Valerie Wendenburg

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Schluss mit dem Schönewetterprogramm

Erschienen am 8. September 2023 in der jüdischen Wochenzeitung tachles.

Der Konflikt ist nicht neu. Seit vielen Jahren zieht es jüdisch-orthodoxe Touristen aus aller Welt zu Hunderten in den Schweizer Berge. In Davos gibt es speziell jüdische Hotels und Angebote für Orthodoxe, die im Sommer das Tourismusgeschäft im Ort ankurbeln. Neben diesem positiven Aspekt gibt es aber auch seit Jahren Differenzen zwischen orthodoxen jüdischen Gästen und den Einwohnern von Davos. Aus diesem Grund wurde seitens des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) ein Dialogprojekt ins Leben gerufen, das für gegenseitiges Verständnis zwischen Gästen und Einheimischen aufbauen soll. Nun ist dieses Vorhaben gescheitert: Reto Branschi, Direktor von Davos Klosters Tourismus, hat das vom SIG propagierte Dialogprojekt einseitig gestoppt.

Die Stimmung ist gekippt
Zu tachles sagt er auf Nachfrage: «Die Vermittlerinnen und Vermittler des Programms haben sich sehr eingesetzt. Ihnen danken wir herzlich. Leider wurden sie von einer Teilgruppe der orthodoxen jüdischen Gäste nicht gehört oder ignoriert. Diese Gruppe hat durch ihr Verhalten, welches den Gewohnheiten und teilweise auch den Gesetzen in Davos widerspricht, grossen Unmut von Einheimischen, Gastgebern und anderen Gästen auf sich gezogen.» Auf die Frage, wie er sich die aktuelle Eskalation erklärt, sagt Branschi: «Das Verhalten von einem Teil der orthodoxen, jüdischen Gäste ist leider sehr rücksichtslos und respektlos. Schon im Vorjahr gab es dazu sehr viele Meldungen und Beschwerden an die Destinationsorganisation. Vor etwa vier Wochen erschien dann ein Bericht in der Davoser Zeitung, der die Situation einseitig sehr beschönigte. Branschi habe sich daraufhin entschlossen, «das Problem in der Davoser Zeitung sachlich zu erläutern und klarzustellen, dass sich die Situation mitnichten verbessert hat.» Obwohl ich immer deutlich sagte, dass es sich bei den Fehlbaren keineswegs um alle jüdischen oder alle orthodoxen jüdischen Gäste handelt, sondern nur um einen Teil, hat man mir dann genau eine solche Generalisierung vorgeworfen.» Branschi räumt nun ein, dass man sich erneut nicht dem SIG zusammengesetzt und das Problem konstruktiv besprochen habe. Er sagt: «Ich bin zuversichtlich dass wir nun zusammen an neuen Lösungen arbeiten können.»

Foto: pixabay

 

SIG gibt sich konsterniert
Die Abbruch der Dialogbemühungen ist ein Eklat für den SIG, der sein Vermittlungsprogramm Likrat sehr propagiert hat und dies weiterhin tut. Zur Frage, warum Davos künftig auf die Vermittler, die seitens des SIG gestellt wurden, verzichtet, hat Jonathan Kreutner eine klare Meinung: «Ich denke, dass Davos Tourismus grundsätzlich nur wenig Begeisterung für ihre tausenden jüdischen, streng orthodoxen Gäste aufbringt. Auch Verständnis ist nur wenig vorhanden und genau dieses möchte Likrat Public fördern.» Es sei moniert worden, dass das Ziel, mehr gegenseitiges Verständnis bei Einheimischen und jüdischen Gästen zu schaffen, nicht realistisch sei. «Das entspricht nicht unserer Wahrnehmung» so Kreutner. «Dass sich hier aber Davos Tourismus als Organisation wenig bewegt hat in den letzten fünf Jahren müssen wir konsterniert zur Kenntnis nehmen». Seitdem es in Davos in Zusammenarbeit mit der lokalen Tourismusorganisation Destination Davos Klosters gestartet ist, wurden während der Hochsaison des jüdischen Tourismus zwei Vermittlerinnen und Vermittler in Davos und Umgebung eingesetzt. Ihre Aufgabe besteht darin, niederschweflig auf Einheimische wie auch auf jüdische Gäste zuzugehen, sie aufzuklären und als Ansprechpersonen zu fungieren. Niederschwellig und sowohl für Einheimische wie auch für jüdische Gäste. Das dieser Weg nicht die erzielt Wirkung gezeigt hat, wurde in den letzten Tagen deutlich. Warum aber sind die Vermittlungsversuche gescheitert?
Jonathan Kreutner sagt: «Hier sind wir mit unserer Einschätzung weit entfernt von Davos Tourismus. Aus unseren Erfahrungen und Rückmeldungen wissen wir, dass das Projekt Wirkung zeigt. Viele Davoserinnen und Davoser wissen mit den kulturellen Unterschieden besser umzugehen, sie verstehen auch mehr davon.» Auch viele jüdische Gäste seien direkter und in ihrer Sprache erreicht und besser über die lokalen Gepflogenheiten informiert worden. «Vor allem aber auch waren wir an zahlreichen Problemlösungen beteiligt und haben gerade so immer wieder etwas Dampf aus dem Spannungskessel gelassen. Das fällt jetzt weg». Warum es beim jüngsten Konflikt nicht gelungen ist, «den Dampf aus dem Kessel zu lassen» lässt Kreutner offen. Stellt sich die Frage, ob der SIG überhaupt die richtige Stelle ist, um die Probleme in Davos in den Griff zu bekommen.

