Valerie Wendenburg

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«Wer und was ist schon normal?»

Der neue Roman «Besetzte Gebiete» des niederländischen Autors Arnon Grünberg geht mit Humor und Tiefgang den existenziellen Fragen des Lebens nach und übt schonungslose Gesellschaftskritik.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 23. Juli 2021

Der Psychiater Otto Kadoke sieht sich zu Beginn Ihres Romans aufgrund falscher Behauptungen einer Patientin mit einem Missbrauchsvorwurf konfrontiert. Der assimilierte niederländische Jude wird plötzlich zum «jüdischen Vergewaltiger». Sehen Sie den vorhandenen Antisemitismus als latente Bedrohung für Juden in Europa?
Arnon Grünberg: Das Wort Bedrohung ist vielleicht zu gross, aber ich glaube, durch die sozialen Medien sind viele Tabus gebrochen worden. Die Gefahr ist gegeben, das denke ich sicher. Dies gilt aber nicht nur für Juden, sondern ebenso für Muslime und andere Minderheiten.

Arnon Grünberg (© Wikipedia)

Die «Me-too»-Debatte spielt im ersten Teil des Buches eine Rolle. Kadoke wird verurteilt und darf nicht mehr arbeiten – obgleich seine Schuld nicht bewiesen wird. Ist das realistisch?
Es besteht heute die Ansicht, es müsse einiges wiedergutgemacht und ins rechte Licht gerückt werden, was früher schiefgelaufen ist. Die «Mee-too»-Debatte halte ich für berechtigt und sehr wichtig. Ich habe aber den Eindruck, dass die Unschuldsvermutung nicht mehr ausreichend beachtet wird. Gewisse Leute müssen erstmal ihre Unschuld beweisen, von der Schuld wird schnell ausgegangen. Kadoke hat sich selbst ja wirklich in eine unmögliche Situation gebracht, er arbeitet innerhalb einer Grauzone – aber man weiss nicht, was wirklich geschehen ist.

Sie kennen diese Grauzonen, da Sie für dieses Buch unter anderem in einer Psychiatrie recherchiert haben.
Ja genau. Ich bin zum einen zwei Wochen lang beim Amsterdamer Krisendienst mitgelaufen. Dieser kommt immer nach einem Selbstmordversuch zum Einsatz. Er entscheidet, ob die betroffene Person alleine bleiben kann oder auch gegen den eigenen Willen ins Spital gebracht werden muss. Diese Zeit war sehr eindrucksvoll. Zudem habe ich mehrere Woche in einer Psychiatrie zusammen mit Patienten gelebt, mit denen ich mich natürlich auch identifiziert und über die ich viel gelernt habe.

Der «gefallene» Psychiater Kadoke beschliesst in seiner Verzweiflung, zu einer Freundin in die besetzten Gebiete nach Israel zu reisen, um dort – zusammen mit seinem gebrechlichen Vater – ein neues Leben zu beginnen. Sein Wunsch «nach Hause zu kommen» erfüllt sich dort nicht. Ist er naiv?
Sicher ist er naiv. Aber er verliebt sich ja auch in Anat, die er kurz zuvor kennengelernt hat. Diese Liebe ist konstruiert und das neue Zuhause ein Wunschdenken, wie so oft im Leben. Kadoke sieht in diesem Moment schlicht keine andere Lösung für sich. Er meint, seine eigenen Ansichten eines assimilierten Judens für die Liebe aufgeben zu können. In der Siedlung angekommen versucht er, sich dem Leben dort anzupassen und sich in die andere Richtung zu assimilieren.

Was ihn in Israel erwartet, könnte ja kaum unterschiedlicher sein zu dem Leben, das er zuletzt in den Niederlanden hatte.
Genau. Er wird plötzlich als «Wunder» angesehen! Dies nur, weil er ein heiratsfähiger Mann ist, der Kinder zeugen kann. Diese radikale Umstellung ist nicht einfach für ihn, zumal er eigentlich nur in Frieden in einer Liebesbeziehung mit Anat leben möchte und keinen eigenen Kinderwunsch äussert.

Sie beschreiben das Leben innerhalb der religiösen Siedlung detailliert. Es geht um Stammesdenken, das grösste Ziel scheint darin zu liegen, Nachwuchs zu zeugen. Haben Sie das so beobachtet?
Ich kenne diese Welt innerhalb der Siedlungen gut, weil meine Schwester dort lebt, seitdem ich elf bin. Ich habe sie oft besucht. Sie hat immer zu mir gesagt: «Ich bete für dich, dass du eine jüdische Frau findest und ein Kind bekommst.» Sie hat mit voller Überzeugung für mich gebetet, ohne zu fragen, ob ich das überhaupt möchte. Das war einerseits rührend, andererseits hat es mich auch sehr geärgert. Der Nachwuchs ist dort der Sinn des Lebens. Mein Schwager ist überglücklich, dass er sieben Kinder und schon 14 Enkel hat. Eine Ehe, die kinderlos bleibt, ist eine Schande und ein Scheidungsgrund – wie auch die Geschichte von Anat in meinem Buch aufzeigt.

