Valerie Wendenburg

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Zirkus der Mächtigen

Daniel Levin ist als Berater für wirtschaftliche Entwicklung und politische Reformen weltweit tätig – er spricht über Herrschaftsmechanismen, Macht, Moral und die Krise der Demokratie.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 20. April 2018.

Im Vorwort ihre Buches «Alles nur ein Zirkus – Fehltritte unter Mächtigen» schreiben Sie, dass Sie während Ihrer Tätigkeit als Politikberater Gefühle wie Wut, Verachtung oder auch Resignation erlebt haben. Welches Gefühl überwiegt heute?
Ein wenig von allem. Ich habe viele Menschen getroffen, die manipulativ oder auch falsch waren, das hat sehr an mir gezehrt. Im Umgang mit solchen Menschen durchläuft man verschiedene Zyklen, aber ich hoffe, dass ich nicht zynisch geworden bin. Die schwierigsten Reaktionen waren immer die Enttäuschungen über mich selbst. In den ersten Kapiteln des Buches begehe ich denselben Fehler immer wieder – da habe ich mich schon selbst hinterfragt und an Albert Einstein denken müssen: «Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder denselben Fehler zu begehen und ein anderes Resultat zu erwarten.» Heute habe ich nicht resigniert, aber ich bin schon ein bisschen müde von dieser Art Arbeit. Man darf auch nicht vergessen: Manche der «bunteren» Persönlichkeiten, egal ob schlecht oder gut, die ich im Laufe der Geschichten kennen gelernt habe, sind auch Freunde von mir.

Gerade wenn es sich um Freunde handelt, sind die persönlichen Enttäuschungen be- sonders bitter. Im ersten Kapitel beschreiben Sie einen Anwalt, der strikt an seinem Terminkalender festhält, obgleich seine Frau und sein Sohn einen verheerenden Autounfall hatten.
Das war besonders schockierend. Zumal dieser Freund ansonsten eher progressiv, aufgeschlossen und gebildet war. Im Englischen gibt es den Ausdruck «moral licensing», («moralische Lizensierung»), den ich sehr passend finde. Er beschreibt das psychologische Phänomen, dass es bei Menschen eine Art moralisches Konto gibt, auf das sie einzahlen, wenn sie gute Taten vollbringen. Wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt etwas Schlechtes machen, ziehen sie mental einen bestimmten Betrag wieder ab. Das klassische Beispiel ist zum Beispiel die Aussage: «Manche meiner besten Freunde sind jüdisch, aber …». Ich habe oft erlebt, dass Menschen etwas Gutes sagen oder tun, um sich danach das Recht zu geben, unmoralisch zu handeln. Und das enttäuscht immer wieder, auch im Falle des erwähnten Freundes, der sich oft progressiv und rücksichtsvoll geäussert hatte, nur um sich danach selbstsüchtig und rücksichtslos zu verhalten. Im Laufe der Zeit sind meine Sensoren hoffentlich etwas besser geworden, wenn es darum geht, diese Verhaltensmuster zu erkennen.

In Ihrem Buch werden die Mächtigen der Welt meist als Egoisten dargestellt, die nicht wirklich Verantwortung übernehmen möchten, sondern vor allem ihre eigenen Ziele verfolgen. Haben Sie auch positive Ausnahmen erlebt?
Sicher gibt es auch positive Erfahrungen. Es ist aber nicht besonders interessant, von Erfolgs Erlebnissen der Menschen zu schreiben. Die Fehltritte sind viel spannender, auch wenn es mir manchmal schon fast etwas peinlich war. Aber sicher gibt es Erfolgserlebnisse, wie auch in dem Kapitel über Angola beschrieben. In dieser Geschichte wurden zwei Personen, ein Ehepaar, später zu Schlüsselfiguren im Beenden des blutigen Bürgerkriegs. Ich habe zudem die Gelegenheit gehabt, mit Nelson Mandela zu arbeiten, was eine wunderbare Erfahrung war. Mandela war eine Person, die mich menschlich und politisch enorm beeindruckte. Es gibt ein paar Beispiele auch innerhalb Russlands, ich habe dort auch wirkliche Reformer kennengelernt. Auch «Vitali» in meinem Buch hat enorm viel zur Entwicklung von Russland beigetragen, ohne korrupt und machtsüchtig zu werden.

