Valerie Wendenburg

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Wohin kann ich fliehen?

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 8. Oktober 2021.

Der Originaltitel Ihres neuen Buches heisst «Relocation». Die israelischen Protagonisten Lilach, Michael und ihr Sohn Adam leben im amerikanischen Silicon Valley. Zieht es viele Israeli in die Vereinigten Staaten von Amerika? 
Ja. Für viele meiner Generation ist der israelische Traum, den amerikanischen Traum zu leben. Wir in Israel benutzen auch das englische Wort «Relocation», es ist der Begriff für Israeli, die in die USA ziehen. Allein dieses angelsächsische Wort vermittelt vielen Menschen schon das Gefühl von einem Leben in Kalifornien. Nach vielen Jahren, in denen es viele Juden vor allem nach Israel gezogen hatte, hat sich nun etwas verändert. Es gibt immer mehr Menschen, die denken, sie und ihre Kinder seien in Palo Alto sicherer als in Tel Aviv. Ein weiteres Argument für ein Leben in den USA ist die Tatsache, dass die israelischen Kinder im Falle einer Auswanderung nicht in die israelische Armee gehen müssen.

Zu Beginn des Romans wird am jüdischen Neujahrsfest ein Terroranschlag auf die Synagoge in Palo Alto verübt. Dies ist ein Schock, nicht nur für Lilach und ihre Familie, die aus ihrem Traum erwacht und merkt, dass das Leben in Amerika nicht so sorglos ist wie erhofft.
Die Terrorattacke basiert auf dem realen Attentat auf die Synagoge Tree of Life in Pittsburgh im Jahr 2018. Damals sagten sehr viele Juden, sie hätten sich niemals vorstellen können, dass so etwas in den USA geschehen könnte. Solche Anschläge gäbe es in Europa, aber doch nicht in Amerika! Es herrschte lange Zeit die Ansicht, es gebe keinen Antisemitismus in den USA. Ich denke, das war immer ein Wunschdenken. Lilach verkörpert für mich die Frau, die den Traum pflegt, dass ihre Familie nun an einem sicheren Ort ist. Mit ihrer Ankunft in den USA wollte sie ihre israelische Identität ablegen wie einen Mantel. Plötzlich merkt sie, dass ihr Traum platzt, dass sie diesen Mantel niemals einfach von sich werfen kann. Denn selbst wenn du dich selbst nicht mehr als jüdisch definierst, so wird es jemand anderes tun.

Sie haben ja selbst mit Ihrer Familie in Kalifornien gelebt – wurden Sie dort mit Antisemitismus konfrontiert?
Nein, als ich dort lebte, bin ich keinerlei Antisemitismus begegnet. Aber ich kenne das Gefühl gut, wenn man realisiert, dass man im Ausland als Jude wahrgenommen wird, obwohl man das gar nicht möchte. Ich möchte mich selbst nicht als «die Jüdin» oder als potenzielles Opfer sehen, aber natürlich werde ich in anderen Ländern doch immer wieder genau so wahrgenommen.

«Für viele meiner Generation ist der israelische Traum, den amerikanischen Traum zu leben.»

Während des Attentats auf die Synagoge in Palo Alto sind Verwandte Israeli bei Lilach und ihrer Familie zu Besuch. Sie können nicht nachvollziehen, dass sich die amerikanischen Juden überhaupt nicht zur Wehr gesetzt haben. Sind die Israeli besser auf solche Ereignisse vorbereitet?
Ich glaube, die Israeli leben in einem permanent wachen Zustand, sie sind immer bereit, auf einen Anschlag zu reagieren. Es kann jederzeit etwas Schlimmes geschehen. In den Neunzigerjahren war es völlig selbstverständlich, in jedem Raum, den man betrat, zuerst den Notausgang zu suchen. Wohin kann ich fliehen? Diese Frage war existenziell. In den USA haben die Juden sich bis zu den Anschlägen in falscher Sicherheit gewähnt. Die Israeli verurteilen ihre «amerikanischen» Verwandten, sie sind der Meinung, man dürfe sich nie auf die Hilfe anderer verlassen und müsse sich immer selbst verteidigen können.

Im Laufe des Romans wird Lilach mit der Frage konfrontiert, ob ihr Sohn Adam seinen Mitschüler Jamal ermordet hat. Sie hat Angst, die Wahrheit zu erfahren. Lebt sie lieber in Ungewissheit als mit einer möglichen grausamen Wahrheit?
Lilach hat als Mutter zwei Seelen in ihrer Brust. Sie ist Detektivin und Beschützerin zugleich. Einerseits möchte Lilach die Wahrheit unbedingt wissen, sie fragt Adam ja auch recht klar während ihrer Reise nach Mexiko. Ein anderer Teil von ihr aber möchte ihren Sohn einfach nur glücklich und in Sicherheit wissen. Sie ist gefangen zwischen diesen beiden Rollen, sie kann sich nicht von ihrer Mutterrolle lösen. Im Grund möchte Lilach Adam vor allem beschützen, die Frage ist nur, vor wem? Vor etwas Fremdem oder eher vor sich selbst?

