Valerie Wendenburg

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«Wir brauchen eine neue Vision für Israel»

Der israelische Romancier Eshkol Nevo spricht über sein neues Buch, über Sigmund Freud, Theodor Herzl und über Visionen für Israel 70 Jahre nach der Staatsgründung.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 13. April 2018

In Ihrem neuen Roman «Über uns» erzählen Sie von drei Menschen, die auf unterschiedlichen Etagen eines Apartmenthauses in einem Vorort von Tel Aviv leben. Jeder von ihnen ist auf seine Weise unglücklich und stellt sich Fragen nach Liebe, Freundschaft, eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Eine der Protagonistinnen, Dvorah Edelmann, ist schon pensioniert – endet die Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben nie? Werden wir nie erwachsen?
Was für eine schöne erste Frage. Als ich eine Lesung in einem Altersheim hatte, habe ich mich vorher mit der Leiterin unterhalten. Ich habe sie gefragt: «Wie ist das Leben hier, spielen sich unter den Betagten auch Liebesgeschichten ab? Gibt es Romanzen, Eifersucht, Dramen?» Die Frau sah mich an und sagte: «Machen Sie Witze? Dieser Ort hier ist verrückt, es wimmelt von Lovestorys.» Ich denke, das Bedürfnis nach Interaktion hat mit dem Alter ebenso wenig zu tun wie das Empfinden von Einsamkeit. Jeder Mensch ist ja aus einem anderen Grunde einsam. Chani in meinem Buch ist einsam, weil sie mit ihren Kindern immer alleine zu Hause ist. Dvorah ist einsam, weil sie keinen Kontakt zu ihrem Kind hat. Sie sind unterschiedlich alt, suchen aber beide nach
einem Weg aus der Einsamkeit. Das ist sehr menschlich. Diese Bedürfnisse ändern sich im Alter nicht. Ich selbst habe immer gedacht: Eines Tages bin ich erwachsen und ein weiser Mann ohne Konflikte, aber dieser Zustand ist bisher nicht eingetreten …

«Rein statistisch gesehen würden 95 Prozent aller Frauen eher ihren Partner als ihr Kind verlassen.»

Das Buch stellt die Frage nach einem glücklichen Zuhause. Wo und wie kann man es finden?
In meinem Buch «Vier Häuser und eine Sehnsucht» habe ich die Frage gestellt, ob es überhaupt ein Zuhause gibt. In «Über uns» ist ganz klar, dass dieser Ort dort ist, wo die Kinder leben. Die Frage in diesem Buch ist: Sind die Menschen in ihrem Zuhause glücklich? Manche Menschen arbeiten sehr hart daran, ihrem Leben eine Struktur zu geben, und dann merken sie, dass sie sich ihr eigenes Gefängnis erschaffen haben. Jeder der Charaktere im Buch stellt sich die Frage, wie Partnerschaft und Elternsein miteinander funktionieren können. Das ist ein Grund, warum der Roman auf drei Etagen spielt. In jeder Wohnung geht es in unterschiedlicher Weise um Menschen, die versuchen, Partner, Liebhaber, Mutter oder Vater zu sein – und manchmal funktioniert es einfach nicht zusammen. Ganz davon zu schweigen, die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu leben. Dvorah muss sich entscheiden: Sohn oder Ehemann. Sie entscheidet sich auf sehr ungewöhnliche und vor allem auf eine sehr «unjüdische» Weise, indem sie den Kontakt zu ihrem Sohn abbricht. Rein statistisch gesehen würden 95 Prozent aller Frauen eher ihren Partner als ihr Kind verlassen. Wahrscheinlich würden sogar 99 Prozent aller Frauen anders entscheiden als Chani und keinen Kriminellen ins Haus lassen, wenn die Kinder auch dort sind. Als Autor kann ich den ungewöhnlichen Weg gehen und damit spielen, was geschieht, wenn Menschen ausserhalb der Norm handeln. Deswegen liebe ich das Schreiben.