Fehlende Kenntnisse der Gepflogenheiten
Ronnie Bernheim kennt Davos und die einheimische Bevölkerung gut und lange, er pflegt Freundschaften in der Stadt, in der er und seine Geschwister die Primarschule besuchten. Seit seiner Kindheit in den 1950er Jahren war er mit seinen Eltern und Geschwistern jedes Jahr in Davos, sein Bruder lebt mit seiner Frau seit mehreren Jahren fest dort. 

«Auch unter nicht orthodoxen Juden ist die inzwischen starke Präsenz der orthodoxen Juden ein Gesprächsthema.»

Er sagt: «Gefühlt und wohl auch effektiv ist die Anzahl orthodoxer Juden in Davos über die Jahre stets gestiegen. Auch unter nicht orthodoxen Juden ist die inzwischen starke Präsenz der orthodoxen Juden ein Gesprächsthema.» Früher seien die Orthodoxen aus dem Ausland primär aus Belgien gekommen, heute zusätzlich vor allem aus England, den USA und Israel. «Soweit ich beurteilen kann, sind es Gruppen mit religiös und historisch unterschiedlicher Verankerung und Ausrichtung, immer dem jeweiligen Rabbiner folgend.»
Er sagt, dass bereits in den 1980er und 1990er Jahren Orthodoxe aus dem Ausland nach Davos gekommen seien, die keine Kenntnisse über die bei uns normalen Gepflogenheiten hatten. «Dies wurde zumindest teilweise richtigerweise als respektlos empfunden», so Bernheim. «Die religiös bedingten Einschränkungen bezüglich des Essens in Restaurants waren in der Davoser Bevölkerung damals weitgehend unbekannt und das Konsumverhalten wurde schon damals kritisiert.»

Antisemitismusvorwürfe fehl am Platz
Damals kreiert Ronnie Bernheim als Präsident der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus GRA das damals erfolgreiche Programm «Davosalem», das auch in Arosa und St. Moritz zum Einsatz kam. «Ich meine, dass ein erneuertes ‚Davosalem‘ die Konfrontation wiederum mildern könnte. Dieses Projekt müsste sorgfältig und nicht im öffentlichen Raum vorbereitet werden, unabhängig von Bestrebungen, die zur Zeit in Davos besprochen werden.» Für Bernheim ist klar: «Davos und die Gäste werden wohl nicht herumkommen, durch gegenseitiges Verständnis ein unaufgeregtes Nebeneinander zu erlernen. Es gab Zeiten, da waren es sehr viele Holländer, dann Deutsche, die das Bild von Davos stark prägten und durch unangenehmes Auftreten kleiner Gruppen eine starke Anti-Stimmung erzeugt hatte. Die Gäste sind nun pluralistischer Herkunft, meist rücksichtsvoller, nicht dominant im Auftritt. Auch mit den orthodoxen jüdischen Gästen wird dies hoffentlich  mit der Zeit sich einpendeln.» Eines ist Ronnie Bernheim noch wichtig: «Ich wehre mich gegen Antisemitismusvorwürfe gegenüber der Davoser Bevölkerung. Sich gesellschaftlich normal und respektvoll verhaltende Juden werden in meiner Erfahrung nicht besser oder schlechter in Davos aufgenommen als andere Besucher.»

