Valerie Wendenburg

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«Menschen werden gehandelt wie Kaffee oder Waffen»

Das Interview ist am 20. Januar 2023 im jüdischen Wochenmagazin tachles erschienen.

 

Sie leben als Anwalt in den USA und leiten parallel dazu die Liechtenstein Foundation for State Governance. In welchen Bereichen ist die Foundation tätig?
Die Foundation wurde als gemeinnützige Stiftung im Jahr 2009 vom Fürsten von Liechtenstein ins Leben gerufen mit dem ursprünglichen Ziel, ein Wissensinstrumentarium an Entwicklungsländer zu vermitteln. Es geht darum, Tools zu entwickeln und weiterzugeben, mit denen die Verantwortlichen der betroffenen Länder dort selbst agieren können. In den letzten Jahren hat sich der Wirkungsbereich der Stiftung auch in Richtung Mediation in Kriegszonen wie Libyen, Syrien oder im Jemen entwickelt. Sie sind seit Jahren im Einsatz, wenn es darum geht, vermisste Personen in Kriegsgebieten zu finden.

Einen konkreten Fall in Syrien schildern Sie in Ihrem Buch «Zwanzig Tage». Warum gelangen die betroffenen Menschen an Sie?
Die Tätigkeit der Stiftung in Entwicklungsländern und Kriegsgebieten ermöglicht vertiefte Kontakte zu Regierung und Opposition in den jeweiligen Ländern. Wenn es um die Suche nach vermissten Personen geht, ist die Stiftung in der Regel nicht die erste Ansprechpartei. An uns wenden sich die Angehörigen, wenn sie von offizieller Stelle keine Hilfe erfahren. Wenn zum Beispiel ein Engländer in Syrien vermisst wird, spricht die Familie zuerst mit der Regierung und der Botschaft. In Kriegsgebieten sind diese aber teilweise gar nicht mehr aktiv. Dann wird der Kontakt zu befreundeten Botschaften gesucht. Meist stossen die Menschen dort aber an eine Mauer. Denn das Geschäft mit Geiseln ist keines, bei dem man einfach so anfragt und um die Rückgabe der Gekidnappten bittet. Irgendwann kommt dann die Regierung oder auch die Familie auf uns zu und fragt, ob wir eine Ahnung hätten, wo die gesuchte Person sich befinden könnte und ob diese noch am Leben sei. Wenn dem so ist, gilt es natürlich herauszufinden, zu welchen Konditionen sie freigelassen werden kann.

Was sind die ersten Schritte, um die gekidnappte Person zu finden?
Zunächst überlegen wir, welche Kontakte zuverlässig mitteilen können, ob die Person lebt und wo die Geisel sich gerade befindet. Die Kidnapper sind ja nicht immer diejenigen, die die Person einige Wochen oder Monate später gefangen halten. Man muss eruieren, wer zuverlässige Informationen hat. Das Schwierige ist besonders im Nahen Osten, dass die Welt dort von Verschwörungstheorien und Gerüchten lebt. Sehr vieles wird als Wahrheit wiedergegeben, weil man es irgendwo gehört hat. Das ist in diesem Bereich natürlich besonders verheerend. Die Freilassungsstrategie hängt stark davon ab, wer die Geisel hat. Nehmen wir Syrien: Wenn die Regierung oder Milizen, die der Regierung nahestehen, jemanden in Geiselhaft halten, dann wird das nie zugegeben, denn die Konsequenz wären internationale Sanktionen. Entweder die Geisel stirbt und kein Mensch erfährt je davon, oder es wird sofort verhandelt. Man erfährt in diesem Fall erst Minuten vor der Freilassung zuverlässig, wer die Geisel hält. In solchen Fällen muss man hypothetisch verhandeln. Bei islamistischen Terrorgruppen hingegen kommen die Informationen zur Geisel zusammen mit einem Preis relativ schnell.