«Wenn sich Leute an der Macht für unersetzlich halten, wird es kompliziert für einen freiheitlichen Staat.»

Menschen an der Macht und im Umfeld der Macht handeln vorhersehbar – gibt es gemeinsame Eigenschaften, die die Mächtigen miteinander teilen?
Es existiert bei jedem Menschen eine Art Schleifpunkt, wie bei einer Gangschaltung im Auto. Bei vielen Menschen gibt es einen solchen Übergangspunkt, an dem sie an fangen, das eigene schlechte Benehmen zu rationalisieren. Deutlich wird dies zum Beispiel bei Herrschern, die die Verfassung ändern möchten, um ihre Macht zu verewigen oder ihre Privilegien zu vergrössern. In Uganda hat der Präsident beispielsweise die Alterslimite abgeschafft, um auch diese letzte Beschränkung seiner Macht aus dem Weg zu räumen. Ähnlich wie der chinesische Präsident, der sich nicht an die bisher akzeptierte Amtszeitbegrenzung halten möchte. Wenn sich Leute an der Macht für unersetzlich und für «Väter oder Mütter der Nation» halten, wird es kompliziert für einen freiheitlichen Staat. Im arabischen Golf habe ich zudem öfter erlebt, dass sich Machthaber messianisch ausdrücken. Ein Herrscher hat mir mal gesagt, er könne mit Tieren kommunizieren. Er geht einmal im Jahr auf Safari, wo er sich mit einem Löwen austauscht und neue Kraft tankt. Das wirkt prophetisch; zuerst lacht man, aber dann wird klar, dass diese Menschen wirklich die Bodenhaftung verloren haben und in einer anderen Realität leben. Diese Muster entdecke ich mehr und mehr, auch in der westlichen Welt.

Sind sich diese Menschen bewusst, dass sie in einer Art Blase leben?
Wir leben alle ja in einer Blase, jeder Mensch hat seine eigene Realität. Die Frage ist aber, wie gross und vor allem wie undurchlässig diese Blase ist. Je mächtiger Leute werden, desto unangreifbarer werden sie. Dies gilt nicht nur für die Politik, sondern auch für die Wirtschaftswelt und soziale Bereiche. Diese Menschen sind wirklich isoliert, niemand spricht mehr ehrlich oder kritisch mit ihnen, und sie verlieren jegliches Interesse an intelligenten, selbstbewussten und unabhängigen Beratern. Schmeichler und Hofnarren gedeihen in einem solchen Umfeld ganz besonders. Man kann die Frage auch umgekehrt stellen: Wie kann man in so einer Situation nicht in einer Blase leben?

Sie verweisen auf den Spruch von Jean de la Fontaine «Ein Schmeichler lebt von dem, der auf ihn hört». Auch Sie sind Schmeichlern auf den Leim gegangen, wie zum Beispiel Melvin Collodi im Dubai-Kapitel Ihres Buchs. Kann man die eigene Menschenkenntnis schulen?
Ich bin immer dann auf Menschen hereingefallen, wenn ich kategorisch und unerbittlich meinem eigenen Wunschdenken gefolgt bin. Die Geschichte, die in Dubai spielt, ist im Nachhinein krass, man kann sie kaum nach vollziehen. Für meine Frau war damals schon ziemlich klar, dass es sich bei Melvin Collodi um einen Hochstapler handelte. Ich habe das alles selbst etwas zu sehr gewollt und mir die Dinge positiv zurecht gedacht. Andererseits gibt es auch Dinge, die man nur dann realisieren kann, wenn man sie wirklich will und energisch verfolgt – ein schwieriger Balanceakt also. Aber manchmal haben auch solche Fehler gute, wenn auch unbeabsichtigte Folgen: Unser heutiges Engagement in Jemen ist eine direkte Folge der Geschichte mit diesem Hochstapler.

