Valerie Wendenburg

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Wie lebt es sich mit einer Nachzüglerin?

Erschienen im Blog des Elternmagazins «Fritz und Fränzi» am 22. März 2023

Als meine Tochter eingeschult wurde, hat mein ältester Sohn seine Matura bestanden. Während meine Freundinnen darauf anstiessen, dass ihre Kinder den Lernmarathon erfolgreich beendet hatten, ging ich mit meinem jüngsten Kind zurück auf Feld eins.
Bei der Einschulung kam mir alles vertraut und gleichzeitig unwirklich vor: Ich kannte die Lehrerinnen und Lehrer zum Grossteil nicht mehr und die Eltern um mich herum erschienen mir irgendwie jugendlich. Auf einen Schlag wurde mir klar, dass ich keine junge Mutter mehr war wie noch bei meinen Söhnen. Ich spielte nun in der Liga der erfahrenen Mamis mit.

Tatsächlich fühle ich mich in meiner zweiten Runde als Mutter gelassener und lehne mich gerne zurück, wenn andere Eltern sich über Themen austauschen, die bei mir nicht viel mehr als ein Déjà-vu auslösen. Trotzdem ist alles anders als beim ersten Mal.

Fast wie ein Einzelkind
Meine Kinder haben einen Altersunterschied von zwölf Jahren und ich habe oft das Gefühl, ich würde zwei Leben als Mutter führen. Mein erstes begann mit Ende zwanzig, als ich Zwillinge bekam und kurz darauf einen dritten Sohn. Mein zweites Mutter-Dasein startete ein Jahrzehnt später, als ich meine Tochter erwartete – die kleine Schwester von drei deutlich älteren Brüdern. Die Jungs wurden gerade selbstständiger, gingen erstmals alleine in Feriencamps und durchwanderten die Pubertät, als meine Tochter anfing, Bücherregale auszuräumen und erste Worte zu sprechen. Mittlerweile wohnen zwei meiner Söhne nicht mehr zu Hause, den dritten zieht es im Sommer in die Ferne. Meine heute neunjährige Tochter wächst – völlig anders als ihre Brüder – fast wie ein Einzelkind auf, obgleich sie keines ist.
Ihre älteren Geschwister sind im Alltag nur noch wenig präsent. Aufgrund ihres grossen Altersunterschieds leben die kleine Schwester und ihre Brüder in verschiedenen Welten. Auch ihre Kindheit verlief sehr unterschiedlich: Meine Söhne wuchsen eng miteinander auf, schliefen jahrelang in einem Zimmer und spielten täglich gemeinsam Fussball im Garten. Am Esstisch sprachen wir, da die drei immer in der Mehrzahl waren, fast ausschliesslich über «Kinderthemen». Es ging um nervige Mathetests, Panini-Bilder oder darum, wann die Jungs ihren Vater sehen würden, von dem ich schon früh getrennt lebte. Meine Tochter erlebt ihren Alltag meist gemeinsam mit ihren beiden Eltern und nur gelegentlich zusammen mit ihren Geschwistern.

Brüder als Beschützer statt Spielkameraden
Dennoch hat sie eine enge Beziehung zu ihren mittlerweile erwachsenen Brüdern, die mehr Beschützer als Spielkameraden sind. Obgleich sie sich jedes Jahr aufs Neue eine kleinere Schwester zum Geburtstag wünscht, ist sie stolz auf die grossen Jungs in der Familie, um die sie von Freundinnen beneidet wird. Neulich wollte sogar ein Junge aus ihrer Klasse ein Autogramm ihres Bruders haben, da dieser Captain der A-Mannschaft des hiesigen Fussballvereins ist. Zu ihm, dem zehn Jahre älteren Bruder, hat meine Tochter zurzeit das engste Verhältnis, weil der Kontakt am intensivsten ist. Er wohnt noch im selben Elternhaus und war in ihrer Kleinkinderzeit auch derjenige, der am meisten mitgespielt und ihr abends ab und zu vorgelesen hat. Auch mit den zwölf Jahre älteren Zwillingsbrüdern ist sie sehr vertraut, die Intensität der Beziehung hängt aber davon ab, wie oft sie die beiden sieht und wie stark sie sich mit ihr beschäftigen. Einer der Zwillinge ist schon vor Jahren zu seinem Vater gezogen, er war auch eine längere Zeit im Ausland und daher nicht so präsent wie sein Zwilling, der häuslicher und regelmässiger daheim ist.
Neulich sind sie alle zusammen an ein FC-Basel-Spiel gegangen – nicht nur meine Tochter, sondern auch mich als Mutter hat das glücklich gemacht, da ich merke, dass die Schwester mittlerweile nicht nur noch «die Kleine», sondern immer mehr ein gleichwertiges Geschwister ist.

