwands dauert es aber, bis es an die Antragsteller gelangt. Einige Schriftstellerinnen und Schriftsteller um Bettina Spoerri haben bereits im Juni einen Offenen Brief an den Bundesrat verfasst, worin unter anderem eine «unbürokratische, schnelle und praktikable Lösung» gefordert wurde (tachles berichtete). Immerhin: Der Anspruch der direkt oder indirekt von Massnahmen gegen das Coronavirus betroffenen Selbstständigerwerbenden auf Corona-Erwerbsersatz wurde bis zum 16. September verlängert. 

Wenn die Öffentlichkeit fehlt 

Die Schriftstellerin Lea Gottheil äussert gegenüber tachles vor allem Unsicherheit. Sie und auch andere Autoren aus ihrem Bekanntenkreis könnten gar nicht einschätzen, wie es nun weitergeht: «Es ist eine ganz schwere Zeit. Mein Glück ist, dass ich immer arbeiten kann, da ich schreibe. Aber wann wieder eine gute Zeit ist, um ein Buch zu veröffentlichen, steht noch in den Sternen.» Ohne Lesungen, Messen und Büchertische – sprich also ohne Öffentlichkeit – scheint es schwer, Bücher zu vermarkten und diese an die Leserschaft zu bringen. Lea Gottheils aktuelles Manuskript für ein Kinderbuch liegt nach wie vor beim Agenten, der es eigentlich in diesem Jahr an der Kinderbuchmesse in Bologna präsentieren wollte. Als selbstständige Autorin, die auch als Liedermacherin auftritt, erhält sie nun Geld von ihrer Versicherung aufgrund des Veranstaltungsverbots, «aber ich weiss nicht, wie lange die Situation noch andauert und wann der Hahn abgedreht wird», so Lea Gottheil. «Ganz bitter» sei die Lage für alle Veranstalter, die eine grosse Verantwortung für die Kulturschaffenden wie auch für das Publikum tragen würden. Umdenken heisst hier die Devise – und so geschieht es auch bei der BuchBasel, die in diesem November unter anderen Vorzeichen stattfindet. 

«Es entstanden neue Ideen und es gab Bewegung.»

Auf der Website www.buchbasel.ch heisst es: «Covid-19 brachte Unsicherheit. Aber nicht nur! Es entstanden neue Ideen und es gab Bewegung – insbesondere auf der Publikumsseite. Klar wird: Gemeinsam können wir in der Literaturvermittlung mehr, als vor der Pandemie noch denkbar war.» Aus diesem Grund wird nun an Alternativen zur analogen Literaturvermittlung gearbeitet. Geplant wird zurzeit – parallel zum traditionellen Programm mit persönlichen Begegnungen – an virtuellen Angeboten für ein «Festival zu Hause». Denn, so heisst es: «Falls eine zweite Welle kommt, sollen Sie sich, liebes Publikum, aus sicherer Distanz mit Büchern und Autor*innen auseinander­setzen können.» Fest steht also, das internationale Literaturfestival findet auch in diesem Jahr im November statt – vielleicht aber auf andere Art und Weise als bisher. Unter dem Motto « Zweiter Frühling» werden an der BuchBasel auch die Titel aus dem Frühling 2020 präsentiert, die aufgrund der Pandemie kaum Beachtung fanden. In den beiden Wochen vor dem Festival organisieren Verlage und Buchhandlungen aus der Region eigene Lesungen. 

Kein Zurück zu Prä-Corona-Verhältnissen 

Auch das Theater Neumarkt in Zürich plant seine nächste Spielzeit ganz anders als vorgesehen. Renata Sahar, Pressesprecherin des kleinsten Drei-Sparten-Hauses der Schweiz, denkt über den «State of emergency» nach und meint, dass die ausserordentliche Lage nicht vorbei ist, sondern ausgedehnt werden muss, denn: «Es kann kein Zurück zu einem Prä-Corona geben, sondern es gilt, nach vorne zu schauen, in eine Zukunft, die voller Möglichkeiten ist.» Das neue Motto der kommenden Spielzeit, die am 3. September beginnt, lautet: «Masken auf, die Hüllen fallen». In der Ankündigung auf der Website des Theaters (www.theaterneumarkt.ch) wird festgestellt, dass sich nun das nackte Leben zeigt und eventuell bald die Maskenpflicht kommt. Für das Theater bedeute dies folgendes: «Alles ist anders, die sogenannte Normalität ist ausgehebelt, wir sind in einer ausserordentlichen Lage. Ausserordentlich ist gut. Ausserordentlich macht Dinge sichtbar, die wir vorher so klar nicht sehen konnten. Ausserordentlich ist gut, weil vieles neu verhandelbar wird, veränderbar ist.» Denn Krisen seien auch immer Chancen für Neuanfänge und für gesellschaftlichen Wandel, bei dem Kunst und Kultur eine besondere Rolle spielen. «Wir rücken zusammen, während wir Abstand halten, wir sind systemrelevant, weil Kunst und Kultur neben Politik, Wirtschaft und anderen Systemen ein eigenes, eigenständiges System ist, das andere Systeme auch infrage stellen kann, wenn nötig.» Die aussergewöhnliche Lage wird also am Theater Neumarkt bewusst ausgedehnt und als Zeit verstanden, in der wichtige Neuerungen erprob- und umsetzbar sowie kreative Kräfte freigesetzt werden. 

Zusammen in Widerstand treten 

Trotz kreativer Ideen, Zusammenhalt und positiver Energie bleibt auch die Besorgnis. Grosse Veranstaltungsorte wie das Kultur- und Kongresszentrum Luzern sind bei Planungen nicht nur aufgrund nach wie vor begrenzter Besucherzahlen eingeschränkt. Zudem ist man abhängig davon, das interkontinentale Reisebeschränkungen gelockert werden, damit Künstlerinnen und Künstler überhaupt für ein geplantes Konzert anreisen können. Neben Mut machenden Stimmen sind auch nach wie vor Hilferufe zu hören. So fordert das Basler Theater Fauteuil dazu auf, mit ihm «in den Widerstand» zu treten. Damit weiter gespielt werden kann, wenn dies möglich ist, ruft das Theater am Spalenberg zu Spenden auf. Und überall finden sich kreative Ideen, die aus der Not geboren werden. So findet am Sonntag, 19. Juli, um 17 Uhr ein Benefizkonzert von Patricia Kopatchinskaja und Lee Stalder in der Pauluskirche in Bern statt. Die Musiker möchten sich solidarisch mit Kolleginnen und Kollegen zeigen, die in finanzielle Not geraten sind. Die Kollekte fliesst daher an die Nothilfe-Stiftung des Schweizerischen Musikerverbands. Kultur findet statt – anders als bisher. Unterkriegen lässt sich die Branche glücklicherweise aber nicht, wie es scheint. Dass sie zusammensteht, ist ein positives und wichtiges Signal.