Valerie Wendenburg

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Nationale Identität ist Fiktion

Robert Menasse ist letzte Woche für seinen EU-Roman «Die Hauptstadt» mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden. Im Interview mit tachles spricht er über Geschichte, Zukunft und Bedeutung der europäischen Idee.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 20. Oktober 2017.

Ihr Roman ist genau 60 Jahre nach Entstehung der Römischen Verträge erschienen. In naher Zukunft wird sich zeigen, ob das Projekt Europa gelingt oder nicht. War das die Motivation zu ihrem Buch über die Europäische Union?
Ich habe mir die Frage gestellt, welches relevante Thema ich als Schriftsteller aus meiner Gegenwart erzählen kann. Mir ist klar geworden, dass das Bedeutsamste, was ich als Zeitgenosse miterlebe, eigentlich das europäische Einigungsprojekt ist. Noch nie in der Geschichte gab es die Situation, dass in einer Stadt die Rahmenbedingungen für einen ganzen Kontinent produziert werden – als bewusste Konsequenz aus historischen Erfahrungen. Bisher war jede politische Organisation allein eine Folge ökonomischer Interessen, Ausdruck von den Produktionsweisen einer Epoche. Zum ersten Mal in der Geschichte, nämlich nach den verheerenden Erfahrungen mit dem Nationalismus, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den grössten Menschheitsverbrechen geführt hat, wurde ein politisches System gegründet und entwickelt, das einen moralischen Grund hat: Die Basis des europäischen Einigungsprojekts sind die Menschenrechte. Das hat mich fasziniert, und ich denke, wir haben uns das bis- her viel zu wenig bewusst gemacht.

Der Gründungsmythos der EU war der Zivilisationsbruch von Auschwitz – ist das Gelingen des europäischen Projekts auch deshalb so wichtig?
Ganz genau. Innerhalb der nationalen Geschichtsschreibung wird an zahlreiche Ereignisse immer wieder erinnert. In der europäischen Geschichte hingegen wird eigentlich nichts in Erinnerung gerufen. Kaum jemand weiss doch heute noch, dass der erste Präsident der Europäischen Kommission, Walter Hallstein, seine Antrittsrede in Auschwitz gehalten hat. Dieses Faktum ist heute nahezu vergessen, es wäre aber ein wichtiger Bestandteil des Narrativs von EU-Europa. Hallsteins Erklärung dafür, weshalb er in Auschwitz gesprochen hat, ist bis heute gültig. Er hat gesagt: «Hier ist der Ort, wo der Nationalismus am radikalsten seine unmenschliche Logik gezeigt hat. Und gleichzeitig ist hier, an diesem Ort, die Bedeutung von nationaler Identität selbst zerstört worden.» Denn in Auschwitz war es egal, ob man Pole, Deutscher, Österreicher oder Spanier war. Und deshalb wurde, als Konsequenz dieser Erfahrung, ein nach-nationales Europa aufgebaut. Wes- halb wird nicht daran erinnert, und dadurch der Vernunftgrund der EU einsichtig gemacht? Stattdessen klatscht man mit beim Zombie-Tanz der Nationalisten.

Der Ökonom Alois Erhart macht in Ihrem Roman den Vorschlag, ausgerechnet in Auschwitz eine europäische Hauptstadt zu entwerfen. Als «Stadt der Zukunft» und «Stadt, die nie vergessen kann». Wie ernst ist es Ihnen mit dieser kühnen Idee?
Diese Idee scheint mit logisch, kühn und sinnvoll, wissend, dass sie nie Wirklichkeit werden wird. Sie ist für mich ein Beispiel dafür, dass das Vernünftige oft als das Verrückteste überhaupt erscheint. Wenn man sich vor Augen hält, dass kein europäisches Mitgliedsland jemals akzeptieren wird, dass die Hauptstadt eines anderen Staates Hauptstadt Europas wird, dann ist es doch logisch, dass Europa sich eine neue Hauptstadt bauen muss. Europa braucht eine Hauptstadt, das ist wichtig auch für die Identifikation mit dem Projekt. Man könnte eine ideale Stadt der Zukunft entwerfen, und durch ihren Bau zeigen, was ein geeintes Europa schaffen kann. Und diese Stadt müsste in Auschwitz sein, weil das der Ort ist, der nie vergessen kann und darf. Damit wären Europäische Geschichte und Zukunft an einem Ort verbunden. Es wäre geschichtslogisch und vernünftig und wird doch nie passieren. Aber ich möchte diese Idee als Modell, zusammen bildenden Künstlern und Architekten, in Form einer Installation realisieren. Es wäre nicht das erste Mal, dass europäischer Geist seine Realisierung nur in einem Museum findet.