Die Spirale dreht sich weiter
Auch der Integrationsexperte Thomas Kessler beobachtet das Geschehen in Davos seit Jahren und hat eine klare Meinung zu den jüngsten Ereignissen, er sagt: «eine kleine Analyse zeigt schon, dass es eben nicht ‚die Juden‘ oder ‚Orthodoxen‘ sind, die aus Sicht der Einheimischen zu forsch und selbstbewusst auftreten. Jene aus Belgien und Grossbritannien sind genauso umgänglich und regelkonform wie andere Touristen auch.» Die Auffälligkeiten würden eine kleine Minderheit aus der israelischen Community betreffen, «die sich in den Ferien ebensowenig wie daheim engen irdischen Vorschriften unterwerfen will. In Israel selber wird die Diskussion darüber mindestens so heftig geführt; ich habe sie in Jerusalem schon in aller Eindrücklichkeit miterlebt». 

«Die Debatte in Davos schon sehr alt»

Aus der Sicht Kesslers gehe es also um eine sehr spezifische Aufklärungs- und Begleitarbeit für eine überschaubare Reisegruppe, die am besten schon vor der Hinreise einsetzten sollte. Er hat auch Ideen, wie diese Arbeit gelingen könnte: «Unsere Botschaft kann zusammen mit der Schweizer Community in Israel diese Vorarbeit übernehmen. In Davos selber wurde schon einiges ausprobiert, aber offenbar nicht kohärent genug, um nachhaltig zu wirken. Deshalb braucht es ein solides Gesamtmanagement.» Dazu brauche es auch keine neuen Stellen, sondern die Aktivierung der dafür vorgesehenen Strukturen und Mittel. «Aufklärung und Prävention sind keine Schönwetterprogramme, sondern mitunter anstrengende Dauerarbeit. Wenn sie funktionieren, wird aus einer Herausforderung eine grosse Chance». Erstaunlich ist aus Kesslers Sicht nicht der Konflikt selber: «Bemerkenswert ist der fehlende Erfolg aller Vermittlungs- und Präventionsbemühungen und die Problematisierung über die Medien. Damit dreht sich die Spirale weiter in die Breite der Spekulationen, Vorurteile und Gegenpositionen.» Normalerweise würden die Touristiker und Behörden ein diskretes Management und keine Negativpresse oder gar Reputationsschäden wollen. «Da die Debatte in Davos sehr alt ist und sich regelmässig wiederholt, stellt sich die Frage, wieso die lokalen und kantonalen Behörden nicht schon längst ein solides Aufklärungs- und Begleitmanagement geschaffen haben. Jeder Kanton verfügt über eine Integrationsstelle und über Bundesmittel für Vermittlungs- und Präventionsarbeit.»

SIG zieht eine Grenze
Ob der SIG die richtige Stelle ist, um zu schlichten? Die Stimmung scheint eher angespannt zu sein. Der SIG-Generalsekretär sagt: «In der jüdischen Gemeinschaft ist Irritation und Unmut zu spüren. Dass Davos Tourismus derart über jüdische Touristinnen und Touristen herzieht, alle in einen Topf wirft und damit eine ganz generelle Ablehnung zeigt, ist tatsächlich schwer zu verdauen. Wir ziehen hier klar eine Grenze und basieren unseres weiteres Vorgehen darauf, wie sich Davos Tourismus in Zukunft positionieren will. So geht das nicht.» Die formulierte «generelle Ablehnung» nehmen nicht alle so wahr. Historiker Georg Kreis sagt auf die Frage, was der Konflikt zwischen den ausländischen orthodoxen jüdischen Touristen und die damit verbundene Berichterstattung in den Medien für die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz bedeutet: «Natürlich birgt die kritische Berichterstattung über das gegen gängige Regeln verstossende Verhalten von Angehörigen einer bestimmte Gruppe von Feriengästen das Risiko, dass sie negative Stereotype begünstigt. Es wurde aber explizit darauf hingewiesen, dass sich nicht alle Angehörige dieser Gruppe in gleicher Weise verhalten und dass über Gespräche die Probleme entschärft werden können.» Noch scheinen die Positionen verhärtet und es scheint, als müssten neue Ideen und Konzepte her, anstatt an den Programmen festzuhalten, die bisher keinen Erfolg zeigten.