Die Geschichten auf den drei Etagen verweisen auf Sigmund Freuds Modell der Psyche des Menschen, die aus den drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich besteht. Wie sind Sie auf diese geniale Idee gekommen?
Es glaubt mir niemand, aber ich hatte den Einfall nicht von Beginn an. Er kam mir erst beim Schreiben der zweiten Geschichte und war nicht der Grund, das Buch zu schreiben. «Über uns» wirkt sehr strukturiert, aber ich hatte zuerst gar kein Konzept im Kopf, habe wirklich einfach drauflosgeschrieben. Erst nach einer Weile habe ich die Struktur erkannt und grosse Erleichterung gespürt. Von dort aus habe ich begonnen, das Buch fertigzuschreiben, und die drei Etagen konstruiert.

Eshkol Nevo (© Valerie Wendenburg)

Arnon erzählt seine Probleme einem Freund, Chani schreibt einen Brief an ihre alte Freundin und Dvorah bespricht den Anrufbeantworter ihres verstorbenen Mannes. Alle drei sind mit ihren Geheimnissen und Sorgen allein, die Leser werden zum vertrauten Zuhörer. Die Szenen erinnern teilweise an eine Beichte.
Ich habe sehr stark an die Beichte gedacht, während ich das Buch geschrieben habe, es gibt ja auch eine Szene im Buch, in der Chani beichten möchte. Ich habe mich gefragt: Wenn man nicht religiös ist, wenn es keinen Priester oder Rabbiner gibt, an den man sich wenden kann, wem kann man sich mitteilen, abgesehen von Psychologen? Wem können wir unsere Geheimnisse und unsere Sünden anvertrauen, und was gilt in unserer Welt als Sünde? Was bereuen wir? Mein Buch ist ein gottloses Buch, und daher versuchen die Protagonisten, jemanden zu finden, dem sie sich anvertrauen können, um weniger alleine mit ihrer Schuld zu sein. Jeder wählt einen eigenen, sehr nachvollziehbaren Weg.

Die Geschichten spielen in der Nähe von Tel Aviv. Welche Rolle spielt Israel in Ihrem Roman?
Das Buch ist in einem Vorort angesiedelt, das ist wichtig. Ich war gestern in Norderstadt bei Hamburg, es könnte auch dort spielen. Natürlich kommen in meinem Roman immer israelische Elemente vor, da ich Israeli bin. Arnon zum Beispiel ist ein typischer Israeli. Auch die Demonstrationen, die ich beschreibe, sind typisch israelisch. Aber «Über uns» ist bei weitem mein universellstes Buch. Ich denke, es ist auch daher das erfolgreichste Buch ausserhalb Israels, das ich bisher veröffentlicht habe. Zum ersten Mal habe ich Leser in den USA, das Buch ist ein Erfolg in Rumänien, und es ist das erste, das auf Russisch übersetzt wird. Das Buch spielt in Israel, aber die Bedürfnisse, Wünsche und Geheimnisse der Menschen sind universell.

«Mit der richtigen Regierung kann Israel ein fantastischer Ort sein.»

Im Roman kommen die Demonstrationen von 2011 vor. Sie haben sich daran beteiligt und in der Zeit sogar aufgehört, Bücher zu schreiben.
Ich habe die Demonstrationen damals miterlebt, habe mit den jungen Leuten geredet, sie motiviert und mich auf meine Weise engagiert. Das Schöne an den Protesten war ja, dass sie mit praktischen Forderungen nach zum Beispiel günstigeren Mieten begannen. Aber sie mündeten in zutiefst menschlichen Bedürfnissen, es ging auch darum, wie wir aufeinander hören, miteinander umgehen und diskutieren. Die Öffnung gegenüber anderen Gruppen innerhalb der israelischen Gesellschaft war auch ein Thema. Für mich war das damals eine wunderbare Erfahrung, und ich habe mich stark engagiert. Ich habe zwei Jahre lang nicht mehr geschrieben, weil ich mich einbringen wollte. Nach aussen hin mögen die Proteste gescheitert sein, aber auch wenn wir immer noch den selben Premierminister haben, der sich nicht um die Bedürfnisse der Menschen schert, haben viele Leute damals ihr Leben geändert. Ich zähle mich dazu. Die Menschen wurden politischer, achtsamer. Einige sind ausgewandert, viele von ihnen nach Berlin. Diejenigen aber, die nach wie vor in Israel sind, haben diese Proteste als einen sehr hoffnungsvollen Moment erlebt. Und auch ich bin heute voller Hoffnung. Ich habe beeindruckende und wunderbare Menschen kennengelernt. Mit der richtigen Regierung kann Israel ein fantastischer Ort sein.

