Valerie Wendenburg

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«Worte sind bedeutungslos, wenn keine Taten folgen»

In seinem neuen Erfolgsroman «Hier bin ich» wirft der Autor Jonathan Safran Foer die grosse Frage nach der eigenen Identität auf – ein Gespräch über Literatur, die Diaspora und die USA unter Donald Trump.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 17. Februar 2017

Ihr Buch befasst sich mit verschiedensten jüdischen Aspekten – schon der Titel «Hier bin ich» verweist auf eine Stelle aus dem 1. Buch Mose. Was möchten Sie mit diesen Worten ausdrücken?
Den Titel habe ich erst spät gewählt. Ehrlich gesagt, kam mir die Idee dazu erst ganz am Ende meiner Arbeit an dem Buch. Aber er umfasst die ganze Geschichte, er gibt ihr einen Rahmen. Im 1. Buch Mose geht es um Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern soll. Abraham steht vor Gott und sagt: «Hier bin ich». Er ist bedingungslos präsent, ohne jegliche Einschränkungen. Abraham stellt keine Fragen, er ist für Gott da, und seine Antwort lautet «ja», egal was dieser von ihm verlangt. Nur ein paar Sätze später aber wendet sich Isaak an seinen Vater und Abraham antwortet ihm auch: «Hier bin ich». Das ist ein Paradox, denn Abraham kann nicht bei Gott und seinem Sohn sein – er kann ihn nicht opfern und gleichzeitig beschützen. Mir geht es um diese Unklarheit hinsichtlich der eigenen Identität und um die Herausforderung, ein ganzheitliches und stimmiges Selbst zu sein. Niemand kann an zwei Orten gleichzeitig präsent sein – das gilt auch im Buch. Jacob kann nicht zur selben Zeit ganz bei seiner Frau, bei seinen Kindern und dazu noch bei sich selbst sein. Er muss so vielen Rollen gerecht werden, er ist Vater, Ehemann, Sohn, Cousin, Jude, Autor … und kann es nicht allen gleichzeitig recht machen.

Das Buch spielt in einem jüdischen Umfeld, in dem auch Sie als Kind aufwachsen sind. Ruht es auf biografischen Begebenheiten?
Ja und nein. Als das Buch erstmals in der «New York Times» angekündigt wurde, rief mein Vater mich sofort an sagte: «Oh nein, du schreibst ein Buch über eine Familie mit drei Söhnen in Washington?» Er war beunruhigt, aber ich liess ihn wissen, dass die Geschichte nichts mit unserer eigenen Familie zu tun hat. Er las den Roman und dankte Gott dafür, dass ich ihm die Wahrheit gesagt hatte. Aber sicher gibt es Überschneidungen zu meinem Leben, ich bin jüdisch, in D.C. aufgewachsen, geschieden … Die Details aber sind nicht autobiografisch.

«Welche Verpflichtungen verspüren Juden in der Diaspora gegenüber Israel?»

Eines der Themen im Buch ist der Konflikt zwischen Juden in der Diaspora und Juden, die in Israel leben – verkörpert durch Jacob und seinen Cousin Tamir, der aus Israel zu Besuch kommt. Gibt es aus Ihrer Sicht diese Distanz zwischen beiden Gruppen?
Weder die Juden in der Diaspora, noch diejenigen in Israel können als eine homogene Gruppe bezeichnet werden. Dennoch, es kommen immer wieder Fragen auf, die sehr aktuell sind. Welche Verpflichtungen verspüren Juden in der Diaspora gegenüber Israel – in Form von Geld und auch im Hinblick auf ihre Überzeugungen? Wo liegen die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten? Aber, und das finde ich interessant: Genau diese Fragen können heute auch in Bezug auf die Amerikaner und die amerikanische Regierung gestellt werden. Es handelt sich um keine einzigartige jüdische Erfahrung, auch wenn man natürlich die Juden in der Diaspora nicht mit den Amerikanern unter der Trump-Regierung vergleichen kann. Aber ich sehe dort durchaus Parallelen.

In Ihrem Buch bricht eine Familie auseinander, zeitgleich wird Israel plötzlich von einem Erdbeben heimgesucht. Es erschüttert nicht nur das Land, sondern auch die Protagonisten, die an sich schon ausreichend mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind. Wie kamen Sie auf die Idee dieser Katastrophe?
Als ich in Israel gelebt habe, kam mir zu Ohren, dass in der Bibel oftmals Erdbeben beschrieben werden, um Handlungen zu verdeutlichen. Ein Beispiel ist die Erzählung über Joschua in der Schlacht um Jericho. Ich weiss nicht warum, aber diese Idee hat mich fasziniert und nicht mehr losgelassen. Und es ist tatsächlich so, dass die Bedrohung eines Erdbebens in Israel durchaus gegeben ist. Wie in meinem Buch ist das Land nicht auf eine solche Naturkatastrophe vorbereitet. Dieses Thema treibt durchaus Menschen im Land um, es ist keine aus der Luft gegriffene Idee von mir. Ich wollte eine Situation kreieren, in der sich Menschen – und hier komme ich auf den Titel des Romans zurück – die Frage nach ihrer Identität stellen und diese überdenken müssen. In einer meiner ersten Lesungen in einer Synagoge in Brooklyn fragte der Moderator die Gäste: «Wer von Ihnen würde in dieser Situation nach Israel gehen, um für das Land zu kämpfen?» Einige Menschen haben die Hand gehoben. Als ich nach meiner Meinung zu dieser Umfrage gefragt wurde, sagte ich, dass sie rein gar nichts zu bedeuten habe. Die Hand zu heben ist eine Sache, das tut Jacob im übertragenen Sinne im Buch auch. Aber bis nicht tatsächlich etwas passiert, ist diese Geste bedeutungslos. Auch Worte sind bedeutungslos, wenn keine Taten folgen. Es ging mir im Buch darum, eine Situation zu schaffen, die eine wirkliche Entscheidung verlangt, in der die Protagonisten handeln müssen. Ein Erdbeben mit seinen verheerenden Folgen schien mir gut geeignet.

