Jugendliche in Zeiten von Corona
Wenn Corona auf die Psyche schlägt
Jugendliche und junge Erwachsene sind von der Pandemie stark betroffen – eine Reportage über Sorgen und vermasselte Zukunftsperspektiven.
Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 18. Dezember 2020
Junge Menschen zählen nicht zur Risikogruppe hinsichtlich Covid-19. Nur in seltenen Fällen sind sie schwer von einer Erkrankung betroffen. Die aktuellen Verordnungen schränken aber gerade Schülerinnen, Schüler und Studierende stark ein. Eine Befragung von Jugendlichen aus dem Kanton Zürich (Baier & Kamenowski, 2020) zeigt einen signifikanten Rückgang der mittleren Lebenszufriedenheit im Vergleich zu vor der Schulschliessung und eine Verstärkung der emotionalen Probleme durch den Lockdown. Eine Studie von Lea Pucci-Meier, Projektleiterin psychische Gesundheit, die im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit verfasst wurde, besagt sogar, dass Kinder und Jugendliche als Risikogruppen für psychische Auswirkungen der Covid-Krise eingestuft werden. Dies habe vor allem mit der aus entwicklungspsychologischer Sicht besonders sensiblen und prägenden Lebensphase zu tun. Spezifische Belastungen seien eingeschränkte körperliche Aktivitäten, schlechtere Ernährung oder auch häusliche Konflikte und Gewalt. Emotionale Schwierigkeiten könnten sich durch Stress, Isolation oder die Unsicherheit über die eigene Zukunft akzentuieren. Aktuell arbeiten Forschende der Universitäten Zürich und Bern an einer Studie über die Auswirkungen der Corona-Krise auf Kinder und Jugendliche. Über dieses Thema hat tachles mit Jugendlichen gesprochen.
Fehlender Austausch und Vorsicht
Fiona Pini ist 16 Jahre alt, ihr fehlt vor allem der Austausch im Jugendbund: «Als Leiterin vermisse ich unser Zusammenkommen.» Auch Sport könne sie nicht mehr betreiben: «Ich ging als Ausgleich zum stressigen Schulalltag mehrmals in der Woche ins Fitnessstudio.» In der Fachmittelschule Oberwil, in der sie die zweite Klasse besucht, herrscht Maskenpflicht. Zudem gibt es Plexiglaswände zwischen den Tischen: «Das kann manchmal sehr einengend sein, aber es wird langsam zur Normalität. Natürlich wünschte ich mir, dass wir ins Lager gehen könnten, dass wir nicht immer auf alle Regeln achtgeben müssen, dass wir unsere Gesichter sehen können, wenn wir miteinander reden, aber ich bin zuversichtlich, dass auch das hoffentlich bald wieder so sein wird», sagt sie und fügt an: «Ich treffe mich nun nur noch mit meinen engsten Freunden, meistens nur zu dritt oder viert.» Fiona Pini vermisst besonders die Lager, die die Jugendbünde von Bern, Basel und Zürich jedes Jahr veranstalten: «Diese Lager sind für mich eine Verbindung zum Judentum, was mich im Alltag ja nicht so beschäftigt. Freunde zu haben, die die gleichen Interessen und den gleichen Glauben haben, ist eher selten. Ich bin nicht besonders religiös aber es ist schön, Freunde zu haben, die gleiche Traditionen haben wie ich.» Sie merkt auch einen deutlichen Unterschied zwischen dem Frühjahr und der jetzigen Jahreszeit. «Ich fühle mich ab und zu schon ein bisschen deprimiert, aber nicht unbedingt wegen des Coronavirus, der nun zu unserem ständigen Begleiter oder eher ständigen Polizisten geworden ist, der uns befiehlt, wie wir unser Leben leben dürfen, sondern wegen der düsteren Jahreszeit.» Alles in allem gehe es ihr aber «ganz gut», denn nun habe sie auch ein bisschen mehr Zeit für sich.
«Ich treffe mich nun nur noch mit meinen engsten Freunden, meistens nur zu dritt oder viert.»
