Valerie Wendenburg

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«Wie sage ich es meiner Mutter?»

Erschienen am 26. November 2021 im jüdischen Wochenmagazin «tachles» .

Wie ist es für Sie, nach all den abgesagten Anlässen während des Lockdowns endlich wieder auf Lesereise zu sein?
Ich hatte Glück, da ich dieser Pandemie recht gut entwischt bin. Immerhin durfte ich Filme drehen und ich habe noch nie in meinem Leben so viele Dokumentationsfilme produziert wie in den zwei Jahren. Das war meine Rettung, da ich keine Russendiskos und auch keine Lesungen machen durfte. Ich musste mir zwar fast jeden Tag mit dem Stäbchen in der Nase bohren und mich auf Corona testen lassen, aber die Filmarbeiten waren möglich. Seit einiger Zeit sind ja auch Open-Air-Veranstaltungen wieder erlaubt, mir war also nicht langweilig. Alle Veranstalter sind ja seit Mai total bemüht, so schnell wie möglich so viele Veranstaltungen wie möglich zu organisieren, da wir in Deutschland ja in diesem Herbst, also jetzt, eigentlich schon wieder unter Hausarrest kommen sollten. 

Worüber haben Sie ihre Filme gedreht? 
Für einen Film bin ich durch die ganze Schweiz gereist und habe Musikerinnen und Musiker getroffen und porträtiert. Eine junge Frau zum Beispiel, die auf dem Alphorn Miles Davis spielt, war so eindrücklich, dass alle Kühe im Umkreis von zwei Kilometern zu ihr kommen. Dann haben wir Dieter Meyer, den Sänger von «Yellow», in Zürich getroffen und weitere interessante Persönlichkeiten. Ich habe in der Schweiz aber keine Russendisko entdeckt, für so ein Projekt würde ich bei Interesse natürlich sofort bereitstehen.

Sie haben aber auch viel geschrieben, zwei Bücher ihrer Corona-Trilogie sind bereits erschienen.
Ich nenne diese Bücher Corona-Trilogie, aber meinem Verlag ist das gar nicht so recht. Er ist der Meinung, dass allein das Wort Corona die potenzielle Leserschaft abschreckt. Ich finde das aber nicht. Es geht in der Trilogie aber tatsächlich gar nicht nur um Corona, sondern um die Entstehung einer neuen Welt. Sie bildet sich vor unseren Augen und bringt viel Leid mit sich. Aus meiner Sicht ist Corona nur ein Beschleuniger der ohnehin anstehenden Veränderungen. Unsere Welt interessiert mich.

«Die Menschheit muss jetzt einen neuen Weg suchen, den sie weitergehen möchte.»

Worum geht es denn im dritten Teil dieser Trilogie?
Dieser dritte Teil trägt bei mir den Arbeitstitel: «Wie sage ich es meiner Mutter?» Meine Kinder kritisieren das Verhalten meiner Mutter, die bald 90 Jahre alt wird, die Jungen belehren ja heutzutage die Alten. Meine Kinder sind 20 plus, und sie erzählen der Oma, wie das Leben funktioniert, sagen ihr, was heute richtig und falsch ist. Aber meine Mutter versteht das alles nicht, ich bin mittendrin und fungiere als Übersetzer. Das ist nicht immer einfach, zum Beispiel bei der Gender-Problematik. Meine Tochter studiert Gender-Studies. Der feministische Diskurs ist für meine Mutter in weiten Teilen neu.

Im Buch «Wellenreiter» geht es ja aber doch vor allem um die Pandemie und das Verhalten der Menschen in dieser Extremsituation.
Die Menschheit muss jetzt einen neuen Weg suchen, den sie weitergehen möchte. Unsere biologische Evolution ist abgeschlossen, wir werden keinen siebten Finger oder zweiten Kopf mehr bekommen. Also müssen wir mit diesem einen Kopf, der uns gegeben ist, unser Verhalten so verändern, dass wir wieder für den Planeten genehm sein werden. Mit Konzerten und Kultur können wir viel bewirken und diesen Weg besser gehen. Die Welt wird sich verändern müssen, und es macht mir riesigen Spass, darüber zu schreiben. 

Sie gehen in ihrem Buch ja auch auf neue Wörter ein, die während der vergangenen Zeit geschaffen wurden.
Ja, ich habe die Poesie neu entdeckt. Plötzlich veränderte sich die Sprache so krass – es ist eine Mischung aus Bürokratie und Wahnsinn. Und diese Mischung ist eigentlich das beste Rezept für die deutsche Romantik. Das ist Friedrich Schiller, auch er ist in meinen Augen eine Mischung zwischen Buchhaltung und Träumer. Die Sprache, die nun während Corona entstanden ist, finde ich total faszinierend.

Sie haben im Anhang Ihres Buches ein «Corona-Wörterbuch» verfasst und neu geschaffene Worte für die Nachwelt festgehalten.
«Bewegungsradius» und «Impfpriorisierung» sind doch tolle neue Erfindungen. Neuerdings bin ich auch «Impfluencer», weil ich russische Werbung für die Impfung mache. Der Chef vom russischen Radio in Berlin rief mich an und war im Auftrag der Bundesregierung auf der Suche nach russischen Persönlichkeiten, die Werbung für die Covid-Impfung machen. Nun war es für den Chef des Radios ein Problem, russische Prominente zu finden, die geimpft sind. Da habe ich dann gleich aus Solidarität zugesagt. Wir dürfen das Land ja nicht den anderen überlassen, habe ich gesagt – es kann ja nicht sein, dass alle anderen überleben und wir Russen aussterben (lacht).