Wichtig ist: Eine Geiselnahme ist immer ein Geschäft, es ist ein Tauschhandel. Paul, dessen Schicksal ich in meinem Buch beschreibe, war für die Entführer leichte Beute. Er hatte sich von der Türkei nach Syrien schleusen lassen und wurde sofort gekidnappt. Seine Abenteuerlust hatte für ihn verheerende Konsequenzen. Es ist schwer, sich das vorzustellen, aber in Kriegsgebieten werden Menschen, auch kleine Mädchen, für die Sexsklaverei genauso gehandelt wie Kaffee oder Heizöl, Drogen oder Waffen. Ich habe gelernt, solche Konflikte nicht moralistisch aus der sicheren und privilegierten Perspektive westlicher Demokratien zu beurteilen. Man kann sich nicht wirklich in eine andere Person versetzen, egal ob es sich um einen Regierungsvertreter oder einen Islamisten handelt, bevor man nicht selbst in dieser Welt gelebt hat. Syrien ist ein Land, das so zerstört ist und in dem solche Gewalt herrscht, dass es stumpfsinnig ist, mit kulturellen, politischen oder religiösen Vorurteilen zu kommen. Das geht vielleicht in der synthetischen Welt der sozialen Medien wie Facebook und Twitter, da kann man seine Ansichten in die Welt verkünden, aber bewirken tun sie nichts.

Apropos soziale Medien: Sie beschreiben im Buch sehr genau, dass es schwer ist, Familien zu überzeugen, dass öffentlichen Kampagnen kontraproduktiv sind. Warum?
Laute Kampagnen über soziale Medien oder Pressekonferenzen führen zu zwei für die Geiseln gefährlichen Konsequenzen: Je öffentlicher die Entführung wird und je mehr sich Politiker involvieren, desto höher wird die Lösegeldforderung, der Preis für die entführte Person. Zudem werden die Geiselnehmer verärgert, was in der Regel zu einer noch härteren Behandlung oder Folter der Geisel führt. Die Aussagen und Forderungen von Politikern, die den Preis ja nie selbst bezahlen, verschlechtern die Konditionen der Geisel direkt. Entführte Personen haben einen gewissen Wert, und wenn sie diesen nicht mehr erfüllen, werden sie eliminiert. Daher können wir die Familie oft davon überzeugen, Stillschweigen zu bewahren, aber die Politiker nicht. Sie wollen eine Pressekonferenz, an der sie betonen können, dass sie nicht ruhen werden, bis die entführte Person nach Hause kommt. All diese leeren Phrasen verschlimmern den Zustand der Geisel. Die meisten Politiker denken aber nicht an die Geisel, sondern an ihre eigenen Medienkampagnen für die nächsten Wahlen. Auch das liegt wahrscheinlich in der Natur der Sache. Das erforderliche Stillschweigen diszipliniert zu bewahren, ist daher sehr schwer.

Wird Ihre Arbeit von Politikern erschwert?
Wir hatten eine Situation in Südostasien mit einer amerikanischen Geisel. Wir haben der Familie gesagt: Bitte macht den Fall nicht öffentlich. Es war eine delikate Geschichte, der chinesische Geheimdienst hat uns bei der Verhandlung geholfen, die Israelis auch – und schliesslich hat ein amerikanischer Kongressabgeordneter, der von der Geiselnahme wusste, einfach auf eigene Faust angefangen, mit indischen Kollegen zu sprechen und Aspekte der geheimen Verhandlungen in einer Pressekonferenz publik zu machen. Wir haben Wochen gebraucht, um den enormen Schaden, den der Politiker verursacht hatte, rückgängig zu machen.

Für das Leid entführter Journalisten sind Ihrer Meinung nach auch Medienhäuser verantwortlich.
Ja, das ist ein kleines, unschönes Geheimnis mächtiger Mediengruppen, die hier eine grosse Verantwortung tragen. Wenn ihre eigenen Korrespondenten nicht in gefährliche Länder wie Syrien, Jemen, Iran oder Nordkorea reisen möchten oder können, dann berichten Korrespondenten aus benachbarten, sichereren Ländern. Doch die Berichterstattung ist nicht sehr verlässlich, wenn man nicht direkt vor Ort ist. Daher greifen Medienhäuser oft auf freiberufliche Journalisten zurück, oft sind das Studierende, die sich einen Namen als Kriegsjournalisten à la Marie Colvin oder Ryszard Kapuściński machen möchten. Sie verfolgen eine romantische Vision vom Kriegsjournalismus und nehmen Risiken auf sich, die absolut nicht vertretbar sind. Zudem sind sie oft komplett unvorbereitet: Wie verhalte ich mich in einer Kriegszone? Reise ich mit Handy oder besser ohne? Nehme ich Bargeld mit und wenn ja in welcher Währung? Gibt es einen Sicherheitskontakt und wie erreiche ich den? Das sind sehr entscheidende Fragen, von denen das Überleben abhängen kann. Die jungen Menschen werden überhaupt nicht geschult. Viele Journalisten in Syrien, die bis heute verschwunden sind, waren Freiberufler. Ich weiss aktuell von 16 westlichen Geiseln in Syrien, deren Namen nicht öffentlich gemacht wurden. Und ich kenne bei Weitem nicht alle. Manche sind schon seit 2012 dort und seit über zehn Jahren in Gefangenschaft. Je mehr Zeit vergeht, desto geringer ist die Chance, sie lebend aus dem Land zu holen. Leider gibt es in diesem Bereich wirklich sehr wenige Happy Ends.