 

Jonathan Safran Foer (© David Shankbone)

Die Ehe von Julia und Jacob Bloch ist in der Krise, ausgelöst vordergründig durch SMS-Nachrichten an eine andere Frau, die Julia auf dem Handy ihres Mannes entdeckt. Auch hier wird die Frage nach dem Ende der Ehe durch ein äusseres Ereignis aufgeworfen, obgleich die Probleme zwischen Julia und Jacob bereits vorher existiert haben.
Genau – die Probleme waren da, aber die beiden haben sie nicht realisiert oder vermieden, sich ihnen zu stellen. Die SMS stellen wie das Erdbeben auch ein Ereignis dar, das die Menschen dazu zwingt, sich mit ihren Problemen auseinandersetzen. Die Handy-Nachrichten sind nicht die eigentliche Verfehlung, sie sind vielmehr eine Möglichkeit, die den beiden erlaubt, sich endlich mit ihren Ehe-Problemen zu konfrontieren.

Zu diesem Zeitpunkt aber scheint es fast zu spät, die Ehe zu retten.
Nicht unbedingt. Es hätte auch ganz anders ausgehen können. Aber es war zu spät für Jacob und Julia.

«Ich glaube, es kommt oft nicht auf die Entscheidungen an, die man trifft, sondern auf jene, die man sich erlaubt, zu treffen.»

Das Buch besteht zum Grossteil aus sehr realitätsnahen Dialogen. Dennoch finden beide Ehepartner keine gemeinsame Sprache mehr. Woran sind Jacob und Julia gescheitert?
Sie haben die schlechte Angewohnheit, nicht auf sich selbst und ihr Gegenüber zu achten, in ihrem Alltag etabliert. Das geschieht sehr schnell, wenn man nicht aufpasst. Im Buch werden einige sehr spezielle Situationen geschildert, aber ich habe die ganze Zeit im Sinn gehabt, Szenen zu beschreiben, die die Leser wirklich nachfühlen können. Geschichten einer Familie, die realistisch und allgemeingültig sind.

Es geht auch darum, die eigenen Bedürfnisse zu kennen und zu benennen. Jacob springt zwischen den Rollen hin und her, die er im Leben spielen muss. Ist diese Herausforderung, mit der ja alle Menschen auf ihre Weise konfrontiert sind, aus Ihrer Sicht überhaupt zu lösen?
Einige Mensch im Leben können gut mit dieser Herausforderung umgehen und andere nicht. Es gibt so viele unterschiedliche Herangehensweisen, um das Leben in dieser Hinsicht gut zu bestehen. Ich glaube, es kommt oft nicht auf die Entscheidungen an, die man trifft, sondern auf jene, die man sich erlaubt, zu treffen. Ein Kapitel im Buch heisst: «Keine Wahl ist auch eine Wahl». Julia und Jacob haben sich scheiden lassen, weil sie dies so entschieden haben. Ich habe mal ein Interview mit einem Ehepaar gehört, das danach gefragt wurde, wie es gelungen ist, 50 Jahre verheiratet zu bleiben. Die Frau sagte: «Wie sind noch verheiratet, weil wir uns nicht haben scheiden lassen.» Es klingt albern, ist aber die Wahrheit. Wenn es eine Option ist, etwas aufzugeben – in diesem Fall die Ehe – ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass dies auch geschieht. Wenn diese Option schlicht nicht besteht, muss man an den Dingen arbeiten.

Sie erleben die Stimmung in den USA hautnah mit. Wie sehen Sie die jüngsten Entwicklungen in den USA in Bezug auf Israel? Donald Trump hat Israels Regierung nach seiner Vereidigung seine uneingeschränkte Unterstützung zugesagt.
Dennoch: Die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Juden hat Hillary Clinton gewählt. Unter Trump wird sich die Situation in Israel nun besonders für junge, aufstrebende Juden, die sich als Teil der globalen Gemeinschaft sehen, zuspitzen. Bereits in den letzten Jahren unter Netanyahu hat sich Israel immer mehr vom Rest der westlichen Welt entfernt, was bereits zu unter anderem akademischen Boykotts geführt hat. Sollte Israel nun noch fundamentalistischer werden, wie seine Nachbarstaaten, ist der Traum, den viele Juden bei der Gründung des Staates Israel hatten und heute noch haben, vorbei. Ich habe sehr viele Freunde in Israel, und sie werden immer ratloser und müder. Sie lieben ihr Land und würden dafür sterben, aber sie möchten nicht mehr, dass ihre Kinder dort aufwachsen. Ich frage mich ernsthaft: Was geschieht mit Israel, wenn diese jungen Menschen resignieren oder auswandern? Als Jude in der Diaspora betrachte ich die Situation in Israel, aber auch auf der ganzen Welt, mit Sorge, zumal die Entwicklung in den USA keinen Einzelfall darstellt. Die ganze Welt verändert sich, das Problem ist globaler Natur.

Jonathan Safran Foer: Hier bin ich. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.