Valerie Wendenburg

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Warum an der Neutralität festhalten?

Erschienen am 14. April 2022 im jüdischen Wochenmagazin «tachles» .

tachles: In der Schweiz wird zunehmend über die Neutralität der Schweiz debattiert. Die einen verlangen, daran festzuhalten, andere fordern weitere Sanktionen oder den Stopp sogenannter Kriegsfinanzierung durch den Kauf von Öl und Gas. Wie sehen Sie das?

Laurent Goetschel: Die Schweiz hat ihre Neutralität keineswegs aufgegeben, auch wenn der US-amerikanische Präsident Joe Biden das anders kommuniziert hat. Aus meiner Sicht ist es sehr wichtig, dass die Schweiz an ihrer Neutralität festhält. Man kann sehr wohl neutral sein und Sanktionen verhängen, das hat die Schweiz auch schon früher im Zusammenhang mit dem Krieg in Syrien und während der kriegerischen Auseinandersetzungen in der ehemaligen jugoslawischen Republik getan. Neutralität beinhaltet die Verpflichtung, im Kriegsfall – wie wir ihn jetzt in der Ukraine haben – nicht direkt militärisch einzugreifen und auch keine Partei mit Waffen zu versorgen. Daran hält sich die Schweiz nach wie vor. Neutralität heisst nicht, dass man inhaltlich wertneutral wäre oder keine Stellung beziehen würde. So hat die Schweiz den Einmarsch Russlands ganz klar als völkerrechtswidrig verurteilt und sie hat dann, nach einigen Überlegungen, die Sanktionen verhängt.

Warum sollte an der Neutralität festgehalten werden?
Neutrale können und sollten in Kriegszeiten eine andere Rolle spielen als andere Staaten, welche die eine oder andere Seite unterstützen. Indem Neutrale sich einer aktiveren Mitwirkung enthalten, können sie handkehrum eine friedensfördernde Leistung erbringen. Diesen Mut zum Anderssein, den erachte ich nach wie vor als sinnvoll für die Schweiz und für die Welt.

Die Schweiz war in der Ukraine seit einigen Jahren in den Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit, der humanitären Hilfe und der Friedensförderung aktiv. Diesem Engagement wird in der Öffentlichkeit allerdings kaum Aufmerksamkeit geschenkt.
Das stimmt. In einer Zeit der sehr schnell­lebigen und zum Teil sich auch zuspitzenden medialen Berichterstattung sind diese Leistungen inklusive der Neutralität schwieriger zu kommunizieren. Aber das ist ja kein Grund, nicht daran festzuhalten. Zudem war dies schon immer so: Früher, vor der Gründung der Uno, als Krieg noch legitim und nicht verboten war, galt Neutralität als feige und als mangelnde Bereitschaft, Stellung zu beziehen. Daraus hervor ging auch das Bedürfnis eines neutralen Landes, zu zeigen, auf welche Weise es sonst etwas Gutes für die Allgemeinheit leistet. Daraus resultiert auch der Einsatz der Schweiz im solidarischen, humanitären Bereich und in der Friedensförderung.

Die Schweiz verzichtet aktuell darauf, russische Diplomaten aus der Schweiz auszuweisen. Man dürfe die Spielregeln nicht ändern, sagte Bundespräsident Ignazio Cassis. Können Sie diese Haltung nachvollziehen?
Ja durchaus. Diplomaten auszuweisen kommt ja immer wieder vor. Dies hat aber mehr eine Symbolwirkung. Einen Effekt auf den Gang der Dinge hat die Ausweisung von Diplomaten aus meiner Sicht nicht. Anders wäre der Fall natürlich gelagert, wenn sich eine Person wirklich eines Vergehens schuldig gemacht hätte. Wenn man die Kommunikations-kanäle möglichst offenlassen will, ist eine Ausweisung aber nicht sinnvoll. Die Schweiz hat zudem seit dem Jahr 2009 ein Schutzmachtmandat für Russland in Georgien und für Georgien in Russland.

