Valerie Wendenburg

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Schulalltag im Ausnahmezustand

Seit Mitte März sind alle Schulen in der Schweiz geschlossen – auch die jüdischen Schulen setzen auf strukturierten Online-Unterricht im Kinderzimmer.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 8. April 2020.

Diese Worte aus dem Munde eines Schülers schienen vor wenigen Wochen noch unvorstellbar: «Wir verstehen ja, dass wir nicht in die Schule gehen können. Aber lassen Sie uns nach den Frühlingsferien bitte wieder in die Schule!» Mit diesen Worten zitierte die «NZZ am Sonntag» jüngst einen Schüler der 6. Klasse aus Männedorf. Was ist geschehen? Aufgrund der Corona-Krise stufte der Bundesrat die Situation in der Schweiz als ausser- ordentliche Lage gemäss Epidemiengesetz ein. Der Präsenzunterricht in Schulen, Hochschulen und übrigen Ausbildungsstätten ist verboten. Dieses Verbot gilt bis zum 19. April. Ausgesprochen wurde das Verbot am 13. März als nationale Massnahme. Verordnet wurde das sogenannte «Homeschooling»: Fernunterricht, den es umzusetzen gilt. Wie gelingt dieses Projekt, das nicht nur für die Lehrer und Schüler, sondern auch für die Eltern wie aus dem Nichts kam? Nach drei Wochen kann nun in den Frühjahrsferien eine erste – positive – Bilanz gezogen werden. 

Unterricht live von daheim 

Direkt im Anschluss an den Entscheid vom 13. März arbeiteten schweizweit die Schulen mit Hochdruck daran, Systeme und Abläufe einzuführen, um die Schüler daheim zu unterrichten. Alle Beteiligten wurden völlig unvorbereitet in diesen Ausnahmezustand geschickt. Hinzu kommt, dass zahlreiche Eltern parallel zu dieser neuen Situation auch noch das Home-Office bewältigen müssen und alle Familienmitglieder plötzlich ohne feste Strukturen tagein tagaus gemeinsam zu Hause sind. Das Alltagsleben in der Schweiz hat sich durch den ausgerufenen Notstand über Nacht verändert – auch in der jüdischen Schule Noam in Zürich. Wie Kilian David Grütter, Rektor der Noam, gegenüber tachles sagt, sei das Notfall- und Krisenmanagement breit aufgestellt gewesen. So sei bereits am 26. Februar ein vierköpfiger Krisenstab gegründet worden. «Der überwiegend grosse Teil der Eltern kooperiert hervorragend.

«Das Alltagsleben in der Schweiz hat sich durch den ausgerufenen Notstand über Nacht verändert.»

In Notzeiten wie diesen ist auch seitens der Eltern Eigeninitiative, Flexibilität und Engagement gefordert, welche die Bestrebungen der Noam bestmöglich unterstützen.» Nach den ersten drei Wochen Fernunterricht zieht die Mutter zweier Kinder, die die Noam besuchen, eine sehr positive Bilanz. Ihr Sohn besucht die zweite, die Tochter die fünfte Klasse. «Ich finde, sowohl Kinder wie auch Lehrer meistern diese neue Situation wirklich toll», sagt sie. Die Lehrerinnen würden mit den Schülerinnen und Schülern auf eine strukturierte, aber auch sehr warme Art sprechen. Der Unterricht findet komplett online statt, was in vielen staatlichen Primarschulen nicht der Fall ist. Oftmals werden sonst die Unterlagen, mit denen die Kinder arbeiten müssen, per Post verschickt, die Noam aber bietet professionelles Homeschooling via Computer. «Wir Eltern sind daher nicht so stark gefordert, da unsere Kinder den Unterricht live von daheim erleben und so gut wie eben möglich selbst- ständig arbeiten», sagt die voll berufstätige Mutter, die mit ihrem Mann zusammen zur- zeit im Home-Office arbeitet. Sicher sei diese neue Art des Lernens eine grosse Umstellung für die Kinder, die ihre Freunde vermissen würden. Aber die Schülerinnen und Schüler hätten vor dem Unterricht täglich die Möglichkeit, untereinander zu sprechen und sich auszutauschen. «Ich bin sehr beeindruckt», so die Mutter, die der Noam Komplimente zur schnellen und strukturierten Umsetzung des Homeschooling macht. «Es läuft so gut es eben laufen kann, wenn man völlig ungeplant in so eine Situation hineingeht», sagt sie. Ihr sei aber auch klar, dass die Situation von Kind zu Kind unterschiedlich sei und die neuen Umstände durchaus auch Probleme aufwerfen könnten. In diesem Falle raten Experten dazu, das Kind zu ermutigen, nach Möglichkeit die Lehrperson um Hilfe zu bitten. Selbst für die meisten Lehrerinnen und Lehrer ist diese Art des Arbeitens noch neu, auch sie müssen erst noch Erfahrungen sammeln und sind dankbar für eine Rückmeldung. 