«Die Region ist ein historisch gewachsener Kulturraum, viel älter als alle Nationen.»

Für wie realistisch halten Sie das Vorhaben, verschiedene Nationen in all ihrer Vielfalt unter einem Dach zu vereinen?
Man kann verschiedene Nationen unter einem Dach vereinen, wenn man sich von der Idee der nationalen Identität löst, die ja eigentlich eine Fiktion ist. Ich bin dem nationalen Pass nach ein Österreicher. Was soll das sein? Warum soll ich als Wiener, also als Städter, mehr gemeinsame Identität mit einem Tiroler Bergbauern haben als mit einem Menschen in Bratislava, das 40 Minuten von Wien entfernt ist, auch eine Stadt ist, aber die Hauptstadt einer anderen Nation? Die wirkliche Identität des Menschen ist doch verwurzelt in der Region, wobei grosse Städte auch als Regionen gesehen werden können. Die Region ist ein historisch gewachsener Kulturraum, viel älter als alle Nationen, und Regionen konnten von keiner Nation gebrochen werden. Es haben Nationalstaaten Grenzen quer durch Regionen gezogen, und dennoch hat die Region als identitätsstiftender Kulturraum überlebt. Ein gutes Beispiel ist Tirol. Ein Tiroler ist ein Tiroler, egal ob er Italiener oder Österreicher ist. Region ist Heimat, und Nation ist Fiktion. Nationen haben eine Kriminalgeschichte, wir müssen sie daher überwinden. Das Konzept der nationalen Identität hat sich heute erübrigt.

Viele Menschen haben Angst vor einem Abster- ben der Nationen. Der Historiker Heinrich August Winkler hat jüngst in der NZZ gesagt, Ihre Statements würden ungewollt Beihilfe zu nationalpopulistischen Ressentiments geben.
Ja, klar: So wie bekanntlich am Faschismus die Antifaschisten schuld waren, und die Juden am Antisemitismus.

Die zunehmende Nationalisierung Europas findet erst jetzt statt, da die letzten Überlebenden aussterben.
Richtig, die Generation, die die rauchenden Trümmer noch gesehen hat, die ist weg. Diese Generation hatte aus einem grossen Schock heraus radikale Konsequenzen ziehen können: Der Nationalismus hat den Kontinent in Schutt und Asche gelegt, also müssen wir, um das in Zukunft zu verhindern, den Nationalismus überwinden. Die Generation, die heute in politischer Verantwortung steht, hat das, was damals in Gang gesetzt wurde, geerbt, aber sie versteht es nicht mehr. Wenn diese Politiker sagen, dass Europa wichtig sei, dann meinen sie, dass ein gemeinsamer Markt lukrativer ist. Aber sonst wissen sie nur: Gewählt werden sie in nationalen Wahlen, also müssen sie die Fiktion von nationalen Interessen aufrecht erhalten. Der unproduktive und unauflösbare Widerspruch von nachnationaler Entwicklung und Verteidigung nationaler Interessen zeigt sich in einer Abfolge von Krisen, und sie glauben, man müsse diese Krisen irgendwie in einer Balance halten, das ist ihre ganze Europapolitik. Angela Merkel hat im Gegensatz zu Helmut Kohl oder François Mitterand die rauchenden Trümmer nicht erlebt, in deren Schutt die Geschichte des Nationalismus objektiv zu Ende ging. In ihrer Biographie war die Wiedervereinigung prägend, die nationale Wiedergeburt Deutschlands. Das ist eine ganz andere Form von Bewusstsein, da hat die europäische Idee keine Herzwurzel. Politik in Europa ohne europäische Vision ist bloss Wirtschaftspolitik auf Leichenbergen. Es ist so trübsinnig, dass man heute sogar als Pro-Europäer durchgeht, wenn man in Sonntagsreden «Europa» sagt, und von Montag bis Freitag nationale Interessen verteidigt. Im Geschichtslehrbuch jedes europäischen Schülers sollte der Satz von Jean Monnet stehen: «Die Verteidigung nationaler Interessen ist die Verteidigung der Interessen nationaler Eliten, in deren Buchhaltung die Interessen der Menschen ein Abschreibposten sind.»

