Valerie Wendenburg

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«Meine Bücher sind alle autobiografisch»

Die israelische Autorin Lizzie Doron hat im April in der Schweiz aus ihrem neu erschienenen Buch «Es war einmal eine Familie» gelesen. Im Gespräch mit tachles erzählt sie über ihre familiäre Vergangenheit, ihre Motivation und über ihr aktuelles Projekt.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 4. Juni 2009.

Als Linguistin haben Sie eine Laufbahn an der Universität angestrebt, bis Sie – mehr durch Zufall – zum Schreiben kamen. Sie haben also nicht schon immer davon geträumt, Schriftstellerin zu werden?
Nein, überhaupt nicht! Ich kam zu meinem ersten Buch, weil ich meiner Tochter die Geschichte ihrer Familie erzählten sollte. Daraufhin riefen viele Freunde an und baten mich, nicht nur meine persönliche, sondern auch die Geschichte der zweiten Generation nach dem Holocaust allgemein zu beschreiben. Für mich war es damals ein grosser Schritt, mich von einer Universitätskarriere zu verabschieden. Aber ich habe mir gesagt: Wenn es so ein starkes Bedürfnis gibt, diese Geschichten zu hören, dann will ich versuchen, sie aufzuschreiben. Mein zweites Buch, das nun etwas verspätet auf Deutsch erschienen ist, handelt auch nicht mehr vom Schicksal der Holocaust-Überlebenden, sondern von uns, den Kindern, und unseren Freunden, die wir im Jom-Kippur-Krieg verloren haben. Ich wollte erzählen, was uns passiert ist. 



Die Themen, denen Sie sich widmen, stossen ja nicht nur in Israel, sondern in ganz Europa auf grosse Resonanz.
Sie werden sich wundern, aber diese Themen der ersten und zweiten Generation sind in Israel gar nicht so populär. Ich bin heute in Deutschland, Frankreich, Italien oder Russland viel bekannter als in Israel. 



Ihre Mutter hat Ihnen immer gesagt, Sie sollten nur in die Zukunft schauen und nicht zurückblicken. Nun haben Sie das Gegenteil getan.

Das stimmt. Ich habe gerade mein fünftes Buch beendet, in dem ich mich mit der Vergangenheit meines Vaters beschäftige, der verstorben ist, als ich acht Jahre alt war. Meine Mutter hat nie von ihm gesprochen und ich musste sehr weit zurückgehen, um Dinge über sein Leben herauszufinden. Meine Mutter war so beschäftigt, ihre eigenen Erlebnisse zu verarbeiten, sie konnte oder wollte nicht über diese Dinge sprechen. Vielleicht hat sie auch versucht, mich zu schützen, aber nun habe ich mich doch entschieden, mehr zu erfahren. Als sie sehr alt war, habe ich sie gebeten, mir von sich zu erzählen, aber sie hat mir diese Bitte nie erfüllt. Ich habe dennoch nicht aufgegeben, viel herausgefunden und aufgeschrieben. Meine Bücher sind alle autobiografisch.



«Wenn man mit einer Mutter lebt, die einem nichts erzählt, ist es schwer, eine eigene Identität aufzubauen.»

Somit waren die Recherchen, die Sie über Ihre Mutter gemacht haben, auch ein Weg, besser mit der eigenen Situation umgehen zu können?
Ja, denn ich war teilweise sehr wütend auf meine Mutter. Für mich, die ich mit ihr alleine gelebt habe, waren ihr Schweigen, ihre Trauer und diese Stille oft sehr frustrierend und fast unerträglich. Wenn man mit einer Mutter lebt, die einem nichts erzählt, ist es schwer, eine eigene Identität aufzubauen. Um zu begreifen, was wirklich mit ihr passierte und wer ich eigentlich bin, musste ich weit in die Vergangenheit gehen und mit vielen Menschen sprechen.

Glauben Sie, Ihre heutige Tätigkeit als Schriftstellerin und die damit verbundenen Nachforschungen wären im Sinne Ihrer Mutter?