Was war Ihre absurdeste Erfahrung?
Es gab den Vorsitzenden einer Antikorruptionsbehörde, der Bestechungsgelder aus dem Budget seiner eigenen Antikorruptionsbehörde verlangte. Dann habe ich an einem Projekt in einem zentralasiatischen Land gearbeitet – ein Projekt für das Training der nächsten Führungsgeneration. Der Projektleiter, ein ehemaliger Aussenminister, hat in einem Rausch erzählt, dass sein guter Freund, der Präsident, sich einer Notoperation unter ziehen musste. Das hat den Präsidenten derart verärgert, dass er das Projekt sofort sterben liess. Er war empört, dass an seiner Unsterblichkeit gerüttelt wurde. Eine absurde, willkürliche Entscheidung, die eine intensive und erfolgreiche Arbeit vieler Menschen auf einen Schlag zunichte gemacht hat. Solche Geschichten gibt es zuhauf.

«Wenn man bedenkt, was die Uno mit ihren grossen Ressourcen und ihrem Potenzial erreichen könnte, ist es schon sehr traurig.»

Sie kritisieren auch die Uno, die mit ihrer Infrastruktur und ihren Ressourcen viel mehr erreichen könnte. Im Buch steht, Sie bekommen Magengeschwüre, wenn Sie sich im Uno-Gebäude aufhalten. Wo liegt der Knackpunkt?
Die Mission der Uno nach dem Zweiten Welt krieg war es, die Konflikte in der Welt zu entschärfen und solche grauenhafte Kriege zu verhindern. Das ist weiterhin der Zweck der Uno, aber sie ist inzwischen zu einer solchen Monsterbürokratie gewachsen, dass sie oft kaum handlungsfähig ist. Zudem wird sie wegen der Vetorechte gewisser Grossmächte im Sicherheitsrat ohnmächtig, weil sie in gefährlichen Konflikten nicht mehr wirklich entscheiden und handeln kann. In Syrien beispielsweise kann die Uno gar nichts erreichen, sie ist gelähmt – in diesem Fall, weil Russland alle Sanktionen und Aktionen gegen das Assad-Regime trotz aller Giftgasangriffe und Gräueltaten verhindert. Natürlich gibt es auch sinnvolle Uno-Projekte, aber wenn man bedenkt, was die Uno mit ihren grossen Ressourcen und ihrem Potenzial erreichen könnte, ist es schon sehr traurig.

Eine Praktikantin der Uno sagte zu Ihnen: «Je dümmer die Menschen sind, für desto schlauer halten sie sich».
Diese Begegnung zählt zu den schönen Erlebnissen, die es auch immer wieder gibt, wenn man Menschen trifft, die in den absurdesten Situationen Humor behalten. Ich glaube, ein Weg zu messen, mit wem man sinnvoll arbeiten kann und mit wem nicht, ist zu schauen, ob die Leute Humor haben und auch über sich selbst lachen können. Das ist etwas, was an Donald Trump so auf fällig ist: Er hat überhaupt keinen Humor. Es ist wirklich erstaunlich, aber er kann ein fach keine Witze machen und noch weniger ertragen. Barack Obama hatte einen scharfen, zynischen Humor, selbst George W. Bush hatte einen gewissen, trockenen Humor, Bill Clinton auch, Ronald Reagan sowieso mit seinen SowjetWitzen. Trump hat einfach gar keinen Humor. Kein schlechter Gradmesser, um Menschen einzuschätzen, egal zu welchem politischen Lager sie gehören.

Bei der Lektüre Ihres Buches denkt man oft an Trump.
Das war mein Pech: Das Buch ist zu dem Zeitpunkt erschienen, als Trump gewählt wurde. Nun denken alle an Trump, dabei beschreibt das Buch nicht mal im Ansatz sein Verhalten. Trump liegt ausserhalb der Verhaltensmuster, die ich in meinem Buch beschreibe – auch ausserhalb der groteskeren Beispiele. Aber was eine Amtsenthebung – ein Impeachment – angeht, könnten das beinahe unglaubliche Unwissen des amerikanischen Präsidenten und sein totales Desinteresse an wichtigen Informationen seine eigentliche Rettung sein. Die Dinge, die ihm vorgeworfen werden, kann er gar nicht begangen haben, weil er sie gar nicht begreift und weil er auch wenig tut, ausser seine Lieblingssendungen auf «Fox News» zu schauen und zu tweeten.