Als «sehr einschränkend» bezeichnet auch die 22-jährige Chaja Guggenheim die zweite Welle. Sie studiert Erziehungswissenschaften und Philosophie an der Universität Zürich und bedauert, dass das Sportzentrum für Studierende nun nur noch bedingt nutzbar sei. «Mit Maske zum Sport zu gehen, finde ich allgemein sehr abschreckend», sagt sie. Auch die Möglichkeit eines spontanen Kaffees oder eines gemeinsamen Mittagessens mit Kommilitonen falle nun weg. «Diesen Austausch habe ich immer sehr wertgeschätzt. Beim Schreiben meiner Bachelorarbeit hatte ich öfter eine Schreibblockade, und ich denke, dies lag unter anderem daran, dass ich mit niemanden wirklich in den Austausch kommen konnte. Ich sass während der ersten Welle nur in meinem Zimmer und hatte grosse Mühe, mich auf den Unistoff zu konzentrieren.» Auch aktuell findet das Studium nur online statt. Chaja Guggenheim berichtet, dass auch ihr soziales Leben sehr eingeschränkt sei. Ihrer Meinung nach träfen die Massnahmen Studierende besonders hart, «weil Freunde, Partys oder Anlässe das Studentenleben prägen». Sie sagt: «Ohne diesen sozialen Aspekt ist das Studentenleben nicht so cool. Ich bin froh, dass ich meine ersten zwei Studienjahre ohne Corona erleben durfte und dadurch ganz viele unterschiedliche, tolle Menschen kennenlernen konnte.» Sie sagt: «Ich vermisse die Zeiten vor Corona sehr.» Aber sie komme gut mit der Situation zurecht: «Klar ärgere ich mich hie und da, dennoch bin ich dankbar, gesund zu sein und weiss, dass wir ja alle im gleichen Boot sitzen. Schwierig wird es, wenn die Coronasituation auf die Psyche schlägt. Ich bin froh, dass dies bei mir nicht der Fall ist.»
Angst und Stimmungsschwankungen
Aviva Rosenbaum, die zurzeit in den Niederlanden studiert, sagt: «Die Situation deprimiert mich nicht, aber sie macht mich ängstlich und macht mir oft ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich mit Leuten treffe oder in die Stadt gehe, um einzukaufen. Ich trage überall eine Maske, aber viele in meinem Studentenwohnheim nicht, was mich nervös macht. Im Grossen und Ganzen habe ich jedoch in dieser Situation sehr viel Glück, da ich nicht isoliert bin. Die 19-Jährige studiert Liberal Arts and Sciences in Groningen und sie berichtet: «Ich bin gerade hierher gezogen, um mein Studium zu beginnen, und bin aufgrund von Corona noch wenig engagiert. Es gibt in der Nähe zwar eine liberale Synagoge, der ich beitreten möchte, aber wegen Corona gab es noch keine Gottesdienste. Ich habe jedoch mit Chor angefangen, der momentan nur online stattfindet.» In den Niederlanden seien die Massnahmen deutlich entspannter als in der Schweiz: «In den Gängen müssen wir Masken tragen, im Klassenzimmer jedoch nicht», sagt sie. Während der Online-Vorlesungen sei es definitiv schwieriger, aufzupassen und den Stoff gleich gut zu bearbeiten, sagt sie. Da Aviva Rosenbaum im Ausland lebt, ist sie von den aktuellen Reisebeschränkungen betroffen. Vor ein paar Monaten hätte sie noch zehn Tage in Quarantäne gehen müssen, um ihre Familie in der Schweiz zu besuchen. «Jetzt darf ich wieder in die Schweiz reisen, da die Zahlen in der Schweiz höher sind als in den Niederlanden. Ich darf auch länger zu Hause bleiben als sonst, da ich die Möglichkeit habe, an den Vorlesungen online teilzunehmen», freut sie sich.
«Ich vermisse die Zeiten vor Corona sehr.»
Eric Suchowolski ist kurz vor der zweiten Welle nach St. Gallen gezogen, um dort sein Assessment an der Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften zu beginnen. Nun ist der 19-Jährige wieder daheim. Er erzählt, dass es kaum möglich war, in dem kurzen Zeitfenster Kontakte zu Kommilitonen zu knüpfen. «Jetzt ist dies wegen des 100-prozentigen Fernunterrichts unmöglich geworden, weshalb ich nach Basel zurückkehrt bin. Das soziale Leben hat sich aus seiner Sicht aktuell verschlimmert: «Man trifft sich nicht, weil die Fallzahlen zu hoch sind, oder weil man kurz zuvor jemanden getroffen hat, der auf Corona getestet wurde. Die Zwei-Haushalte- Regel und die Tatsache, dass alles am Abend geschlossen ist, hilft auch nicht.» Eric Suchowolski sagt: «Meine Stimmung schwankt extrem, auch aufgrund der fehlenden Motivation und Unterrichtsqualität in der Uni. Aufgrund des Onlineunterrichts fehlt allgemein die Motivation, die Aufmerksamkeit und vor allem das Engagement, da man nicht präsent ist und der Austausch mit den Professoren und den Kommilitonen nicht besteht.» Er merkt an, dass viele Kollegen in seinem Umfeld eine etwas negativere, sogar depressivere Stimmung im Vergleich zur Zeit vor dem ersten Lockdown aufzeigen.