Dvorah sagt in ihrem Roman: «Der Zionismus ist gerade dabei zu unterliegen, und die Menschen in diesem Haus schlafen, während dies geschieht.» Wie steht es um Theodor Herzls Visionen heute?
Ich denke, wir entfernen uns immer mehr von der zionistischen Idee. Aus diesem Grund habe ich damals «Neuland» geschrieben. Wenn man die Visionen von Herzl anschaut, so sind wir im Moment weit von ihnen entfernt. Herzl hatte die Vorstellung, dass der jüdische Staat von einer pluralistischen, fortschrittlichen Gesellschaft getragen wird, er sollte ein «Licht für die Völker» sein. Nun ja, wenn ungefähr die Hälfte der Regierung in Korruptionsskandale verwickelt ist, dann sind wir wohl kaum ein leuchtendes Beispiel. Ausserdem hat Herzl nicht geahnt, wie brutal der Konflikt mit unseren Nachbarn sich gestaltet, den wir im Moment nicht einmal zu lösen versuchen. Herzl konnte sich zudem nicht vorstellen, was für ein religiöses Land Israel heute ist. Es gibt so viele Punkte, die zeigen, dass wir immer weiter von Herzls Visionen abdriften – aber das muss keine Einbahnstrasse sein! Es gibt nach wie vor so vieles in Israel, auf das wir sehr stolz sein können. An allererster Stelle auf die Tatsache, dass Israel das Territorium für Juden ist. Das ist gerade zurzeit extrem wichtig, da sich viele Juden in der Diaspora nicht mehr sicher fühlen. In meiner Stadt Raanana ist neuerdings Französisch die zweite Sprache. Es gibt Baguette-Shops, die Hälfte der Kinder in der Klasse meiner Tochter sind Franzosen. Das war vor fünf Jahren noch anders. Es ist gut, dass die Juden in aller Welt wissen, dass sie immer nach Israel kommen können. Ganz abgesehen davon ist die Kultur in Israel wirklich beeindruckend, auch wenn die Regierung sie kaum würdigt.

Wie beurteilen Sie das Zusammenleben der ultraorthodoxen und der säkularen Juden im Land? Gibt es eine Kluft zwischen beiden Gruppen?
Sicher, es gibt Differenzen, aber die Menschen in Israel können damit umgehen. In Raanana gibt es eine grosse religiöse Gemeinschaft, aber das Leben dort funktioniert in gegenseitigem Respekt ganz wunderbar. Es steht und fällt mit der Politik: Wenn eine Regierung Visionen hat, können Kompromisse eingegangen werden. Jeder Mensch ist Part der Gesellschaft und hat das Recht, ein freies Leben zu führen. In Raanana ist am Schabbat alles geschlossen, aber ausserhalb der Stadtgrenze ist das Angebot vorhanden: Kinos, Restaurants, Bars, alles, was säkulare Juden wünschen. Das Zusammenleben klappt wirklich gut, niemand fühlt sich eingeschränkt. Man kann immer Wege finden, wenn man offen ist und nicht versucht, dem Gegenüber seinen Lebensstil aufzudrängen. Auch in meinen Kursen, an denen ich Kreatives Schreiben unterrichte, sind religiöse und säkulare Studierende, es ist nie ein Problem. Es herrscht Respekt, wir diskutieren und leben gut miteinander. Wir sprechen dort über Einigendes und nicht über Trennendes.