Die EU-Staaten haben das fünfte grosse Paket mit Russlandsanktionen auf den Weg gebracht. Grund für die neuen scharfen Sanktionen gegen Russland sind insbesondere die Gräueltaten in der Umgebung der Hauptstadt Kiew nach dem Abzug russischer Truppen. Die Schweiz tut sich schwer, mutmassliche Kriegsverbrechen als solche klar zu benennen.
Das handhabt ja nicht nur die Schweiz so. Es ist sicher zu schlimmen Taten gekommen. Ob diese sich wirklich als Kriegsverbrechen qualifizieren oder nicht, muss gemäss allen Regeln der Kunst ermittelt werden. Auch wenn viele Gründe dafür sprechen, braucht es eine Untersuchung, bevor die Taten wirklich als Völkermord bezeichnet werden können. Es ist aus meiner Sicht sehr wichtig, diese Begriffe zu schützen – auch im Sinne der weiteren Durchsetzung der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Ich denke, dass Länder, die sich etwas zurückhalten, ohne jemanden in Schutz zu nehmen, die tatsächliche Bestrafung, die dann vielleicht mal erfolgt, mehr unterstützen als diejenigen Länder, die bereits jetzt vorschnell Position beziehen.

Die Uno-Vollversammlung setzt die Mitgliedschaft Russlands im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen aus. Auch die NATO verschärft ihren Kurs und will nun mehr und auch schwere Waffen an die Ukraine liefern. Wie wird Russland darauf reagieren?
Ich glaube, solange die NATO in diesem Krieg nicht selber eingreift, wird Russland nicht darauf reagieren. Als die damalige Sowjetunion in Afghanistan war, haben die USA die Widerstandskämpfer auch mit Waffen ausgerüstet. Auch in den schlimmsten Phasen des Kalten Krieges gab es Stellvertreterkriege. Man muss sich einfach überlegen, welches die Aussichten sind. Einerseits ist es glasklar: Russland hat angegriffen und steht im Unrecht. Es gibt keinen Zweifel darüber und es ist absolut empörend, was hier passiert. Zugleich müssen sich die Ukrainer aber fragen, wohin sie in diesem Konflikt wollen und wie sie die Aussichten einschätzen. Mit mehr Waffen dauert der Konflikt länger und er wird mehr Menschenleben kosten. Wenn sie sich tatsächlich eine Kriegsgewinnchance ausrechnen, mag das sinnvoll sein. Wenn es aber nur um eine Frage der Zeit geht, erachte ich Durchhalteparolen aus ethischer Sicht als fragwürdig. Wichtig ist, dass die Ukrainer das weitere Vorgehen selber entscheiden. Von aussen geführte Kriegs-rhetorik, ohne selbst am Kampf beteiligt zu sein, erachte ich nicht als zielführend. In diesen Fällen ruft man zu Opfern auf, die man nicht selber bringt.

Die Schweiz hat im Zuge der Sanktionen so viele Gelder gesperrt wie kaum ein anderes Land weltweit. Sind wirtschaftliche Sanktionen ein wirksames Mittel bei Friedensverhandlungen?
Ein so grosses Land wie Russland wird aufgrund der wirtschaftlichen Sanktionen keinen Einbruch erleben, schon gar nicht kurz- oder mittelfristig. Wirtschaftssanktionen sind oft auch ein Mittel, um etwas zu tun, ohne militärisch einzugreifen. Es ist einerseits überraschend, wie schnell es dem Westen gelang, recht umfassende Sanktionen zu verhängen. Allerdings haben weltweit nur 38 Länder Wirtschaftssanktionen verhängt. Auch sind Erdgas und Erdöl bisher von den Sanktionen ausgenommen. Auch wurden zwar viele Banken sanktioniert, jedoch zwei davon ausgenommen, über welche der Rohstoffhandel weiterhin abgewickelt wird. Kurzfristig ist vor allem das mit den Sanktionen verbundene politische Signal richtig. Mit der Zeit werden aber auch wirtschaftliche Einbussen sichtbar werden.

Sechs Wochen nach dem Einmarsch in die Ukraine hat Russland erstmals grosse Verluste in der eigenen Truppe eingeräumt. Wie schätzen Sie diese Reaktion ein?
Der Krieg verläuft offensichtlich nicht so, wie Wladimir Putin ihn sich vorgestellt hat. Welches seine Vorstellungen genau waren, weiss ich allerdings auch nicht. Er wird sein Einverständnis zu einem Waffenstillstand erst geben, wenn er ein aus seiner Sicht positives Ergebnis vorweisen kann. Ich gehe davon aus, dass Russland relativ viel Ausdauer hat und den Konflikt fortsetzen wird. Dabei dürfte es auch zu weiteren schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen kommen. Jedoch denke ich nicht, dass Putin die NATO angreifen wird. Für die Ukraine wünsche ich mir, dass es möglichst schnell zu einer Einstellung der Feindseligkeiten kommt. Je mehr Waffen wir liefern, desto länger könnte der Konflikt jedoch andauern. Wenn die Ukraine aber weiter kämpfen will, können wir sie natürlich auch nicht daran hindern.