Ich bin nicht sicher. Manchmal denke ich, dass es meine Rache ist (lacht). Auf diese Art zeige ich meiner Mutter, dass ich meinen eigenen Weg gehe – ohne ihre Erlaubnis. Aber ich denke, dass sie sicher stolz darauf wäre, dass ich Erfolg mit dem Schreiben habe.

Haben Sie viele Bekannte in Ihrer Generation, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie Sie?

Fast allen Gleichaltrigen, mit denen ich aufwuchs, ging es wie mir. Viele haben die Entscheidung ihrer Eltern akzeptiert und wissen wenig über die Vergangenheit ihrer Familien. Hinzu kommt, dass es uns immer peinlich war, Kinder von Holocaust-Überlebenden zu sein. Wir fühlten uns – gerade im Vergleich zu den Zionisten, die nach Israel kamen, um das Land aufzubauen – sehr schwach. Die Israeli wollten nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Image vom Jüdischsein kreieren. Dieses Image war für uns Kinder sehr attraktiv, wir wollten stark, tatkräftig und mutig sein – unsere Eltern aber waren gebrochen. Und so schämten wir uns teilweise sogar für unsere Herkunft. 


Sie haben auch viele Kontakte nach Deutschland. Kamen Sie dort auch in Kontakt mit Menschen Ihrer Generation?
Ja, das ist sehr interessant. Mittlerweile habe ich auch sehr gute Freunde, die Kinder von Nationalsozialisten sind – und ihre eigenen Probleme mit der Bewältigung ihrer familiären Vergangenheit haben. Auch sie leben in Familien, in denen niemand mit ihnen spricht. Auch sie versuchen bis heute zu verstehen, was mit ihren Eltern geschehen ist. Wir stellen uns die gleichen Fragen nach unserer Identität.

«Unsere Kinder können dafür sorgen, dass viele Dinge, die bisher totgeschwiegen wurden, nun thematisiert werden.»

Wie gehen Ihre Kinder, die Angehörigen der dritten Generation, mit diesen Fragen um?
Ich denke, sie haben eine grosse Chance, weil sie fragen und sprechen dürfen. Wir haben auch gefragt, aber immer mit dem Risiko, unsere Eltern zu verletzen und zurückgewiesen zu werden. Unsere Kinder wachsen auch ohne diese Scham auf. Sie sind im Gegenteil sehr stolz auf ihre Familien, die den Holocaust überlebt und sich in Israel eine neue Existenz aufgebaut haben. Meine Tochter war sehr überrascht darüber, wie wenig ich von meiner Mutter wusste, und sie brachte mich schliesslich dazu, den Dingen auf den Grund zu gehen. Unsere Kinder können dafür sorgen, dass viele Dinge, die bisher totgeschwiegen wurden, nun thematisiert werden.

Haben Sie bereits Pläne für ein sechstes Buch?

Ich schreibe bereits an einer Koproduktion, zusammen mit einem palästinensischen Produzenten. Wir haben beschlossen, aufzuhören, von der Vergangenheit zu schreiben, sondern etwas für die Zukunft zu tun. Wir teilen Erinnerungen und Erfahrungen und schreiben zusammen an einem Buch. Ich verstehe nun die andere Seite viel besser, die anderen Opfer – auch wenn ich mich selbst als solches sehe. Dennoch sind wir grundverschieden: Ich gehe jede Woche zum Arzt, um sicherzugehen, dass ich nicht sterbe. Er hingegen hat keine Angst vor dem Tod, er möchte für ein besseres Leben für seine Kinder kämpfen und wäre bereit, dafür zu sterben. Die Mentalitäten sind grundverschieden und es gibt kein Richtig oder Falsch. Je mehr ich mich damit beschäftige, umso überzeugter bin ich davon, dass wir den Konflikt nicht alleine lösen können, dies kann nur mit Hilfe von aussen geschehen.

Lizzie Doron: Es war einmal eine Familie. dtv, München 2009