«Wir erleben heute eine radikale Verballhornung der Idee von Demokratie.»

Wenn Sie entscheiden könnten: Wäre Israel ein Bestandteil der EU oder nicht? Wo würden Sie die Grenze ziehen?
Ich bin seit Jahren der Meinung, dass Israel Mitglied der EU werden müsste. Die Gründung Israels war die Konsequenz eines europäischenVerbrechens, nachhaltige Folge eines zutiefst europäischen Problems. Es muss daher nach Europa zurückgeholt werden. Gleichzeitig interessiert mich, ob es in Hinblick auf den wünschenswerten und überlebensnotwendigen Friedensprozess nicht doch produktive und positive Auswirkungen hätte, wenn 28 EU-Mitglieds­staaten Beistandspflicht hätten, wenn Israel Mitglied wäre. Ebenso bin ich auch der Meinung, dass perspektivisch alle nordafrikanischen Staaten EU-Mitglieder werden müssten. Der historische Kulturraum «Mare Nostrum» ist älter als alles, was danach durch Nationenbildung an Kulturräumen entstanden ist. Wenn die nordafrikanischen Staaten EU-Mitglieder wären, im Sinne der antiken Tradition, dann würde das europäische Verhältnis zu Afrika wieder konstruktiver werden, es könnte zudem die Kriminalgeschichte des europäischen Kolonialismus in Solidarität und kultureller wechselseitiger Bereicherung aufgehoben werden. Es würden sich auch ganz andere Lösungsmöglichkeiten hinsichtlich der Migrationsbewegungen, die zurzeit stattfinden, auftun.

Sehen Sie sich in Bezug auf Europas Zukunft eher als Optimist oder Pessimist?
Ich bin sehr pessimistisch. Die Renationalisierung entwickelt derzeit eine Stärke, die wieder radikal zerstörerisch werden kann. Und etwas in völliger Verblendung zu zerschlagen geht viel schneller, als etwas vernünftig aufzubauen. Aber ich bin zum Glück kein Hellseher.

Wie sehen Sie die Zukunft Europas für Minderheiten und speziell für jüdische Minderheiten?
Ich sehe eine sehr grosse Gefahr. Wir erleben heute nicht nur eine Re-Nationalisierung der europäischen Gesellschaften, sondern auch eine radikale Verballhornung der Idee von Demokratie. Das ist noch viel dramatischer. Die grosse Zivilisationsleistung der europäischen Demokratie war die Durchsetzung der Idee der repräsentativen Demokratie. Mit der Renationalisierung Europas wird auch immer stärker der Wunsch nach mehr plebiszitärer Demokratie laut. Das ist wirklich extrem gefährlich, denn in einer plebiszitären Demokratie wer- den Minderheiten nicht geschützt. Da gilt nur: Die Mehrheit entscheidet. In der repräsentativen Demokratie hingegen muss immer versucht wer- den, Kompromisse zu finden. Gesellschaftliche Minderheiten können niemals Volksabstimmungen oder Referenden gewinnen – und sie stehen demnach vor einer Bedrohung. Zudem geht das Gefühl dafür verloren, dass in Gesellschaften ein Konsens gefunden werden muss. Demokratie muss auch Interessenausgleich sein, der Rechtsschutz für Minderheiten darf nicht zerschlagen werden. Die allergrösste Gefahr sehe ich daher in der Aushöhlung der repräsentativen Demokratie. Der grosse Verfassungsrechtler Hans Kelsen hat geschrieben: «Die Idee der Demokratie setzt den gebildeten Citoyen voraus. Dieser wird nie in der Mehrheit sein. Demokratie muss sich daher immer im Aus- gleich mit der Minderheit erweisen.» Aber was die Rechten unter Demokratie verstehen, ist immer die Eliminierung der Minderheiten.

Robert Menasse. Die Hauptstadt. Suhrkamp Verlag 2016