Wie schätzen Sie das Risiko ein, dass Putin zu einem späteren Zeitpunkt andere Länder wie Georgien oder auch die baltischen Staaten angreift?
Wenn das Baltikum angegriffen würde, wäre dies ein NATO-Bündnisfall. Dann würden die USA eingreifen. Auch im konventionellen Bereich, in welchem der Krieg bisher ausgetragen wurde, sind die USA überlegen. Früher oder später würde Russland den Krieg mit Sicherheit verlieren. Der Krieg wird bisher mit konventionellen Waffen ausgetragen. Das wird Putin nicht wollen. Ein Angriff anderer zentralasiatischer Länder ist eher denkbar. Nach dem, was er jetzt in der Ukraine getan hat, würde ich das nicht mehr ausschliessen. Über allem schwebt die grosse Sorge vor dem Einsatz von Nuklearwaffen. Warum droht Putin mit Atomwaffen und wie gross ist das Risiko, dass er diese einsetzt?Ich erwarte nicht, dass es zu einem Einsatz von Nuklearwaffen kommt. Theoretisch wäre es denkbar, moderne Nuklearwaffen auf einem begrenzten Territorium einzusetzen. Aber ich meine, selbst wenn Putin die Existenz der Ukraine als Staat infrage stellt und auch von einer «Entnazifizierung» spricht, wird er das Land oder Teile davon nicht dauerhaft unbewohnbar machen wollen. Einer der Gründe, mit denen er den Angriff legitimiert, ist ja, dass die Ukraine die Wiege der russischen Nation sei.

Sie setzen sich dafür ein, dass die Schweiz dem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt. Es geht in dem Vertrag ja vor allem um eine Ächtung der Nuklearwaffen.
Ein Beitritt erschiene mir ein folgerichtiger Schritt für die Schweiz zu sein. Sie hat und will keine Nu-klearwaffen und ist Depositarstaat der Genfer Konventionen. Der Einsatz und auch die Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen sind mit dem humanitären Völkerrecht nicht zu vereinbaren. Von daher müsste die Schweiz mitmachen, auch wenn dies den Nuklearmächten nicht gefallen sollte.

Worauf kommt es bei möglichen Friedensverhandlungen aus Ihrer Sicht nun an?
Beide Seiten müssen einen Nutzen darin sehen. Russland muss irgendwie – auch wenn das kritisiert wird – das Gesicht wahren können. Für die Ukraine und Wolodimir Selenski muss das Ergebnis insofern gesichtswahrend sein, dass er an der Macht bleiben kann. Es ist schwierig zu beurteilen, ob er Gebietsteile abtreten und dennoch an der Macht bleiben könnte oder ob er bis zum bitteren Ende weiterkämpfen muss. Am Ende muss es wie immer so sein, dass das Ergebnis von Friedensverhandlungen für beide Seiten stimmt. Die Ukraine wird eine Lösung anstreben, die eine internationale Garantie beinhaltet. Wie diese aussieht, hängt massgeblich von Russland ab. Sicher wird eine russische Garantie nicht mehr ausreichen, denn die gab es 1994, und sie ist mit dem Angriff nichtig geworden. Es gibt dafür zahlreiche Ideen: Israel wurde auch bereits als Garantiemacht genannt, auch die Türkei oder Grossbritannien oder Frankreich. Man sollte sich bewusst sein: Solange nicht eine Seite klar den Krieg verliert, muss der Frieden zwischen den Kriegsparteien ausgehandelt werden. Russland wird den Krieg nicht verlieren, solange es nicht die NATO angreift. Allenfalls könnte es auf der ukrainischen Seite zu einem Machtwechsel kommen, aber das würde bedingen, dass der Krieg noch lange dauert und weitere sehr tragische Ausmasse annimmt.