Valerie Wendenburg

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Offener Dialog statt ideologische Konfrontation

Der Artikel ist am 19. Juli 2024 im Jüdischen Wochenmagazin tachles erschienen.

Es liest sich ein bisschen wie ein Who’s who der jüdischen Gemeinschaft der Schweiz: Mehr als 230 Personen haben das Statement des neu gegründeten Forums Gescher in den ersten Tagen nach der Gründung unterzeichnet. Darunter sind unter anderem alt Bundesrätin Ruth Dreifuss, die Direktorin des Bundesamt für Gesundheit Anne Lévy, die Co-Präsidentin der Jüdischen Gemeinde Bern Dalia Schipper sowie die Co-Präsidentinnen der Zürcher Jüdischen Liberalen Gemeinde Brigitta Rotach und Judith Hollenweger Haskell. Auch die Präsidentin von Omanut Karen Roth oder der Co-Präsident der Plattform der liberalen Juden der Schweiz Peter Jossi haben das Statement unterschrieben. Es setzt sich vor allem für liberale, demokratische und humanistische Werte ein, die es auch im Hinblick auf die Situation im Nahen Osten zu verteidigen gilt.

Bild: Gerd Altmann/geralt (Pixabay)

 

Ressentiments entgegenwirken
Zwei der Gründerinnen des Forum Gescher haben mit tachles gesprochen. Dana Landau sagt auf die Frage nach ihrer Motivation: «Die Sorge um liberale, demokratische und humanistische Werte in Israel beschäftigt uns schon länger. Unsere Motivation ist aber durch das grausame Hamas-Attentat am 7. Oktober und die darauf folgenden Ereignisse in den Vordergrund gerückt. Wir sind besorgt über die schreckliche Gewaltspirale und fragen uns, ob Israel mit dieser Regierung in guten Händen ist.» Sie betont im Gespräch, dass sie das Schicksal der Geiseln ebenso wie das Leid der Opfer in Gaza beschäftige. «Zudem betrachten wir mit Besorgnis, dass die Eskalation im Nahen Osten auch in der Schweiz zu einem Anstieg von  antisemitischen und antimuslimischen Ressentiments und Pauschalisierungen führt. Dem möchten wir entgegenwirken.»

Die Gruppe bilde sich nicht ein, dass sie den Nahost-Konflikt lösen könne. «Doch möchten wir versuchen, im Kleinen zu einer besseren Situation in der Region beizutragen. Wir möchten Räume für Initiativen schaffen, die das Gemeinsame und Verbindende betonen und zusammen nach Lösungen suchen», so Dana Landau. Und Timrah Schmutz konkretisiert: «Wir planen neben informellen Begegnungen auch grössere öffentliche Anlässe mit Personen aus der Zivilgesellschaft in Israel, die ihre Perspektive in die Schweiz tragen.»

Für die universelle Menschlichkeit
Gescher definiert sich als Gruppierung für «jüdische Menschen in der Schweiz», die sich «grosse Sorgen um die Situation im Nahen Osten» machen und sich daher für den Dialog, die Zusammenarbeit und die Vision einer gerechten und friedlichen Zukunft für alle Israelis und Palästinenserinnen und Palästinenser einsetzen.

«Gescher» bedeutet «Brücke» auf Hebräisch. Der Name der Gruppe steht somit für das Bauen von Brücken. Ziel ist es, Verbindungen zwischen Menschen innerhalb und ausserhalb der jüdischen Gemeinschaft oder zwischen der Schweiz und dem Nahen Osten zu schaffen. Kurz: zwischen Menschen mit verschiedenen Erfahrungen und Ansichten. In den vergangenen Tagen hat Gescher viel Zuspruch erhalten. Landau und Schmutz betonen, dass viele jüdische Personen in der Schweiz die Initiative sehr wichtig fänden und sich über das Engagement freuen würden. Das Forum habe im Vorfeld mit Menschen aus verschiedenen jüdischen Gemeinden gesprochen und sei auch mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund in gutem und regelmässigem Austausch.

Timrah Schmutz sagt: «Es ist uns ein Anliegen, uns für Frieden und Menschenrechte sowie für die universelle Menschlichkeit einzusetzen. Pro Israel zu sein bedeutet nicht, gegen Palästinenserinnen und Palästinenser zu sein. Viele jüdische Personen in der Schweiz haben Empathie sowohl mit den israelischen Geiseln und den Menschen in Israel als auch mit der Zivilbevölkerung in Gaza. Diese humanistischen Werte sind auch im Judentum verankert.»

Kein Widerspruch
Neben Dana Landau und Timrah Schmutz gehören Tomer Barnea, Orna Christoph, Deborah Cohen, Clara Richard Gostynski, Tiziana Jäggi, Dina Pomeranz und Adina Rom zum Gescher-Team. Auf der Website heisst es: «Viele von uns haben Verwandte und Freunde in Israel oder haben selbst dort gelebt. Wir sind von der Situation seit dem brutalen Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 und vom Schicksal der israelischen Geiseln schwer betroffen.» Gleichzeitig seien sie aber auch «tief besorgt» über das unermessliche Leid der Zivilbevölkerung in Gaza, die Intensivierung der Besatzung im Westjordanland und die zunehmende Abkehr von demokratischen Grundwerten in Israel. Auf die Frage, weshalb sie das Forum neu gegründet und sich nicht innerhalb einer der zahlreichen bereits bestehenden jüdischen Organisationen organisiert haben, sagt Dana Landau: «Wir sehen unsere Rolle als komplementär zur wichtigen Arbeit von bereits existierenden jüdischen Institutionen. Wir sind mit vielen von ihnen bereits im aktiven Austausch und freuen uns auch über zukünftige Zusammenarbeit.»

Dass das neue Forum aufgrund dieser Aussagen zum Teil auch kritisch gesehen wird, zeigen Reaktionen in Mails an die Redaktion jüdischer Chat-Gruppen. Es besteht offensichtlich die Sorge darüber, dass das Forum offen Kritik an der israelischen Regierung äussert. Dana Landau betont, dass die grosse Sorge über Antisemitismus nicht im Widerspruch zur Sorge darüber stehe, was die israelische Regierung tut: «Viele sind gleichzeitig tief besorgt über den steigenden Antisemitismus und über den Kurs der israelischen Regierung». Und Schmutz ergänzt: «Die vielen positiven Reaktionen, die wir erhalten, geben uns das Gefühl, dass viele jüdische Menschen unsere Sorgen teilen.»