 

Im Buch geht es auch um Mobbing und das Thema, dass man oft gar nicht genau weiss, wie es den eigenen Kindern im Alltag wirklich ergeht. Lilach verbringt recht viel Zeit mit ihrem Sohn, aber er öffnet sich kaum und sie erfährt im Grunde sehr wenig von ihm.
Das stimmt. Die Vorstellung finde ich wirklich schockierend, so viel Zeit mit den eigenen Kindern zu verbringen und nicht zu ahnen, was in ihnen vorgeht und was sie belastet. Es ist schlimm, sich im eigenen Haus fremd zu fühlen, weil einem die Menschen, von denen man umgeben ist, fremd sind. Jedes einzelne Familienmitglied lebt isoliert wie eine kleine Insel im Ozean. Lilach und ihr Mann Michael haben ja immer die Sorge und Vermutung, Adam könnte ein Opfer von Mobbing sein. Diese Vorstellung ist für Lilach leichter zu ertragen, als ihren Sohn als Aggressor zu sehen.

Sehr bewegend ist eine Szene, in der Lilach die Mutter des verstorbenen Jamal besucht. Die Grenze zwischen Opfer und Aggressor ist hier sehr fliessend beschrieben.
Es freut mich, dass Sie dieses Kapitel ansprechen, denn es ist mir sehr wichtig. Man weiss einfach nicht: War Jamal eine Bedrohung für Adam? Oder war es umgekehrt? Das ist nicht klar zu sagen.

«Aufgrund der kollektiven Erinnerung der Schoah möchten sich die Juden nie wieder hilflos fühlen.»

Welche Rolle spielt im Buch Uri, der nach dem Attentat auftaucht und für Jugendliche wie Adam Selbstverteidigungskurse anbietet? Er nimmt immer mehr Platz in der Familie ein, wird ein Vorbild für Adam, arbeitet zusammen mit Michael, und auch Lilach fühlt sich von ihm angezogen.
Nach dem Anschlag in der Synagoge stehen alle amerikanischen Juden unter Schock und fühlen sich hilflos. Aufgrund der kollektiven Erinnerung der Schoah möchten sie sich aber nie wieder hilflos fühlen. Dann erscheint der Israeli Uri, der die Kinder lehrt, sich zu wehren. Für Adam, der seine jüdische Identität erst aufgrund des Terroranschlags überhaupt wieder spürt, ist dies sehr wichtig. Das erste Mal im Leben fühlt er sich als Teil einer grossen Sache, als Teil einer Gemeinschaft. Er fühlt sich plötzlich nicht mehr alleine. Auch Lilach ist zu Beginn dankbar, dass Uri sich ihres Sohnes annimmt und ihn aus seiner Verschlossenheit holt. Zudem findet sie die Kraft und maskuline Stärke, die Uri ausstrahlt, attraktiv.

Dennoch ist sie aber auch skeptisch ihm gegenüber.
Ja, denn sie spürt, dass er ein diffiziler Charakter ist. Sie ist eine kluge Frau und erkennt die gefährlichen Seiten seines Wesens.

«Wo der Wolf lauert» ist Ihr viertes Buch. Haben Sie neue Pläne?
Ich arbeite gerade an meinem nächsten Buch, muss aber eingestehen, dass die Corona-Pandemie sich nicht wirklich positiv auf mein Schaffen ausgewirkt hat. Einerseits war es eine sehr gute Zeit, um sich in einem Raum einzuschliessen und die Welt ausserhalb zu vergessen, um in neue imaginäre Orte einzutauchen. Andererseits waren da auch immer meine zwei Kinder, die von aussen an die Tür klopften und mich bei der Arbeit unterbrachen. Aber es geht nun voran, ich weiss schon, worüber ich schreiben möchte und dass die Geschichte in Jerusalem verortet sein wird – und nun muss ich es nur noch tun. Aber auch das ist eben nicht immer so einfach wie in der Nike-Werbung «Just do it», im Gegenteil, das Schreiben ist immer wieder ein neues Versuchen, Herantasten, Scheitern und Weitermachen.

Ihr erfolgreiches Buch «Löwen wecken» (2015) wird gerade als TV-Serie verfilmt. Sie haben selbst Film und Drehbuch studiert, sind Sie in das Projekt involviert?
Nein, die Produzenten könnten sich nicht weniger dafür interessieren, was ich denke. Ich muss das akzeptieren, ich habe meine Arbeit getan und nun bin ich ein Gast wie alle anderen Zuschauer auch. Ich werde erst wissen, wie es sich anfühlt, die Serie über mein Buch zu sehen, wenn ich sie anschaue. Aber das ist völlig in Ordnung für mich.

Ihre Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt, Ihre Übersetzerin ins Deutsche ist Ruth Achlama. Ist es faszinierend für Sie, wenn Menschen in fernen Ländern von ihren Geschichten bewegt sind?
Ich glaube, Geschichten sind universal. Dennoch ist es faszinierend, wenn meine Romane Erfolg in Ländern haben, die ich nicht kenne und deren Sprache ich nicht verstehe. Ich bin immer sehr bewegt und dankbar, dass meine Bücher, die in Tel Aviv entstanden sind, in die Welt reisen und die Herzen von Menschen erobern, die am ande- ren Ende der Erde leben. Das ist unglaublich faszinierend und motivierend.

Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert. Kein und Aber, Zürich 2021.