Kaum Streit oder Eifersucht
Aufgrund der Familienkonstellation gab es unter den Geschwistern kaum Eifersuchtsszenen. Die Zwillinge waren ohnehin immer zu zweit, mein dritter Sohn konnte daher nach seiner Geburt niemanden vom Thron stossen. Als die Nachzüglerin unsere Familie bereicherte, waren die Zwillinge die «Grossen» und der mittlere Sohn orientierte sich je nach Laune mal zu ihnen nach oben oder er spielte mit seiner kleinen Schwester wieder wie ein Kind. 

«Die Brüder sind auch als Babysitter im Einsatz, was natürlich für uns Eltern Vorteile hat.»

Konkurrenzkämpfe zwischen den Geschwistern gibt es auch heute nicht, es kommt kaum zu Reibungen, aber auch selten zu gemeinsamen Aktivitäten – es sei denn, sie werden extra organisiert. Ab und zu unternehmen die Brüder gezielt etwas mit ihrer Schwester, gehen mit ihr ins Kino oder wie vor Kurzem ins Stadion.
Bei Bedarf sind sie auch als Babysitter im Einsatz, was natürlich für uns Eltern Vorteile hat. Für meine Tochter heisst es aber auch immer wieder Abschied nehmen, wenn ihre Brüder nach einem Wochenendbesuch die Koffer packen – da geht es ihr ähnlich wie mir. Wir beide haben gelitten, als die Grossen von zu Hause ausgezogen oder gar ins Ausland gegangen sind.

Was mich manchmal nervös macht
Auch wenn einer meiner Söhne noch zu Hause lebt, hat er seinen eigenen Rhythmus. Am Wochenende beispielsweise befindet er sich meist noch im Tiefschlaf, wenn meine Tochter, mein Mann und ich frühstücken. Oft sind wir daher im Alltag zu dritt und die Dreierkonstellation innerhalb der «Kleinfamilie» führt dazu, dass sich schnell zwei Parteien bilden, da das einzige Kind am Tisch genau weiss, wie es seinen Vater oder mich auf seine Seite bringen kann. Mein Kind allein spielen zu sehen, macht mich manchmal nervös. Immer wieder empfinde ich Druck, meiner Tochter Gesellschaft leisten zu müssen. Während meine Söhne jahrelang miteinander gespielt und auch gestritten haben, hat meine Tochter kein Pendant, an dem sie sich messen und mit dem sie sich verbünden kann. So lernte sie nicht nur früh, sich alleine durchzusetzen, sondern auch, sich selbst zu beschäftigen. Wenn sie malt, bastelt oder mit Playmobil spielt, ist ihr auch ohne anwesende Geschwister nur selten langweilig.
Mich aber macht der Anblick eines allein spielenden Kindes manchmal etwas nervös. Immer wieder empfinde ich Druck, meiner Tochter Gesellschaft leisten zu müssen. Wir organisieren ihr mehr Freizeitaktivitäten als ihren Brüdern damals und haben auch schon einen Freundin von ihr mit in die Ferien genommen, damit sie jemanden in ihrem Alter zum Spielen hat. Ich möchte vermeiden, dass sie sich alleine fühlt – obwohl sie dieses Gefühl nie äussert.

Zusammenhalt fördern
Unsere Nachzüglerin steht viel mehr im Mittelpunkt als ihre Brüder es jemals taten. Dafür hatten sie sich immer als Verbündete und Spielkameraden. Wenn meine Kinder alle einmal gross sind, werden sie ganz andere Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend haben. Die Jungs sind eng miteinander als Geschwister, aber mit einer alleinerziehenden Mutter gross geworden. Dies hatte zur Folge, dass meine Söhne regelmässig am Wochenende bei ihrem Vater waren und auch Konflikte zwischen ihren Eltern aushalten mussten.

«Ich musste mich daran gewöhnen, Dinge nicht mehr einfach alleine zu entscheiden, sondern als Eltern gemeinsam zu denken.»

Meine Tochter hingegen wächst wie ein Einzelkind, aber zusammen mit ihren beiden Eltern auf. Ihr Vater ist in ihrem Leben sehr präsent und unternimmt viel mit ihr. Ich muss den Alltag nun nicht mehr alleine bestreiten, sondern erfahre grosse Unterstützung innerhalb der Partnerschaft. Aber auch ich musste mich umstellen und mich daran gewöhnen, Dinge nicht mehr einfach alleine zu planen und zu entscheiden, sondern als Eltern gemeinsam zu denken. Wahrscheinlich erlebt jedes der Kinder in seiner eigenen Familienkonstellation gute wie auch schwierige Momente – und genau so geht es mir als Mutter ja auch. Mir ist es wichtig, den Zusammenhalt zwischen meinen Kindern zu fördern und nach wie vor gelegentlich gemeinsam in die Ferien zu fahren, damit wir uns als Familie länger erleben als nur ein Wochenende.
Ich merke, dass das gegenseitige Verständnis und das Interesse unter den Geschwistern füreinander grösser wird, je älter die kleine Schwester wird. Es gibt immer mehr gemeinsame Themen unter den grossen und kleinen Kindern und ich blicke schon heute mit Spannung auf die Zeit, in der der Altersunterschied der Kinder kaum mehr eine Rolle spielen wird und sie sich auf Augenhöhe begegnen werden.