Valerie Wendenburg

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Kunsthandel unter Zugzwang

Vor genau 20 Jahren verabschiedeten 44 Staaten die Washingtoner Prinzipien zur Restitution von Naziraubgut – was bisher in der Schweiz geschehen ist.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 30. November 2018.

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Anfang Dezember 1998 wurde in der US-amerikanischen Hauptstadt Washington von der Schweiz und 43 weiteren Ländern eine Erklärung unterzeichnet, die heute zu Recht als historischer Markstein gewertet wird. Denn die sogenannten Washingtoner Prinzipien stehen für ein Umdenken hinsichtlich des Umgangs mit der national-sozialistischen (NS) Vergangenheit. An der von US-Finanzstaatssekretär Stuart Eizenstat einberufenen Konferenz wurde die Rückgabe der vom NS-Regime in Deutschland und von der Wehrmacht in besetzten Ländern insbesondere jüdischen Eigentümern geraubten Kunstgegenständen («Raubgut») auf eine verbindliche Grundlage gestellt. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass es sich bei der Erklärung vom 3. Dezember 1998 nur um eine Absichtserklärung handelt – und nicht um einen völkerrechtlich bindenden Vertrag. Dennoch: Den elf Artikeln der Washingtoner Prinzipien geht eine kurze Präambel voraus, die auf den nicht bindenden Charakter dieser Richtlinien hinweist. Des Weiteren werden in der Präambel die unterschiedlichen Rechtssysteme und Gesetzgebungen, welche die Staaten aufweisen, unterstrichen. Wie Anne Laure Bandle, Anwältin und Direktorin der Art Law Foundation, an der Tagung der Juristischen Fakultät der Universität Basel zum Thema «Kunst und Recht» im Juni betonte, würden die Washingtoner Richtlinien daher «als massgebende, nicht direkt durchsetzbare, Leitlinien und somit als sogenannte «soft law» verstanden. Sie seien für die NS-Raubkunstproblematik «von wegweisender Bedeutung und haben zum Ziel, «dass gerechte und faire Lösungen gefunden werden». Bandle betont, dass die elf Artikel der Washingtoner Richtlinien in drei Hauptachsen aufgeteilt werden können: Zum einen gehe es um die Identifizierung von Gütern, um die ursprünglichen Eigentümer oder Erben, das heisst die Opfer, und schliesslich um die Beilegung von Streitigkeiten. 

Keine führende Rolle 

Die Washingtoner Prinzipien sind bis heute anerkannt und wurden in der Folge mehrmals bestätigt – so an den Nachfolgekonferenzen von Vilnius (2000) und Terezín (2009). An beiden Konferenzen hat die Schweiz teilgenommen – als Land, dass vor und während des Zweiten Weltkriegs als Drehscheibe des Kunsthandels galt. Die Eidgenossenschaft hat damit von Beginn an erklärt, «dass sie der Aufarbeitung der NS-Raubkunstproblematik sowie gerechten und fairen Lösungen grosse Bedeutung zumisst», so steht es in einer Medienmitteilung unter dem Titel «Meilensteine der Aufarbeitung der NS-Raubkunstthematik durch den Bund» vom November diesen Jahres geschrieben. Thomas Buomberger, Historiker und Journalist und Autor der Bücher «Raubkunst – Kunstraub» (2008) und «Schwarzbuch Bührle» (2015), sieht das nicht ganz so positiv. Auf Nachfrage von tachles danach, wie er die Situation in der Schweiz 20 Jahre später einschätzt, sagt er: «Die Schweiz war massgebend an der Ausarbeitung der Washingtoner Prinzipien beteiligt. Leider wurde dieser Elan später nicht umgesetzt in griffige Instrumente bei der Recherche nach Raubkunst oder der Lösung von strittigen Fällen.» Er kritisiert auch die «Anlaufstelle Raubkunst», die im Jahr 1999 beim Bundesamt für Kultur (BAK) und beim Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) eingerichtet wurde. Offizielles Ziel der Anlaufstelle ist es, «interessierten Kreisen eine erste Anlaufstelle auf Bundesebene zur Verfügung zu stellen und in strittigen Fällen zu gerechten und fairen Lösungen im Sinne der Washingtoner Richtlinien beizutragen». Buomberger sagt: «Die Anlaufstelle ist in meiner Wahrnehmung ein ziemlich zahnloses Gebilde. Es hätte eine mit Kompetenzen ausgestattete Kommission wie die ‹Bergier-Kommission› gebraucht. Dass die Schweiz bei der Aufklärung von Raubkunst keine führende Rolle spielt, hat auch mit anfänglichen Widerständen von Museumsdirektoren zu tun, aber auch mit dem dezidierten Widerstand des Kunsthandels, der nach wie vor nicht bereit ist, seine Archive für Forschungszwecke zu öffnen.» 

Raubkunst in privatem Besitz 

Die Zurückhaltung hinsichtlich des Umgangs mit Raubkunst liegt auch daran, dass die neutrale Schweiz nicht am Zweiten Weltkrieg beteiligt war und sich daher lange auch nicht in der Verantwortung sah. Zudem wurde in der Schweiz lange Zeit der Begriff «Fluchtgut» statt «Raubkunst» verwendet, da verfolgte Juden ihre Kunstwerke veräusserten, um mit dem Geld ihre Flucht aus Deutschland finanzieren zu können. Dass die meisten Schweizer Museen Ansprüche für sogennantes «Fluchtgut» ablehnen, macht die Situation nicht einfacher. Buomberger bemerkt aber, dass es bei den Museen – nicht zuletzt dank eines Generationenwechsels – aber nun ein Umdenken gegeben habe: «Das hat auch mit den vom Bund zur Verfügung gestellten Mitteln für Provenienzrecherchen und dem klaren Bekenntnis des Bundes, dass Provenienzrecherchen eine Kernaufgabe von Museen seien, zu tun. Leider sind die Mittel dafür noch zu bescheiden.» In der Tat unterstützt das BAK/EDI in den Jahren 2016 bis 2020 Arbeiten zur Provenienzforschung und zur Publikation der Resultate von Drittmuseen und Sammlungen mit rund zwei Millionen Franken.

