Valerie Wendenburg

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Verschiedene Arten von Schmerz

Die israelische Autorin Zeruya Shalev spricht über ihren neuen Roman, eine dritte Intifada in Israel und über zweite Chancen im Lebe.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 24. Dezember 2015

In Ihrem neuen Roman «Schmerz» beschreiben Sie sehr eindrücklich den Terror, dem die Menschen in Israel täglich zum Opfer fallen können. wie beurteilen Sie die Situation im Land aktuell?
Ich bedauere sehr, sagen zu müssen, dass wir in Israel zurzeit eine dritte Intifada erleben. Man kann nur hoffen, dass diese Phase des Terrors nicht so lange andauert wie beim letzten Mal. Wir können die anhaltenden Anschläge nicht ignorieren, sie geschehen fast jeden Tag, immer wieder. Es kann jeden treffen, die Menschen sind sehr verunsichert. Ich gehe nicht mehr ohne Pfefferspray aus dem Haus, solche Angst habe ich. Aufgrund der aktuellen Bedrohung werden auch meine Erinnerungen an den Selbstmordanschlag vor zehn Jahren wie- der sehr lebendig, bei dem ich selbst schwer verletzt wurde. Dies war damals einer der letzten Terroranschläge der zweiten Intifada. Es ist nicht einfach, das alles nun noch einmal zu erleben.

Zeruya Shalev (© Wikipedia)

Nachdem Sie das Attentat überlebt hatten, schlossen Sie sich der Bewegung «Woman Wage Peace» an. Was möchten Sie bewirken?
Zusammen mit anderen Frauen möchten wir uns für den Frieden im Land einsetzen. Wir haben vor der Residenz von Binyamin Netanyahu gezeltet und sind teils in Hungerstreik getreten – 50 Tage, so lange, wie auch der Gaza-Krieg gedauert hat. Auch wenn er seine Zusage an uns, ein Gespräch mit Mahmoud Abbas zu führen, noch nicht eingehalten hat, gebe ich nicht auf. Wir müssen vor allem Wege finden, die moderaten Stimmen im Land zu stärken. Nicht nur auf israelischer Seite. Die Mehrheit der Palästinenser möchte in Frieden leben, aber diese Menschen kommen kaum zu Wort, man muss ihnen die Möglichkeit geben, sich zu äussern und gehört zu werden. Noch habe die moderaten Palästinenser Angst, ihre Stimme zu erheben. Ich aber glaube fest an die Menschen, die Frieden wollen, und ich glaube an die Macht der Frauen.

«Anfangs habe ich von ruhigen, friedlichen Orten auf der Welt geträumt.»

Haben Sie nach dem Terroranschlag jemals daran gedacht, Jerusalem zu verlassen und woanders zu leben?
Nein. Anfangs habe ich von ruhigen, friedlichen Orten auf der Welt geträumt. Aber nachdem ich wieder gesund war, wurde mir klar, dass ich Israel niemals verlassen werde. Ich hoffe, dass auch meine Kinder bleiben. Meine Grosseltern sind nach Israel eingewandert, ich lebe hier schon in dritter Generation und ich habe keinerlei Identitätsfragen – für mich ist klar, dass ich nach Israel gehöre und dass der jüdische Staat existieren muss. Daher sehe ich es auch als meine Pflicht, zu bleiben.

Die Protagonisten in Ihren Büchern sind oft von innerer Unruhe angetrieben, gleichzeitig leben sie als Israeli in permanenter Angst von äusserer Bedrohung.
Das stimmt, wobei ich mit Iris, der Protagonistin in «Schmerz», erstmals eine Frau beschreibe, die mitten im Leben steht und die gut funktioniert. Als Frau, Mutter und Schulleiterin – alles geht seinen geregelten Gang. Iris möchte in ihrem Leben eigentlich gar nichts verändern. Aber sie ist ein Opfer der Realität in Israel. Sie verlor ihren Vater im Krieg, sie selbst wurde Opfer eines Terroranschlags. Deshalb ist sie aber nicht verbittert, denn sie sieht alles eher persönlich als politisch.