«Wenn ich mich mit meinen palästinensischen Freunden und Bekannten unterhalte, dann spüre ich, dass die Ansichten gar nicht so unterschiedlich sind.»

Sehen Sie eine Lösung für den Konflikt zwischen Israeli und Palästinensern?
Mit der aktuellen Regierung in Israel wird es keine Lösung geben. Aber es kann sich ändern! Wenn ich mich mit meinen palästinensischen Freunden und Bekannten unterhalte, dann spüre ich, dass die Ansichten gar nicht so unterschiedlich sind. Sicher, ich habe auch erlebt, dass es unüberbrückbare Differenzen gab. Aber die Kluft ist nicht so gross, wie man immer meint. Mit der richtigen Regierung und Unterstützung aus dem Ausland könnte der Konflikt gelöst werden. Ich möchte betonen, dass
ich trotz der aktuellen Situation sehr hoffnungsvoll bin. Zum einen waren wir unter Itzhak Rabin sehr, sehr nahe an einer friedlichen Lösung. Ich kann und möchte nicht pessimistisch sein, ich liebe mein Land, in dem ich weiterhin leben möchte. Ich liebe Hebräisch, ich bin immer wieder glücklich, zurück nach Israel zu kommen.

Sie kommen aus einer politischen Familie, Ihr Grossvater Levi Eshkol war Premierminister in Israel. Könnten Sie sich vorstellen, in die Politik zu gehen?
Ja, ich bin in einer Familie aufgewachsen, die sich sehr stark für Politik interessiert hat. Aber im Moment kann ich mir ein Leben in der Politik nicht vorstellen. Erstmal müsste ich stark zunehmen, um auf der politischen Bühne eine gute Figur zu machen (lacht). Wissen Sie, ich liebe mein Leben. Ich schreibe, ich unterrichte, ich verbringe viel Zeit mit meinen Töchtern, die mich brauchen. Wenn man sich dazu entschliesst, in die Politik zu gehen, kann man keine halben Sachen machen. Es ist kein Halbtagsjob. Ich könnte dies tun, aber nicht im Moment. Wie es in 15 Jahren aussieht, kann ich nicht sagen. Ich könnte mir vorstellen, auf nationaler Ebene im Bereich der Bildung zu arbeiten, zum Beispiel als Manager eines Bildungsprojekts. Aber sicher nicht heute. Ich unterrichte gerne und möchte noch mehrere Bücher schreiben. Ein Roman ist bereits beendet, und wenn ich den Mut dazu habe, kommt er im Sommer in Israel auf den Markt. Es ist ein ungemein persönliches Buch.

Israel begeht nun sein 70-Jahr-Jubiläum. Welches sind die grössten Herausforderungen für das Land?
Wir brauchen eine neue Vision für Israel. Wenn ich an die Umstände denke, unter denen Herzl im Jahr 1902 «Altneuland» publizierte, dann sind das gänzlich andere als die, in denen wir heute leben. Die Herausforderung liegt darin, eine neue Vision zu entwickeln. Heute haben die Politiker keinerlei Visionen, nicht einmal vor Wahlen werden solche geäussert. Aber es muss möglich sein, eine Vision zu schaffen, die für alle in Israel lebenden Men-schen gültig ist, auch wenn dies für viele undenkbar ist. Was man nicht vergessen darf: Wir haben zurzeit einen wundervollen Präsidenten. Reuven Rivlin findet in jeder seiner Reden einen Weg, die Menschen zu vereinen. Jemand wie er könnte Wege finden, die israelische Gesellschaft zusammenzubringen. Ich werde die Hoffnung daran nicht verlieren.

Eshkol Nevo: Über uns. dtv, Berlin 2018