Valerie Wendenburg

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«Wir müssen miteinander reden»

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 25. November 2022.

Der Saal ist abgedunkelt und bis auf den letzten Platz besetzt. Da die vorhandenen Stühle nicht ausreichen, verfolgen die Anwesenden teilweise sogar stehend den Anlass im Basler kHaus mit dem Israeli Rami Elchanan und dem Palästinenser Bassam Aramin. Es ist die letzte Station ihrer Schweiz-Reise. Auch in Bern, Genf, Zürich und weiteren Städten haben die beiden befreundeten Männer das Publikum bereits in den Bann gezogen. Der Abend beginnt mit einer Lesung aus dem Roman «Apeirogon» von Colum McCann, in dem der Autor die ergreifende Geschichte der beiden Männer erzählt und sie auf diese Weise weltweit bekannt gemacht hat.

Rami Elchanan, Jochi Weil mit Salva und Bassam Aramin (v.l.n.r.)

Beide haben ihre Töchter im israelisch-palästinensischen Konflikt verloren und sind nun durch ihren Schmerz und ihre Hoffnung miteinander verbunden. Aus dem Buch liest der Schauspieler Georg Darvas, moderiert wird der Anlass von Dana Landau von der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace. Sowohl die Lesung wie auch das Gespräch gehen den Zuschauern nahe, denn die Geschichte der beiden Männer ist tragisch und hoffnungsvoll zugleich. Kennengelernt haben sie sich im «Parents Circle – Families Forum», dem palästinensische und israelische Familien angehören, die ein Familienmitglied im Konflikt verloren haben.

Eine ungewöhnliche Freundschaft
Vereint durch ihren Verlust versuchen die Familien, gemeinsam einen Weg hin zu Versöhnung und Frieden zu finden. Rami Elchanan erzählt zuerst seine Geschichte, die grund-legend anders ist als die seines Freundes Bassam Aramin – und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Beide sind zwar in einem Land, aber in völlig unterschiedlichen Welten aufgewachsen, beide hatten, wie sie heute sagen, ein falsches Bild des vermeintlich anderen im Kopf, bevor ihr Leben eine grausame Wendung nahm. Der Tod ihrer Töchter hat sie aber nicht nur verzweifeln lassen, sondern beide auf ihre Weise dazu bewegt, den vermeintlichen Feind kennenzulernen und der Ursache des Konflikts auf den Grund zu gehen. Die Frage, was getan werden kann, um Frieden zu erreichen und andere Familien vor einem Unglück zu bewahren, brachte die beiden Männer dazu, sich in der Öffentlichkeit für Versöhnung und Verständigung einzusetzen. Nach dem Motto «Wir müssen miteinander reden» besuchen sie Schulen und Veranstaltungen und erzählen ihre Geschichte einer ungewöhnlichen und berührenden Freundschaft, die beweist, dass Frieden möglich ist.

«Kritik an Israel ist kein Antisemitismus»
In Gesprächen miteinander wurde beiden Männern klar, dass Israeli und Palästinenser im Grunde beide für Freiheit und Frieden kämpfen. Aber auch wenn das gegenseitige Verständnis vorhanden ist, ist die Situation schwer zu lösen, so Bassam Aramin: «Die Israeli werden ihr Land nicht aufgeben und wir werden die Besatzung nicht akzeptieren.» Beide Freunde sehen die Besatzung als den eigentlichen Grund für den Tod ihrer Töchter und für alle Opfer des Konflikts. Rami Elchanan betont, dass Israel bis heute keinen Preis für die Besatzung zahle und die internationale Gemeinschaft der Regierung daher Grenzen aufzeigen müsse: «Kritik an Israel ist kein Antisemitismus» sagt der tief im Judentum verwurzelte Elchanan, der sich zudem äusserst besorgt über die neue israelische Regierung äussert. Vor allem aber ruft er alle Juden und Jüdinnen dazu auf, endlich ihre Opfermentalität zu überwinden. «Wir dürfen uns nicht länger als Opfer sehen und andere zu Opfern machen», sagt er.

Eine neue Perspektive
Neben den Erzählungen beider Männer kam auch die Friedensforscherin Inbal Ben Ezer zu Wort. Aus ihrer Sicht vereint Rami Elchanan und Bassam Aramin die Tatsache, dass beide in einer traumatischen Situation einen Per-spektivenwechsel zugelassen haben. Sie haben sich aktiv einer friedlichen Lösung ihrer Situation zugewandt. Dies sei vor allem mithilfe von Begegnung möglich, die Parents Circle ermögliche. Dadurch, dass beide Männer sich kennengelernt und Begegnung zugelassen haben, ist es ihnen gelungen, ihren Glauben an die Möglichkeit einer Aussöhnung zu bewahren. Der Anlass wurde von Ina autra senda – Swiss Friends of Combatants for Peace, den Schweizer Freundinnen und Freunden von Neve Shalom/Wahat al-Salam und Swisspeace organisiert. Federführend für die Organisation der Veranstaltungsreihe war Jochi Weil, der sich seit vielen Jahren für einen Frieden zwischen Israel und Palästina engagiert. Die Abende mit Rami Elchanan und Bassam Aramin sind der überzeugende Beweis dafür, dass dies, zumindest im persönlichen Bereich, gelingen kann.

Colum McCann: Apeirogon. Rowohlt Verlag, Berlin 2020.