Umdenken und sich anpassen
Auch seine Schwester Michelle Suchowolski aus Basel betont: «Mein Alltag ist viel weniger sozial – eine meiner Lieblingsbeschäftigungen war es, mit Freunden neue Restaurants auszuprobieren, die sind nun zu. Zudem habe ich Angst, mich mit Freunden zu treffen, da ich die Krankheit nicht auf sie oder meine Familie übertragen möchte. Es gibt auch insgesamt weniger Veranstaltungen, was als Neuankömmling in der Schweiz wie mich schwierig ist.» Zudem fällt es der 24-Jährigen schwer, Deutsch zu lernen, da die «Tandem»-Cafés geschlossen sind. Auch wenn die Kombination aus Einschränkungen und dem Winterwetter insgesamt deprimierend sein kann, versucht Michelle Suchowolski, positiv zu bleiben. Sie arbeitet zurzeit an ihrem eigenen Geschäft, das sich darauf konzentriert, Second-Hand-Mode für Teenager und junge Erwachsene zugänglich zu machen. «Eine Stelle zu finden, ist im Moment wirklich schwierig, vor allem, wenn man gerade am Anfang seiner Karriere steht. Ich denke, das ist jetzt ein grosses Problem, besonders für Expats. Also habe ich beschlossen, vorerst meinen eigenen Weg zu gehen und mich auf meine beiden Leidenschaften, Mode und Nachhaltigkeit, zu konzentrieren. Das Geschäft läuft tatsächlich bereits überraschend gut», sagt sie. Miriam Lubrich ist 14 Jahre alt und geht in die neunte Klasse. Sie ist froh, dass sie ihrem Hobby, dem Tanzen, noch nachgehen kann: «In meiner Heimatstadt Bern ist dies noch erlaubt, und so habe ich glücklicherweise einen Sportausgleich nach der Schule – viermal pro Woche.» In der Schule muss auch sie seit Beginn des Schuljahrs eine Maske im Unterricht tragen, auch an den langen Tagen und im Sportunterricht. «Teilweise trage ich die Maske zwölf Stunden am Tag», sagt sie und betont: «Aber ich möchte mich nicht beschweren, denn wenigstens darf ich noch zur Schule und zum Sport gehen.» Obwohl sie noch im kleinen Rahmen Freunde sehen kann, sind Treffen sehr eingeschränkt. Auch bei Freunden zu Hause würden die Jugendlichen oft Maske tragen. «Wenn wir uns treffen, dann nur in einer sehr kleinen Gruppe. Dieses Jahr sind alle grösseren Anlässe ausgefallen: Skilager, Tanzlager, Klassenwoche und fast alle Partys und Geburtstage.» Miriam Lubrich sagt: «Obwohl ich nicht so stark betroffen bin, fehlt mir der Austausch, besonders am Wochenende. So viel Schönes ist verboten oder riskant.»
Spazieren und Kaffee to go
Mit der Situation arrangiert hat sich auch Benjamin Fäh, der im dritten Semester Humanmedizin in Basel studiert. Er ist glücklich, dass er seine Hobbys, abgesehen vom Basketball, noch ausüben kann. Der 21-Jährige sagt: «Interessanterweise habe ich in dieser Zeit ein neues Hobby entdeckt, nämlich Badminton. Ich kann mich auch anderen Dingen mehr zuwenden, beispielsweise dem Lesen oder Kochen. Womit ich aber etwas Probleme habe ist, dass ich oft einen Grund suchen muss, damit ich aus dem Haus komme.» Sein Medizinstudium stehe vor grossen Herausforderungen. Die Vorlesungen finden ausnahmslos online statt, was für ihn soweit noch erstaunlich gut funktioniere. «Allerdings sehe ich einen extrem grossen fachlichen Nachteil, besonders in den Naturwissenschaften. Ich bin im zweiten Studienjahr, und da liegt ein grosser Schwerpunkt auf der allgemeinen Anatomie, die üblicherweise an Körperspendern gelehrt und studiert wird.» Das soziale Leben von Benjamin Fäh bezeichnet er als «stark eingeschränkt, unter anderem auch, weil ich vorsichtig bin. Nur selten unternehme ich etwas mit anderen, und dann sorgen wir dafür, dass wir draussen etwas machen können». Spazieren und Kaffee to go würden eine neue Bedeutung gewinnen. «Vieles findet ebenfalls online statt, zum Beispiel in Form von Spielabenden.» Er findet wichtig, dass man positiv eingestellt sein muss: «Die Pandemie ist für alle schwierig, doch ich persönlich muss sagen, ich habe durchaus auch neue, positive Gewohnheiten entwickelt. Ich schlafe mehr, mache mehr Sport und freue mich wieder auf ein normales Studium. Natürlich vermisse ich vieles, doch wir können leider nicht mehr machen, als Geduld zu zeigen.»
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