«Die Schweiz war massgebend an der Ausarbeitung der Washingtoner Prinzipien beteiligt.»

Nebst dem Kunstmuseum in Bern erhalten zum Beispiel auch das Kunstmuseum in Basel sowie die Fondation Beyeler Geld. Benno Widmer, beim BAK zuständig für Museen und Sammlungen, sagt gegenüber Swissinfo.ch, dass die Nachfrage hoch sei. «Dies zeigt, dass die Museen zunehmend Verantwortung übernehmen.» Zudem spricht das BAK/EDI seit 2017 ausschliesslich Subventionen an Museen, welche die Washingtoner Richtlinien explizit anerkennen und umsetzen.

Auffällig ist, dass der private Kunsthandel sich offensichtlich kaum in der Pflicht sieht, wenn es um die Umsetzung der Prinzipien geht. Dies ist gerade aufgrund der Rolle, die die Schweiz im Kunsthandel gespielt hat, unverständlich. Buomberger betont: «Es wäre wichtig, wenn man vor allem den privaten Kunsthandel bewegen könnte, kooperativer zu werden. Da wäre auch an gesetzliche Instrumente zu denken. Es ist zu vermuten, dass noch ein erheblicher Anteil von Raubkunst in privatem Besitz in der Schweiz ist.» Insgesamt werde das Thema Raubkunst noch während Jahrzehnten auf der Schweizer Agenda stehen, doch je länger es dauert, desto schwieriger würden die Recherchen. «Deshalb braucht es in den nächsten Jahren noch einen besonderen Effort unter Einbezug der Archive der privaten Kunsthändler», so Buomberger. 

Drehscheibe für Raubkunst 

Kritisch über den Schweizer Umgang mit den Washingtoner Prinzipien äussert sich auch der Jurist und Raubkunstexperte Andrea Raschèr, der der Ansicht ist, seit 1998 hätten in der Schweiz alle Kunstinstitutionen versucht, «das ganze auszusitzen und Fragen um Raubkunst aus dem Weg zu gehen.» Es habe nur wenige Ausnahmen gegeben, zu denen immerhin die Kunstinstitutionen des Bundes und wenige Kunstmuseen gehörten. Raschèr sagt: «Plötzlich, als das Kunstmuseum die Sammlung Gurlitt erbte, geriet die Schweiz wieder in den Fokus der weltweiten Aufmerksamkeit. Hinsichtlich Provenienzforschung hat das Kunstmuseum Bern ab 2015 eine Vorreiterrolle inne und ebenso darin, faire und gerechte Lösungen zu finden.» Hervorzuheben sei, so Raschèr, dass dieses Kunstmuseum Raubkunst und sogenanntes Fluchtgut gleich behandelt: «Das ist ein Novum in der Schweiz und setzt andere Kunstmuseen unter Zugzwang. Der Bund spricht auch seit einigen Jahren mehrere hunderttausend Franken jährlich für Provenienzrecherchen in Schweizer Kunstmuseen. Auch wenn es sich erst langsam bewegt, kann man hoffen, dass dies schweizweit den Anfang bildet und die Provenienzen der Kunst in allen Kunstmuseen aufgearbeitet und nachgezeichnet werden.»

«Noch immer werden Werke vermisst, die bei Schweizer Kunsthändlern oder Sammlern vermutet werden.»

Beim Kunsthaus Zürich gelte es abzuwarten, wie es die Sammlung Bührle integriert und vor allem, ob in Zukunft die Unterlagen und Erkenntnisse aus den Provenienzrecherchen für die ganze Sammlung fortlaufend und umfassend zugänglich gemacht würden. Und auch Raschèr verweist auf die Rolle des Kunsthandels: «Man sollte darauf hinwirken, dass die Archive der damals involvierten Auktionshäuser und Kunsthändler endlich offengelegt werden – schliesslich waren sie die europaweite Drehscheibe für Raubkunst.» 

Scheint, als würde der private Kunsthandel hinterher hinken – und es ist fraglich, ob sich dies ändert, solange die Kunsthändler rechtlich nicht dazu verpflichtet werden, die Provenienz ihrer Kunstwerke zu überprüfen. Noch immer werden Werke vermisst, die bei Schweizer Kunsthändlern oder Sammlern vermutet werden, so zum Beispiel das Gemälde aus der Sammlung Paul Rosenberg «Mademoiselle Diot». Massive Kritik am Umgang der Schweiz mit NS-Raubkunst übte in der Vergangenheit immer wieder Ronald Lauder, selbst Kunstsammler und Präsident des World Jewish Congress. Er sagte im Jahr 2016 mit Blick auf die Eidgenossenschaft: «Neutral zu sein, war nicht nur bequem, sondern auch lukrativ.» Und er forderte, die Schweiz müsse eine unabhängige Expertenkommission etablieren, da sie aufgrund ihrer historischen Verantwortung und des Gurlitt-Erbes vor allen anderen Ländern Recht schaffen und die Fortsetzung des Verbrechens stoppen müsste. Solange der Kunsthandel bei der Aufarbeitung dieses unrühmlichen Kapitels der Geschichte nicht mitzieht, wird die Schweiz allerdings kaum als leuchtendes Vorbild dienen können.