Valerie Wendenburg

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Schluss mit Wegschauen!

Erschienen am 8. April 2022 im jüdischen Wochenmagazin «tachles» .

Die Fotos von ermordeten Menschen rund um das ukrainische Butscha sorgen weltweit für Entsetzen. Berichte über Vergewaltigungen und Exekutionen lassen auf Kriegsverbrechen durch russische Soldaten schliessen. Zeitgleich erheben nun Schweizer Kulturschaffende ihre Stimme, indem sie sich in einem offenen Brief an den Bundesrat wenden.

Der Brief wurde vom Filmemacher Samir initiiert, der Autor Jonas Lüscher und der Publizist Roger de Weck wirkten an dem Schreiben mit. Die Liste der Unterzeichnenden ist lang: Unter ihnen sind namhafte Autoren wie Melinda Nadj Abonji, Lukas Bärfuss oder Adolf Muschg.

Eine besondere Verantwortung
Die Kulturschaffenden anerkennen zwar die Leistungen der Schweiz im Krieg. Sie habe «schnell und grosszügig» humanitäre Hilfe geleistet. Zudem sei es «richtig und wichtig» gewesen, die wirtschaftlichen Sanktionen zu übernehmen. Doch jetzt müsse der Bundesrat entschieden handeln – und «im Namen der Menschlichkeit und der Verteidigung der Demokratie»: «Sorgen Sie dafür, dass die Schweiz mit aller nötigen Kraft die Finanzierungsnetzwerke des Putin-Regimes austrocknet», heisst es. Kritisiert wird, dass die Schweiz die Sanktionsmassnahmen gegen die kremlnahen Oli-garchen nun «nur zaghaft umsetzt». Denn es sei völlig klar: «Als wichtige Finanzdrehscheibe steht die Schweiz besonders in der Verantwortung, dass dieser furchtbare Angriffskrieg nicht von hier aus mit finanziert wird.» Konkret werden drei Forderungen gestellt. So soll eine Taskforce eingesetzt werden, die komplexe Vermögensstrukturen aufdeckt. Zudem wird der Bundesrat aufgefordert, dafür zu sorgen, dass der russische Rohstoffhandel «nicht mehr ungestört über/via die Schweiz fliessen kann und damit die Kriegskassen Putins füllt». Und der Bundesrat soll daran arbeiten, dass die Schweiz so schnell wie möglich von russischen Öl- und Gasimporten unabhängig wird.

Glorifizierung der Schweizer Neutralität
Auch jüdische Kulturschaffende haben sich an der Aktion beteiligt. So auch der Drehbuchautor und Regisseur Micha Lewinsky. Er kritisiert, dass die Neutralität der Schweiz zurzeit glorifiziert werde. «Schon im Zweiten Weltkrieg wurden unter dem Deckmantel der Neutralität Geschäfte gemacht und nun gibt es wieder politische Kräfte in der Schweiz, die Geschäfte mit Russland weiterführen möchten, obwohl in der Ukraine Kriegsverbrechen geschehen.» Micha Lewinsky meint, es sei nun an der Zeit, eine klare Position zu beziehen, und er hofft, dass der moralische Appell im Bundesrat Gehör findet. «Es wäre doch erstrebenswerter, ein anständiges Land zu sein, als mit heruntergeschraubter Moral einen maximalen Profit aus der aktuellen Situation zu erlangen.» Auch Guy Bollag, Mitglied der Jüdischen Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina, hat den Brief unterzeichnet. Er sagt, als Teil der Zivilgesellschaft stehe er dafür ein, dass die Schweiz nicht auf Kosten von Demokratie und Menschlichkeit – sei dies im Krieg gegen die Ukraine oder bei anderen Verletzungen des Völker- und Menschenrechts – profitiere. Und er führt aus: «Erneut ertönt beim zögerlichen Handeln gegenüber den russischen Aggressoren das scheinheilige Lied der ‹Neutralität›, wie nach der Zurückweisung der jüdischen Flüchtlinge an Nazideutschland, wie beim schändlichen Umgang mit den nachrichtenlosen jüdischen Bankkonten und wie bei der aktuellen Bührle-Verehrung im neuen Zürcher Kunsthaus. ‹Tikun olam›, wer nicht aufsteht, bleibt nutzniessender Teil des Problems.» Der Schriftsteller Charles Lewinsky macht sich keine grossen Hoffnungen, dass dieser Aufruf viel bewirkt, er erachtet ihn aber doch für notwendig. Er sagt: «Am wichtigsten scheint mir, dass jeder mithilft, wo er kann. Nur wenige werden in der Lage sein, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen, aber man kann auch mit Geld helfen: Glückskette, Rotes Kreuz, Flüchtlingshilfe. Spenden, bis es wehtut!» Der Appell der Kulturschaffenden hat in den vergangenen Tagen in den Medien viel Gehör gefunden. Wie die Antwort des Bundesrats aussieht, ist noch offen.