Valerie Wendenburg

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«Schmidt ist mein Freund»

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 9. Dezember 2011.

Ihr neu erschienenes Buch «Schmidts Einsicht» beschreibt einen reiferen Albert Schmidt – einen Mann, den Ihre Leser schon als «Schmidtie» aus zwei weiteren Büchern kennen. Ist Ihr Protagonist mit weit über 70 Jahren erwachsen geworden?
Ja, die persönlichen Katastrophen, die Schmidt erleben musste, haben ihn reifen lassen.
Schmidt führt aber immer noch kein glückliches Leben, obgleich es ein Leben im Wohlstand ist. Er fragt sich, ob er überhaupt zu wahrer Liebe fähig ist, und wird von den Frauen immer wieder enttäuscht.

Die Art und Weise, wie Schmidt sein bisheriges Leben geführt hat, fällt – im fortgeschrittenen Alter – auf ihn zurück, er muss büssen und die Konsequenzen für sein Verhalten tragen. Auch in Dantes «Göttlicher Komödie» im «Inferno» müssen die Sünder aus Masslosigkeit, die Sünder aus Bosheit und die Sünder des Verrats Busse tun.

Nach dem Tod seiner Frau plagen Schmidt nun Probleme mit seiner Freundin Alice, der Exfrau seines früheren Kollegen, um deren Liebe er kämpfen muss.
Ja, er muss um die Liebe kämpfen, denn Eigensinn und auch verletzte Eitelkeit haben ihn in die Situation gebracht, in der er sich schliesslich befindet. Ich selbst bin auch nicht sicher, ob die Geschichte mit Schmidt und Alice gut ausgeht.

Die Frauen bereiten Schmidt grosse Sorgen. Seine geliebte Tochter Charlotte kommt am Ende des Buches bei 
einem Autounfall ums Leben – Sie 
schildern eine sehr komplizierte Vater-Tochter-Beziehung, unter der Schmidt stark leidet.
Wissen Sie, die Beziehung von Eltern zu ihren Kindern und umgekehrt halte ich für die komplexeste Art von Beziehung, die es gibt. Es ist ein Geschenk, wenn das Miteinander funktioniert, aber es ist keine Selbstverständlichkeit. Für mich war von Anfang an klar, dass Charlotte sterben musste, anders hätte die Geschichte der beiden nicht enden können.

Wird es ein weiteres Buch über Schmidt geben, in dem die Leser erfahren, ob er sein spätes Glück mit Alice findet?
Das weiss ich noch nicht. Es hängt davon ab, wie es Schmidt und mir in der näheren Zukunft ergeht. Man wird sehen, was mit ihm passiert – und inwiefern es mir möglich sein wird, noch weiter zu arbeiten und zu schreiben.

«Ich hasse Antisemitismus, in all seinen Facetten.»

Steht Ihnen Albert Schmidt nahe? Könnten Sie sich im realen Leben vorstellen, mit ihm befreundet zu sein?
Aber ich bin doch mit ihm befreundet! Ich hege grosse Sympathien für ihn, ich habe viele Jahre meines Lebens mit ihm verbracht.

Stört Sie nicht, dass Schmidt durchaus antisemitische Züge in sich trägt?
Wenn ich nur mit Menschen befreundet wäre, die keine antisemitischen Gedanken haben, könnte ich nur mit Juden 
befreundet sein – und vielleicht nicht einmal das, da auch einige von ihnen antisemitische Ansichten vertreten – und diese Vorstellung gefällt mir gar nicht … Aber im Ernst: Ich hasse Antisemitismus, in all seinen Facetten. Daher wäre es mir tatsächlich nicht möglich, mit einem 
Antisemiten befreundet zu sein.

