Valerie Wendenburg

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Tragisches Schicksal einer serbischen Jüdin 

Mit ihrem autobiografischen Buch «Leben, um zu überleben» erinnert die heute 89-jährige Reli Alfandari Pardo an das Schicksal der jugoslawischen Juden im Zweiten Weltkrieg.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 5. Juli 2019.

Die sorglose und glückliche Kindheit von Reli Alfandari Pardo endete binnen einer Dreiviertel stunde. Sie erinnert sich in ihren Aufzeichnungen genau an den Tag, an dem die deutsche Wehr macht das jugoslawische Staatsgebiet angriff – ohne Ultimatum oder Kriegserklärung. Es war der 6. April 1941, ein Samstag, und tonnenweise Bomben fielen auf Belgrad, die Stadt, in der die damals Elfjährige mit ihren Eltern und ihrem Bruder lebte. Fast die Hälfte der Gebäude Belgrads wurde zerstört, mindestens 5000 Menschen fielen den Angriffen allein an diesem Wochenende zum Opfer. Der Alptraum für die serbischen Juden – und damit auch für Familie Pardo – begann. Zwei Jahre zuvor liessen die Eltern noch ein Familien Foto von sich und ihren Kindern machen, denen erklärt wurde, dass sie lächeln und «vornehm» aussehen müssten, denn: «Eines Tages werdet ihr verstehen, wie wichtig dieses Familienfoto ist. Es wird euch an eure Eltern und eure Kindheit erinnern.» Für das, was anschliessend mit ihrer Familie und ihr passiert, findet Reli Alfandari Pardo erst viele Jahre später Worte. Ende der 1980er Jahre schrieb die 1929 Geborene ihre Erinnerungen auf Französisch nieder. Sie wählte diese Sprache, da sie nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst in Frankreich gelebt hatte. Rund 40 Jahre nach dem Krieg versetzte sie sich während des Schreibens zurück in die Zeit ihrer Kindheit, während der sie im Krieg von ihren serbischen Verwandten versteckt wurde und als einziges Mitglied ihrer engsten Familie überlebt – stets in Angst und der Bedrohung aus gesetzt. Mit ihren eindrücklichen Erinnerungen aber lenkt sie den Blick nicht nur auf ihr eigenes Leben, sondern auch auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust auf dem Balkan. 

Die einzige Überlebende 

Im Herbst 1941 kam es zu Massenhinrichtungen in der Öffentlichkeit – Jüdinnen und Juden waren besonders oft Opfer dieser Erschiessungen. Reli Alfandari Pardo, damals zwölf Jahre jung, be schreibt detailliert die Selektion jüdischer Männer, aber ihr Vater und ihr Bruder blieben zu diesem Zeitpunkt vor der Ermordung verschont. Nach der Besatzung Belgrads traten zahlreiche antijüdische Gesetze in Kraft; bereits im April 1941 mussten sich die Juden registrieren lassen und in der Öffentlichkeit eine gelbe Binde oder einen gelben Stern tragen. Auf die Ausgrenzung folgte die Internierung jüdischer Menschen, und die Juden, die nicht geflohen waren und so wie die Familie Pardo in Serbien blieben, versuchten teilweise, bei serbischen Familien unterzutauchen. Dies gelang nur wenigen: Etwa 15 000 Juden (rund 90 Prozent der Juden, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Serbien gelebt hatten) fielen dem Holocaust zum Opfer. Das Kind Reli, das alleine in wechselnden Verstecken untergebracht wurde, hoffte in all ihrer Angst unentwegt auf ein Wiedersehen mit ihren Eltern und ihrem geliebten Bruder. Sie erwähnt das Schicksal ihrer engsten Angehörigen im Buch auch nach Ende des Krieges nicht, da sie offen sichtlich lange Zeit nicht wahrhaben wollte, dass sie die einzige Überlebende war. 

«Anne Frank war in einer ganz anderen Situation als ich, der Vergleich hinkt.»

In Serbien, wo das Buch von Reli Alfandari Pardo auch in Schulen gelesen wird, wird sie oft mit Anne Frank verglichen. Der Vergleich überzeugt aber kaum. Zum einen konnte sie sich – im Gegensatz zu Anne Frank – bis nach dem Ende des Krieges in Verstecken retten. Reli Alfandari Pardo überlebte. Zum anderen aber war ihre Situation insofern eine völlig andere, als dass sie losgelöst von ihrer Familie versteckt wurde, sich von dem Moment der Trennung an alleine durchschlagen musste und somit mit ihren Ängsten allein gelassen war. Sie hatte während dieser Zeit keine Menschen, denen sie wirklich vertrauen konnte, keinen Rückhalt, und immer nur die Hoffnung, dass die Eltern und der Bruder irgendwie überleben. Die Autorin, die Ende der 1940er Jahre nach Israel auswanderte, wo sie heute noch lebt, antwortet, als sie auf die von tachles gestellte Fragen nach dem Vergleich mit Anne Frank angesprochen wird: «Anne Frank war in einer ganz anderen Situation als ich, der Vergleich hinkt. Ich war allein, die Menschen um mich herum empfanden mich als Bedrohung und hätten es gern gesehen, wenn ich gestorben wäre. Ich meine das nicht als Vorwurf – es war verständlich in ihrer Situation. Anne Frank war mit ihrer Familie zusammen. Sie hatte die Probleme, die man in ihrem Alter mit den Eltern hat.» Damit verweist sie auf die alltäglichen Sorgen, die Anne Frank in ihrem Tagebuch teilweise schildert – und die in den Erinnerungen von Reli Alfandari Pardo keinerlei Raum haben, da für sie die nackte Existenzangst im Mittelpunkt stand. Sie war alleine, «die Bücher waren meine einzigen Freunde», erinnert sie sich.

