Valerie Wendenburg

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Rettung jüdischer Kinder

Der «Gerechte unter den Völkern» Sebastian Steiger rettete im Zweiten Weltkrieg rund 100 jüdische Kinder vor der Deportation und wäre nun 100 Jahre alt geworden. 

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 16. November 2018.

Der Lehrer und Mitarbeiter der Kinderhilfe des Roten Kreuzes Sebastian Steiger wäre am 14. Oktober 100 Jahre alt geworden – Grund genug, 80 Jahre nach den Novemberpogromen an den Mann zu erinnern, der während des Zweiten Weltkriegs zusammen mit anderen Schweizern rund 100 jüdische Kinder zwischen fünf und 16 Jahren im Schloss La Hille im französischen Montégut-Plantaurel betreute und vor dem Tod rettete. Geboren in Oltingen, wuchs Steiger als Sohn des reformierten Pfarrers Walther Steiger mit vier Geschwistern auf. Die Familie zog später nach Binningen (BL). Während seiner Ausbildung am Heilpädagogischen Seminar in Zürich lernte er jüdische Flüchtlinge kennen, die bei seinem Vater Schutz suchten – und auch bekamen, wie Steiger anlässlich seines 90. Geburtstags gegenüber tachles berichtete. Die Schweizer Flüchtlingspolitik belastete ihn: «Ich hatte das Gefühl, ich würde auf einem riesigen, sicheren Dampfer leben. Es kam mir vor, als würden um uns herum zahlreiche kleine Schiffe in Not schwimmen, denen unser Dampfer nicht hilft. Mit der Aussage ‹das Boot ist voll› konnte ich angesichts der Not leidenden Menschen nicht leben.» 

Die Kinder von Schloss La Hille 

Und so suchte der junge Lehrer im August 1943 das Genfer Büro des Schweizerischen Roten Kreuzes, Abteilung Kinderhilfe, auf. Von dort reiste er ins französische Montégut-Plantaurel zum Schloss La Hille. Denn dort, nahe den Pyrenäen, so erfuhr Steiger, wurden in dem zuvor unbewohnten Schloss etwa 100 jüdische Kinder versteckt, die ihre Eltern verloren hatten. Sebastian Steiger setzte sich mit seinen Kollegen während zwei Jahren rund um die Uhr für die Kinder ein. «Ich versuchte, ihnen die Lebensfreude wiederzugeben», erinnerte sich Steiger, «ich verarztete sie und kümmerte mich um diejenigen, die psychische Probleme hatten». Anfangs sei die Aufgabe nicht immer leicht gewesen, da die Kinder vollkommen verwildert gewesen seien, so Steiger. Aber er sorgte sich Tag und Nacht um sie, besonders um die «Kleinen», die auf seinen unermüdlichen Einsatz mit Liebe, Zuneigung und Respekt reagierten. In seinem Buch «Die Kinder von Schloss La Hille» (Brunnen-Verlag, Basel 1992), das Ende 2017 in den USA auch ins Englische übersetzt worden ist, berichtet er eindrücklich von der Zeit der Angst, des Hungers und der täglichen Bedrohung durch die Nationalsozialisten, die «Frankreich wie mit einem Rechen nach Juden durchkämmten». Im Gespräch mit tachles beschrieb er die Verstecke für die Kinder, die er unter Einsatz seines eigenen Lebens rettete – auch Jahrzehnte später lief ihm während der Schilderungen noch ein Schauer über den Rücken. 

Sieg der Menschlichkeit 

Als er 1945 nach Basel zurückkam, sei er «trostlos» gewesen. Sebastian Steiger vermisste die Kinder, von denen viele bis zu seinem Tod 2012 in engem Kontakt mit ihm blieben. Zurück in der Schweiz, beendete Steiger seine Studien, er arbeitete als Lehrer in Basel, heiratete und gründete seine eigene Familie. Über seine Erlebnisse im Schloss La Hille berichtete Steiger über Jahre hinweg an Schweizer Schulen, er machte es sich zudem zur Aufgabe, die Kinder über die jüdische Kultur aufzuklären. Im Jahr 1982 wurde er pensioniert und schrieb anschliessend an seinem Buch über die Kinder von Schloss La Hille. Inzwischen haben auch einige von ihnen wie Walter W. Reed oder Ruth Uzrad Bücher über die Zeit geschrieben und in ihnen an Sebastian Steiger und die Mitarbeiter vom Schweizer Roten Kreuz erinnert. 

«Ich versuchte, den Kindern die Lebensfreude wiederzugeben.»

Heute ist das Hotel Chateau de la Hille in Montégut-Plantaurel ein beliebtes Reisedomizil. In dem Dorf ist auch ein Museum zu besichtigen, in dem die Geschichte der Kinder von La Hille eindrücklich erzählt und dargestellt wird. Zudem erinnert eine Gedenktafel in der Nähe des Schlosses heute an das Schicksal der jüdischen Kinder. Dort ist unter anderem zu lesen: «Nach ihrer Ankunft im Schloss im Jahr 1941 lebten sie dort unter dem Schutz der wohlwollenden Einwohner der Gegend und mit der Unterstützung einer Gruppe junger Schweizer, der ‹Hilfe für Kinder› vom Roten Kreuz der Schweiz (…). Im Lauf seiner Geschichte hat das Schloss nie einen Kampf erlebt, aber in dieser Episode wurde es Zeuge eines Sieges der Menschlichkeit über die Barbarei.» Sebastian Steiger wurde für sein Engagement von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem mit einer Medaille als «Gerechter unter den Völkern» sowie mit einer Urkunde des Simon-Wiesenthal-Zentrums geehrt.