Auch wenn Sie nach Geiseln suchen, werden die meisten Personen nicht lebend gefunden.
Ich habe erlebt, dass eine Person eine Woche vor meinem Treffen mit den Geiselnehmern hingerichtet wurde. Das lässt mich natürlich auch nicht unberührt. Ein Grund, dieses Buch zu schreiben und meine Funktion publik zu machen, war auch die Hoffnung, dass diese Anfragen an mich irgendwann zurückgehen.

Sie sagen, im Krieg sieht man die hässliche Seite der Menschen.
In vielen Situationen des Lebens ist es ja überraschend, dass Menschen, die leicht helfen könnten, dies schlicht nicht tun. Oft fehlen Empathie oder Interesse. Dann aber gibt es andere, die wirklich mutig sind und die einen Preis für ihr Engagement bezahlen. Das ist in jedem Krieg so. Während meiner Erfahrungen in Syrien war es markant, wie viele Personen grosse Risiken auf sich genommen haben, um zu helfen, oft ohne irgendeine Gegenleistung zu verlangen oder zu erwarten. Das war sehr inspirierend. Auch Reem und Samar sind solche Menschen.

Sie berichten im Buch über die Frauen.
Die beiden jungen Frauen sind 2014 als Teenager aus ihrem Dorf in Syrien verschleppt und in die Sexsklaverei verkauft worden. Als ich die Geisel Paul gesucht habe, wollte ich den Rädelsführer der Entführer in Dubai aufspüren. Die ältere der beiden Schwestern hat mir geholfen, ihn zu finden. Sie nahm dabei enormes persönliches Risiko auf sich, um mir bei der Lösung des Falls zu helfen. Tatsächlich leben die beiden Frauen heute mit neuer Identität in Westeuropa. Aber es sind leider nur die sehr seltenen Fälle, die gut ausgehen.

Ist es für Sie mit israelischer Herkunft gefährlich, in Ländern wie in Syrien zu ermitteln?
Mit Schweizer Pass geht es relativ gut, weil der Geburtsort dort nicht aufgeführt wird. Aber natürlich muss ich aufpassen und sicher sein, dass der Passbeamte keinen Zugang zu den biometrischen Daten im Pass hat. Ich versuche wenn möglich, zu grosse Risiken zu vermeiden. Sie sind in Israel geboren.

Ihr Vater gehörte zur dortigen Gründungsgeneration – ist er ein Vorbild?
Ja. Mein Vater wurde 1927 in Litauen geboren, er kam mit seinen Eltern 1930 nach Palästina, kämpfte im Unabhängigkeitskrieg in der Palmach-Eliteeinheit und gehörte zur Gründergeneration Israels. Er stand David Ben Gurion sehr nahe, war einer der jüngsten Diplomaten Israels. Er war für mich ein Vorbild, weil er eine konstruktive Ideologie verkörperte. So kompliziert die Entstehung Israels auch war, für ihn gab es immer den positiven Aufbaugedanken. Mein Vater war für mich der geborene Diplomat, denn er hatte die Fähigkeit, sich urteilsfrei mit Personen zu unterhalten, auch wenn er mit ihnen nicht einverstanden war. Wer Andersdenkende nicht akzeptiert, kann auch keine Kompromisse schliessen. Man kann Geiselnahmen nicht verhandeln, wenn man dem Geiselnehmer oder Mittelsmann nicht auf Augenhöhe begegnet. Das Schwierige an der Diplomatie heute ist, dass sie so laut und so performativ geworden ist. Es geht nicht mehr so sehr darum, was man erreicht, sondern vielmehr darum, wie man sich selbst inszeniert. Oft geht vergessen, dass die Welt auf den sozialen Medien nicht real ist. Die mediale Aufmerksamkeit schadet eher, auch bei den Verhandlungen um die Geiseln. In diesem Bereich gibt es noch viel zu tun, wenn man an die zahlreichen Vermissten denkt, deren Leben heute noch auf dem Spiel steht.

Daniel Levin: Zwanzig Tage – die atemlose Jagd nach einer vermissten Person im Nahen Osten. Aus dem amerikanischen Englisch von Milena Adam. Elster und Salis, Zürich 2023.