«Eines Tages werdet ihr verstehen, wie wichtig dieses Familienfoto ist.»

Auch musste die kindliche Reli sich zeitweilig als eine aus Kroatien vertriebene Serbin ausgeben und sich in einer frei erfundenen Biografie zurecht finden. Dies, obgleich ihr ihr Jüdischsein wichtig war und die Worte ihres Vaters auch während des Krieges in ihr nachhallten: «… für die Leute, die dich mögen und achten, wird deine Religion nie ein Hindernis sein. Die Religion ist kein Hut, den man wechselt, wenn er einem nicht mehr steht. Du bist Jüdin, weil Mama und ich Juden sind und unsere Eltern und Grosseltern es auch waren. Deine Religion, das bist du.» Reli Alfan dari Pardo sehnte sich immer nach ihren Eltern und fühlte sich von ihnen zurückgelassen: «Mama, warum hast du mich nur hier gelassen?», fragt sie an einer Stelle. «Jetzt muss ich alleine fort und bin für das Leben der gesamten Familie verantwortlich.» 

Eine kindliche Sprache 

Gemeinsam ist dem «Tagebuch der Anne Frank» und dem Buch von Reli Alfandari Pardo die kindliche Sprache, die auch Pardo rückblickend beim Niederschreiben wiederfindet und die im Buch angewendet wird. Sie schrieb ihre Erinnerungen, indem sie sich wieder in das Kind, das junge Mädchen, das sie damals war, hineinversetzte. Sie nimmt also als erwachsene Frau die Perspektive des Kindes ein. Nicola Denis, die das Buch aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt hat, betont: «Es ist vielleicht eine besondere Herausforderung, wenn jemand sehr ‹schlicht› schreibt, denn Relis Bericht soll ja bestenfalls kindlich, aber auf keinen Fall einfältig klingen. Der Text ist rückblickend entstanden und hält die Perspektive der Elfjährigen konsequent durch, auch sonst zeigt er ein sehr gutes Gespür für Dramaturgie, aber natürlich keinen bewussten Stilwillen.» Zudem müsse betont werden, dass Französisch nicht ihre Muttersprache gewesen sei und ihr vermutlich manchmal die Mittel fehlten, etwas schnell auf den Punkt zu bringen. «Reli hat uns gesagt, dass sie den Text weder nach der Niederschrift noch nach dem Abtippen noch einmal gelesen hätte, sodass durchaus Wiederholungen und Redundanzen vorkommen könnten.» Dennoch aber sind die Erinnerungen spannend und zugleich feinfühlig geschrieben und wirken in jeder Zeile authentisch. 

Keine angemessene Erinnerungskultur 

Die Niederschrift ihrer Erlebnisse ist Reli Alfandari Pardo offensichtlich nicht leichtgefallen. Einen ersten Versuch, über ihre Erlebnisse zu schreiben, brach sie im Jahr 1959 ab. Erst vier Jahr zehnte nach dem Zweiten Weltkrieg war sie in der Lage, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Ihr Buch ist inzwischen auf Hebräisch, Englisch, Serbisch und Deutsch erschienen. In der deutschen Übersetzung ordnet Magdalena Saiger die Erinnerungen in ihrem Nachwort historisch ein und gibt vertiefte Einblicke in das Schicksal der serbischen Juden während der Schoah; sie liefert damit eine wertvolle Ergänzung zu den subjektiven Schilderungen der Autorin. Auch verweist sie auf die Situation im heutigen Serbien, wo sich die Schauplätze des Holocaust «in einem Zustand der Verwahrlosung und in weitgehender Vergessenheit befinden». Noch steht die offizielle Erinnerungskultur im Land ziemlich am Anfang; eine würdige Form des Umgangs mit den Orten, die auch im Buch vorkommen, scheint noch nicht gefunden. Auch daher sind die Erinnerungen von Reli Alfandari Pardo so wichtig, denn sie lenken den Blick auf Serbien und das Schicksal der vor dem Holocaust dort lebenden Juden, das bisher nur wenig im öffentlichen Interesse stand.

Reli Alfandari Pardo: Leben, um zu überleben. Arco Verlag, Wuppertal 2019