Wie verhält es sich dann mit ihrer Sympathie für Schmidt?
Schmidts Verhalten ist im historischen Kontext zu sehen. Er ist vor allem opportunistisch eingestellt und reflektiert antisemitische Ansichten, die in den vierziger und fünfziger Jahren weit verbreitet waren. Damals war innerhalb der weissen angelsächsischen protestantischen Elite WASP, besonders an der Ostküste eine Art sozialer Antisemitismus «in».  Als ich im Jahr 1959 in meine Anwaltskanzlei eintrat, waren – so vermute ich – nahezu alle älteren Partner dort «Schmidt-Antisemiten» – im Umgang mit mir aber verhielten sie sich alle sehr freundlich und zuvorkommend. Das Bemerkenswerte an der Geschichte ist, dass alle Anwaltspartner, ebenso wie Schmidt, ihre antisemitische Einstellung im Laufe der Zeit hinter sich liessen.

Wie erklären Sie sich diesen Umstand?
Ereignisse wie der Eichmann-Prozess in Jerusalem führten dazu, dass Amerikaner wie auch Westeuropäer sich des Horrors des Holocaust bewusst wurden. Auch historische Bücher wie das monumentale Werk «Die Vernichtung der europäischen Juden» von Raul Hilberg aus dem Jahr 1961 öffneten vielen Menschen die Augen. Ein weiterer Grund war der israelische Erfolg im Sechstagekrieg. Auch die Menschenrechtsbewegung in den USA spielte eine wichtige Rolle: jegliche Form rassistischer und religiöser Diskriminierung war verpönt, wobei nicht vergessen werden darf, dass zuvor auch Katholiken stark von der WASP diskriminiert wurden. Ich möchte nicht sagen, dass es keine echten Antisemiten mehr in dem Milieu gibt, das ich beschreibe, aber eine antisemitische Einstellung ist gesellschaftlich nicht mehr so akzeptiert, wie sie es früher war.

Schmidt verspricht sich in den ersten Zeilen des Buches «Erlösung und Reinigung» durch die Wahl Barack Obamas zum amerikanischen Präsidenten. 
Teilen Sie diese Hoffnung mit ihm?
Absolut. Die Wahl von Obama war ein Meilenstein in der Geschichte der USA. Er hat ein bedrückendes Erbe von 
George W. Bush übernommen und es dennoch geschafft, in seiner bisherigen Amtszeit den Krieg gegen Irak zu beenden und auf ein Ende im Afghanistan-Krieg hinzusteuern. Auch mit seiner Gesundheitsreform wird Obama Geschichte schreiben. Ich bin aus vielen Gründen begeistert von Barack Obama und hoffe, dass er wiedergewählt werden wird.

«Jack Nicholson hat in keinem Film so gut gespielt wie in diesem.»

Sehen Sie sich selbst als Europäer oder als Amerikaner?
Ich bin Amerikaner.

Ihr erstes Buch über Schmidt wurde 2002 mit Jack Nicholson unter dem Titel «About Schmidt» verfilmt. Hat Ihnen der Film gefallen?
Sehr! Ich finde, Jack Nicholson hat in keinem Film so gut gespielt wie in diesem. Er verkörpert Albert Schmidt hervorragend, was den Film sehr sehenswert macht.

Geben Sie Ihre Bücher jemandem zu 
lesen, bevor der Verlag das Manuskript erhält?
Ja, meine Frau Anka Muhlstein ist meine erste Lektorin. Das heisst nicht, dass sie täglich liest, was ich schreibe, oder Dinge an meiner Arbeit verändert, aber ich bitte sie immer wieder darum, mir zu sagen, wenn Passagen langweilig sind. Wir ergänzen uns gut, leben zusammen in New York, schreiben beide und reisen auch ab und zu nach Europa, um unsere Kinder und Enkel zu besuchen. Das Buch «Venedig unter vier Augen» (2005) haben wir gemeinsam geschrieben.

Woran arbeiten Sie zurzeit?
Ich bin tatsächlich mitten in einem neuen Arbeitsprozess und sehne mich danach, nach meiner Lesereise in Deutschland und der Schweiz wieder in New York an meinem Schreibtisch sitzen zu können und zu schreiben. Woran ich arbeite, werde ich Ihnen aber nicht verraten – das mache ich grundsätzlich nicht. Es wäre so, als würde ich ein Parfum öffnen, 
bevor ich es verschenke.

Louis Begley: Schmidts Einsicht. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011