Wie hat Ihre Schwester auf das Buch reagiert?
Sie hat mir nur geschrieben, dass sie hofft, nicht die Inspiration für Anat gewesen zu sein. Wissen Sie, meine Schwester und ich lieben uns, aber wir sind sehr unterschiedlich. Sie hat aber gut auf meinen Sohn reagiert, der vor zwei Monaten auf die Welt kam und dessen Mutter nicht jüdisch ist. Ihr Gebet ist also nur halb in Erfüllung gegangen. Auch sie lebt in einem Zwiespalt: Einerseits liebt sie ihre Familie, andererseits habe ich dem jüdischen Volk aus ihrer Sicht etwas Schlimmes angetan.

«Was mich in den Siedlungen immer sehr deprimiert, ist das Feind-Freund-Denken, die Missgunst.»

In Ihrem Buch kommt auch immer wieder der messianische Gedanke zum Ausdruck, in der grossen Verehrung eines Rabbis zum Beispiel.
Das stimmt, aber da habe ich eher Chabad Lubavitsch in New York vor Augen gehabt. So ist meine Schwester gar nicht, aber das ist die Freiheit des Schriftstellers, Dinge zu vermischen. Nationalismus hingegen habe ich innerhalb der Siedlungen oft erlebt, daher der Gedanke: Wir leben hier, das ist unser Zuhause. Was mich dort immer sehr deprimiert, ist das Feind-Freund-Denken, die Missgunst. Mein Schwager hat mir einmal gesagt, aus seiner Sicht hätten Nicht-Juden zwar auch eine Seele, diese sei aber eher vergleichbar mit derjenigen von Katzen und Hunden. Dieser pure Tribalismus erschreckt mich sehr.

Das Leben in der Siedlung wird dargestellt wie das Leben im Shtetl im 19. Jahrhundert. Ist die Zeit dort stehengeblieben?
Irgendwie schon. Die Siedlungen sind für mich eine Mischung aus American Suburbia und einem Shtetl. Das Leben dort ist teilweise auch absurd. Meine Schwester kocht zum Beispiel polnische Gerichte bei knapp 40 Grad Hitze. Man möchte die Tradition fortsetzen und sieht nicht, das sie eigentlich mit dem Land der Vorfahren verknüpft ist.

Im Buch wird Kadoke mit den Worten zitiert, die Siedlung sei eine «Brutstätte für Kriegsverbrechen» oder die Besatzung sei eine «Vergewaltigung». Stehen Sie hinter diesen Sätzen?
Diese Worte habe ich alle in Zeitungen gelesen oder in Diskussionen gehört. Die Vorwürfe stehen immer im Raum. Auch jüdische Medien selbst sind oft sehr kritisch mit Israel, meiner Meinung nach teils zu kritisch. Meine Ansicht ist, dass Israel sich an die Region assimiliert hat. Es hat mit dem europäischen Judentum nur noch sehr wenig zu tun. Die israelischen Juden und die Diaspora entwickeln sich immer weiter auseinander. Man kann beide Gruppen gar nicht miteinander vergleichen. Faszinierend finde ich, dass die Grundgedanken von Theodor Herzl, der gar nicht religiös war, sich grundlegend von der Motivation der Siedler heute unterscheiden. Herzl war sehr assimiliert und sein Traum war, Apfelstrudel in Haifa zu essen oder ein Kaffeehaus in Jerusalem zu besuchen. Darüber, dass sich alles nun ganz anders entwickelt hat, kann man traurig sein – aber es ist einfach eine Tatsache. Ich habe zudem den Eindruck, dass Israel nicht mehr – wie früher – der Mittelpunkt der Welt ist. Das öffentliche Interesse am Konflikt hat stark nachgelassen, auch im Vergleich zu den Zeiten der ersten Intifada. Die Leute haben heute andere Probleme.

Die Siedlung, die Sie beschreiben, ist ja nur ein kleiner Teil der israelischen Gesellschaft, den viele Menschen so nicht kennen. Möchten Sie auch über diesen Teil Israels aufklären?
Tel Aviv und die Siedlung, in der meine Schwester lebt, sind zwei komplett verschiedene Welten. Die Differenzen innerhalb der israelischen Gesellschaft sind viel grösser, als man denkt. Das ist auch in Zeiten von Covid-19 sehr deutlich geworden. Es gibt hier einen Zwiespalt, der im Westen noch nicht genügend wahrgenommen wird.