Die Situation in Russland selbst ist ja im Hinblick auf Covid auch sehr angespannt.
Es ist eine Tragödie. Wir haben einen guten Impfstoff, alle Menschen könnten sich impfen lassen. Aber der Präsident spielt hier eine wichtige Rolle. Wladimir Putin macht sehr merkwürdige Dinge und ich frage mich immer: Ist das jetzt Absicht oder Versehen? Putin sagt zwar, er sei geimpft, habe aber zahlreiche akademische Freunde, die sich nicht impfen lassen würden. Er sagt, er verstehe diese Menschen. Warum äussert er sich so? Der Präsident sendet doch Signale aus und provoziert. Ich kann ihm ja nicht unterstellen, dass er eine Million Menschen umbringen möchte. Andererseits wäre es gut für ihn, wenn alle Rentner auf einen Schlag weg wären. Die Situation im Land ist wirklich tragisch. Putin sagt ständig ambivalente Dinge und verunsichert die Menschen sehr. 

In Deutschland sind ja die sogenannten Querdenker auf die Strasse gegangen, unter die sich auch die rechte Szene gemischt hat. Ist der Antisemitismus angestiegen? 
Antisemitismus ist ja ein Teil der herrschenden Weltangst. Was passiert mit uns? Diese Frage treibt die Menschen um. Die Angst vor dem Unbekannten und dem Fremden ist da und mit ihr die Suche nach dem Sündenbock. Die Juden waren ja von Beginn der Pandemie an Inhalt von Verschwörungstheorien. Mir war vorher ehrlich gesagt neu, dass die Plexiglasindustrie fest in jüdischer Hand ist. 

«Wir alle haben diesen Druck des Antisemitismus, mit dem wir aufgewachsen sind.»

Werden Sie persönlich in Deutschland mit Antisemitismus im Alltag konfrontiert?
Nein. Meine Kinder bewegen sich in der linksradikalen Szene, die sich schon immer gerne auf die Seite der Palästinenser geschlagen hat. Bei den eigenen Kinder musste ich schon oft Aufklärungsarbeit leisten und ihnen erklären, was an diesen Theorien möglicherweise nicht hundertprozentig stimmt. Sonst habe ich in dieser Hinsicht keinerlei Probleme. Antisemitismus war mehr in meiner Kindheit in der Sowjetunion ein Thema.

Sie sind auch beteiligt an dem Comic «Antisemitismus für Anfänger», das im Ariella-Verlag erscheinen ist. Kann man über Antisemitismus lachen?
Ja, sicher, das kann man sehr wohl. Das Buch ist grandios. Ich selbst habe sehr über die Comics gelacht. Da sind auch prima Geschichten dabei und meine ist sicher nicht die lustigste. Bei der Arbeit zu diesem Buch habe ich viele jüdische Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland kennengelernt und es ist sehr spannend zu sehen, wie unterschiedlich wir aufgewachsen sind und leben. Dieser Mix ist sehr spannend und spiegelt sich auch im Buch wieder. Unter den Autoren sind Atheisten oder Rabbiner, aber wir alle haben diesen Druck des Antisemitismus, mit dem wir aufgewachsen sind. Die einen mehr, die anderen weniger. Ich persönlich hatte in der ehemaligen Sowjetunion mit Antisemitismus viel mehr zu tun als in Deutschland. Aber vielleicht hat das auch mit meiner Position heute zu tun. Ich habe in der Zusammenarbeit mit den anderen Künstlern wieder einmal gemerkt, dass das Leid mehr verbindet als jeder Glaube. Es gibt ja eine Sonderausstellung zu dem Buch, sie wäre sicher auch in der Schweiz sehenswert.

Sind Sie jüdisch aufgewachsen und erzogen worden?
Ja, meine Familie ist durch und durch jüdisch. Ich habe überhaupt keine nicht jüdische Verwandtschaft, alle kamen so ziemlich aus der gleichen Ecke und haben sich auch so benommen – von daher war das Judentum schon immer ein Thema für mich, auch in der Sowjetunion, wo als Nationalität «Jude» im Pass stand. Ich habe meine jüdische Identität nicht mit Würde getragen, aber ich habe sie getragen, auch in der Armee, wo ich der einzige Jude war. Das war eine ziemliche Katastrophe, aber ich habe mich nicht kleinkriegen lassen und habe viel Aufklärungs-arbeit geleistet.

Haben Sie die aktuelle Debatte darüber verfolgt, wer jüdisch ist und wer nicht? Es geht ja um die Rolle der Vaterjuden.
Ich finde schlimm, dass die Juden selbst das zu einem Politikum machen. Aber es ist wohl unvermeidbar, das solche Themen zum Vorschein kommen, weil die Leute sehen, dass die gesellschaftliche Aufmerksamkeit da ist und die Menschen bei diesen Themen sofort wach werden. Es gibt immer Menschen, die auf diesem Zug fahren wollen, aber ich mache da nicht mit.

Was sind denn Ihre nächsten Pläne?
Ich träume davon, wieder zu reisen. Andere Länder näher kennenzulernen. Vor allem solche, die in die Europäische Union aufgenommen werden möchten, aber noch aussen stehen. Georgien, Bosnien oder andere «uneheliche Kinder Europas», Länder wie diese interessieren mich sehr – auch als kommende Buchprojekte. Die Arbeit und Lust am Schreiben geht mir nicht aus.

Wladimir Kaminer: Wellenreiter. Goldmann Verlag, München 2021.