Strukturierter Online-Unterricht 

In Basel an der Jüdischen Primarschule Leo Adler (JPS) ist das Homeschooling nach Aus- sage des Schulleiters Rabbiner Mosche Baumel sehr gut angelaufen. Auch hier findet es online statt – und in Basel ist dies ebenfalls nicht flächendeckend an Primarschulen der Fall. «Wir haben das Projekt sofort an die Hand genommen, als der Bundesrat am Freitag, 13. März, den Entscheid der Schulschliessung gefällt hat. Am darauffolgenden Sonntag und Montag haben wir bereits eine Fortbildung für die Lehrer organisiert. Nach einer Testphase am Dienstag begann das Homeschooling bereits am Mittwoch.» Es habe von Anfang an super geklappt, die Eltern und Kinder seien bis jetzt sehr zufrieden, so der Rabbiner der Israelitischen Gemeinde Basel, dessen Kinder die Schule ebenfalls besuchen. Der Unter- richt beginnt um 8 Uhr mit dem Morgengebet, welches 15 bis 20 Minuten dauert. Darauf folgen eine Pause und die erste Schulstunde. Anschliessend erhalten die Kinder Aufgaben, die sie erarbeiten und nach deren Erledigung sie sich auch kurz zu Hause ausruhen können. Dann folgt erneut bis 13 Uhr Unterricht. Rabbiner Baumel sagt: «Bis zu den Ferien haben wir den Entschluss gefasst, dass die Schule nur bis 13 Uhr dauert, damit die Kinder sich an diese Form des Unterrichts gewöhnen können und nicht zu lange vor dem Computer sind. Wir werden sehen, ob wir – auch weil es jetzt so gut angelaufen ist – nach den Frühjahrsferien noch ein bis zwei Stunden dazulegen.» Die Schule sei bisher sehr zufrieden und auf einem guten Weg, die Kinder machen sehr gut mit. «Es macht ihnen sogar Spass, sie können in den kurzen Pausen miteinander chatten und reden und so Kontakt halten.» Doch ob sich das Projekt monatelang bewähren wird, dass vermag auch der Schulleiter der JPS nicht abzusehen, denn: «Irgendwann möchten die Kinder ihre Freunde wiedersehen.» 

Fast wie ein «normaler Schultag» 

Raymond Machenbaum ist nicht nur der Vizepräsident der JPS, er hat selbst ein Kind, das die Schule (5. Klasse) besucht. Auch er betont, dass der Unterricht via virtuelles Klassenzimmer seiner Tochter Spass mache und dass der Vormittag mittlerweile fast wie ein «normaler Schultag» ablaufe. Der Schulalltag laufe komplett ohne Hilfe der Eltern. «Wir müssen die Lehrer nicht ersetzen», so Machenbaum, der sogar berichtet, dass seine Tochter gerne noch mehr Unterricht hätte. Auch er findet: «Die täglich drei Lektionen Homeschooling wären durchaus etwas erweiterbar, um die Lernziele weiter zu verfolgen und den Kids noch mehr strukturierten, sinnvollen Alltag zu bieten.» Der Online-Unterricht sei, so der betroffene Vater, die beste Variante in der aktuellen Ausnahmesituation. «Das Team um den Schulleiter Rabbiner Baumel hat hier etwas Tolles aufgebaut.» Auch wenn klar sei, dass die Kinder ihre Freunde und Lehrer sehr vermissen würden. Die soziale Komponente ist also nicht zu unterschätzen, und es stellt sich die Frage, wie lange das Projekt Homeschooling durchgeführt werden kann. Noch ist nichts beschlossen, aber dass die Schulen nach den Frühjahrsferien wieder öffnen, scheint zurzeit wenig wahrscheinlich. Auch Bundesrat Alain Berset sagte am Wochenende in der «Sonntagszeitung», es sei «illusorisch, dass wir auf den 20. April viel ändern können». Lehrer, Schüler und Eltern sollten sich daher darauf einstellen, dass diese Phase nach Pessach und über die Frühjahrsferien hinaus noch etwas andauern werde. Die Familien, die das Homeschooling stark herausfordert und die den Zustand als zunehmend belastend empfinden, können die unterrichtsfreie Zeit jetzt während der Ferien nutzen, sich beraten zu lassen. Die Kantone bieten gerade zur Zeit der Corona-Krise mit ihren schulpsychologischen Diensten Unterstützung an.