Weshalb kommt der Selbstmordattentäter im Buch überhaupt nicht vor?
Es geht in dem Buch gar nicht um den Täter – der Anschlag wird vielmehr wie ein Erlebnis innerhalb der Familie erlebt. Jeder klagt sich selbst an und lebt mit Schuldgefühlen und der Frage nach dem Sinn. Der eigentliche Täter bleibt völlig aussen vor. So habe ich das damals auch erlebt, auch wenn das Buch nicht autobiografisch ist. Ich habe gar nicht an den Selbstmordattentäter gedacht, das war zu viel für mich. Ich denke, so geht es vielen Menschen in Israel. Wir konzentrieren uns sehr stark auf die Familie, das Äussere und somit auch die Bedrohung werden einfach ausgeklammert. Diese Dinge sollen gar keinen Platz in unserem Leben bekommen.

«Es gibt solche Momente im Leben, die an Zauberei grenzen.»

Erst wollten Sie gar nicht über das Erlebnis des Attentats schreiben …
Ja, ich hatte mir das sogar selbst versprochen. Die politische Situation in Israel sollte nicht mein Schreiben bestimmen … sie bestimmt ja schon mein Leben. Aber dann passierte es einfach, ich konnte nicht widerstehen. Zuerst kam der Anschlag im Buch gar nicht vor, ich hatte ein ganz anderes Konzept im Kopf. Es ging allein um die Liebesgeschichte, darum, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu konfrontieren. Das Thema Schmerz war erst in einem anderen Zusammenhang gedacht – der Schmerz von Iris hat ja nicht allein mit dem Terroranschlag zu tun, sie erlebt ja zweierlei Arten von Schmerz.

In ihrer Verzweiflung sucht Iris den Schmerzarzt Eitan Rosen auf. Ihr Leben gerät aus den Fugen, als sie bemerkt, dass dieser Mann ihre grosse Jugendliebe ist.
Es gibt solche Momente im Leben, die an Zauberei grenzen. Eitan hat ihr so grosse Schmerzen bereitet, als er sie damals plötzlich verlassen hat – und nun soll gerade er sie von ihren Schmerzen erlösen. Iris unterscheidet in der Folge kaum zwischen den verschiedenen Arten von Schmerz, die ihr widerfahren sind. Es ist fast so, als ob ein Trauma in ihrem Leben auf ein anderes folgt.

Bekommen Iris und Eitan eine zweite Chance für ihre Liebe? Kann die Zeit zurückgedreht werden?
Ja und nein. Es geht nicht nur um die zweite Chance für die Liebe der beiden, die plötzlich greifbar ist. Eitan wiederzusehen, eröffnet Iris vor allem die Möglichkeit, ihre Schmerzen zu überwinden. Ich denke eher, Iris erhält eine zweite Chance für etwas ganz anderes. Sie kann endlich ihren Frieden mit der Vergangenheit machen. Denn auch ihr ist klar, dass man nicht einfach an einen Punkt in der Vergangenheit zurückkehren und alles ausblenden kann, was seither geschehen ist.

Sie hat ja inzwischen eine eigene Familie und zwei erwachsene Kinder. Die Tochter droht sich von der Familie zu entfernen.
Genau. Während Iris sich für eine Zeit in ihre alte Liebe stürzt und darüber nachdenkt, ihre Familie für Eitan zu verlassen, gerät ihre Tochter auf Abwege. Iris weiss, dass sie ihre Tochter kaum zurückgewinnen kann, wenn sie sich selbst von ihrem Mann und ihren Kindern abwendet und sich für ihre Jugendliebe entscheidet. Für Eitan aber ist Iris noch immer die junge Frau von damals – ohne Familie und Verpflichtungen. Mit den Sorgen um ihre Tochter fühlt sie sich allein gelassen, das ist ihre eigene Familiengeschichte, die mit Eitan nichts zu tun hat. Da treffen zwei Welten aufeinander, die beide zu ihr gehören. Wie Iris sich schliesslich entscheidet, bleibt ja auch bis zuletzt offen.

Zeruya Shalev: Schmerz. Piper Verlag, München 2015