Kritisiert werden auch die Europäer, die mit vorgefertigten Meinungen nach Israel kommen und «simpel denken». Haben Sie das so erlebt?
Von aussen werden die Probleme oft so vereinfacht dargestellt. Die meisten Menschen sehen nur eine Seite und sind sich der grossen innerjüdischen Konflikte gar nicht bewusst. Mich beschäftigt das Thema als Jude natürlich sehr. Auch wenn ich gerne neutral wäre, kann ich das nicht sein, ich muss und möchte eine Meinung zu dem Thema haben.

Ihr Buch gibt Einblicke in verschiedene Persönlichkeiten, die in Israel leben. Als Leser kann man sich sehr gut in jeden Charakter einfühlen – auch wenn er einem fremd ist. Alle Personen sind greifbar.
Das war mein Ziel. Auch wenn mir persönlich Kadoke näher steht, so habe ich doch versucht, Anat zu verteidigen, sie menschlich zu porträtieren. Ebenso wollte ich aufzeigen, wo Kadokes Schwächen liegen.

Auch die Rolle des Vaters ist spannend, der sich erst als Mutter ausgibt, sich recht bald aber in seine Vaterrolle zurückverwandelt.
Ja, diese Idee stammt noch aus meinem vorherigen Buch «Muttermale». Als mein Vater 1991 starb, hat meine Mutter seine Kleider zehn Jahre lang nicht weggegeben. Das war ein langer Prozess. Auch ich brauchte Zeit, das Haus meiner Mutter in Amsterdam nach ihrem Tod 2015 zu räumen. Dieser lange Abschied hat geholfen. Ich konnte mir nach diesen persönlichen Erfahrungen durchaus vorstellen, dass es Menschen gibt, die in die Rolle des verstorbenen geliebten Menschen schlüpfen, um ihre Trauer zu verarbeiten.

«Das Absurde im Leben ist einfach vorhanden. Meine Aufgabe ist es ja auch, dies klar zu zeigen und dem nicht aus dem Weg zu gehen.»

Auch Kadoke überschreitet immer wieder Grenzen. Seine Geschichte ist tragisch und komisch zugleich. Sie wirkt extrem. Muss man sich den Humor bewahren und über grenzwertige Situationen lachen können?
Das Absurde im Leben ist einfach vorhanden. Meine Aufgabe als Autor ist es ja auch, dies klar zu zeigen und dem nicht aus dem Weg zu gehen. Wer und was ist schon normal? Humor hilft sicher, mit gewissen Situationen im Leben umzugehen und sie zu überstehen.

Kadoke lebt am Ende des Buches ein sehr schwieriges Doppelleben. Er hat eine religiöse Frau und einen palästinensischen Geliebten. Er erlebt den Konflikt in Israel quasi am eigenen Leib und steht in der Mitte. Dabei möchte er nur «in der Wahrheit leben».
Ja, er ist in einem Dilemma. Ich bin anderer Meinung als er und glaube, es ist nicht immer notwendig, die Wahrheit auch auszusprechen. Ob man innerhalb einer Beziehung immer die Wahrheit sagen muss, ist eine grosse Frage in meinem Buch. Jede Situation ist anders, jede Lebensphase auch. Ich denke, dass man nicht immer alles wissen muss. Ich mag Gabriel García Márquez sehr, er hat gesagt: «Jeder Mensch hat drei Leben: ein öffentliches, ein privates und ein geheimes.» Ich glaube, das trifft noch immer zu.

Am Ende des Buches schreiben Sie, man dürfe sich mit dem Schicksal nicht anfreunden, sondern müsse darüber lachen.
Ja, über das eigene unbedingt, aber nie über das Schicksal von anderen. Da sind wir wieder bei Humor und Absurdität. Eine Relativierung hilft, es ist gut, sich selbst und das eigene Schicksal nicht zu ernst zu nehmen.

Was sind Ihre nächsten Pläne?
Im September erscheint mein nächstes Buch auf Holländisch. Im Moment bin ich auf Lesereise, nebenbei laufen immer journalistische Projekte – in meinem letzten recherchierte ich über Querdenker in den USA. In den kommenden Monaten werde ich Gastschriftsteller an einer technischen Universität in Holland sein und vor allem dort – bei meiner Freundin (die Schriftstellerin Niña Weijers, Anmerkung der Red.) und meinem kleinen Sohn – leben.

Arnon Grünberg: Besetzte Gebiete. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021.