«Auf der höheren Stufe der Wirtschaftsentwicklung gibt es wenig Projekte, die sinnvoll sind.»

Sie beschreiben die Wirkungslosigkeit von Hilfsorganisationen, die fehlerhafte Ansätze in der Entwicklungspolitik verfolgen. Haben Sie Lösungsansätze?
Auf der höheren Stufe der Wirtschaftsentwicklung gibt es wenig Projekte, die sinnvoll sind. Anstatt in Länder zu gehen und etwas Sinnvolles mit den Personen vor Ort zu entwickeln, werden Unternehmensberater an ferne Orte geschickt, wo sie Diagnostikstudien präsentieren, die dort völlig unbrauchbar sind und gar nicht umgesetzt werden können. Sie können nicht in Togo dasselbe Projekt implementieren, das in der Slowakei eingesetzt wurde. Selbst innerhalb Afrikas funktioniert das nicht, man kann ja Kenia nicht mit Tschad vergleichen, nur weil beide Länder in Afrika liegen. Ich nahm bis Mitte der Neunzigerjahre auch an solchen Entwicklungshilfeprojekten teil, bis ich irgendwann gemerkt habe, dass wir mehr zum Problem beitragen als zur Lösung. Meine Kollegen und ich haben umgedacht und eine Plattform entwickelt, innerhalb derer wir Leute ausbilden, die dann vor Ort selbst agieren können. So auch in Jemen. Wir versuchen, zusammen mit einzelnen Machthabern in der Region, 200 junge Menschen aus verschiedenen Stämmen aus dem Kriegsgebiet herauszuholen und während 18 Monaten auszubilden. Und wenn dann irgendwann das sinnlose Kämpfen aufhört, hat man mit diesen Menschen einen Grundstock zur Verfügung, um das Land wieder aufzubauen. Es ist ein ehr geiziges und herausforderndes, aber auch sehr befriedigendes Projekt.

Engagieren Sie sich in Syrien?
In Syrien war ich tätig im Rahmen einer Versöhnungsinitiative in den Jahren 2012 und 2013. In meinem nächsten Buch geht es übrigens um 18 dramatische Tage im Herbst 2014, in denen ich eine westliche Geisel im syrischen Krieg gesucht habe. Ein enger Freund, der uns bei beiden Initiativen enorm geholfen hat, ist leider vor wenigen Wochen gestorben. Seit unserem ursprünglichen Engagement ist alles viel schwieriger geworden, da das Assad-Regime aufgrund der russischen Unterstützung keine Motivation mehr hat, mit anderen zu sprechen. Assad und seine Schergen fühlen sich vorbehaltlos siegreich. Aber das Land ist völlig zerstört – die Folgen wird auch Europa noch lange spüren. Die Ströme der syrischen Flüchtlinge bestimmt auch die europäische Politik, jüngstes Beispiel sind die Wahlen in Ungarn. So wie Frankreich lange an Algerien gezehrt hat, wird Europa lange an Syrien zehren.

Wie kann der Kampf gegen Korruption und für mehr Demokratie letztlich doch gewonnen werden?
Ich glaube an Zyklen und denke, wir leben heute in einer Zeit, in der Demokratie verpönt ist und Autokraten bewundert werden. Recep Tayyip Erdoğan, Viktor Orbán oder Donald Trump sind nur wenige Beispiele. Es gibt aber auch Gegenströmungen wie etwa die Absetzung von Präsident Jacob Zuma in Südafrika. Sicher ist es so, dass zurzeit das klassisch westliche Demokratiemodell nicht besonders attraktiv scheint. Vielleicht ist dies aber auch eine gute Gelegenheit, an diesem Modell zu arbeiten – an Wahlbeteiligungen, an besser informierten Wählern. Es könnte ratsam sein, Modelle wie die Epistokratie anzuschauen, in denen informierten Wählern eine verstärkte Stimme zugute kommt. Wähler haben in unserem Demokratiemodell wenig Anreize, sich zu informieren und zu beteiligen, weil sie die Folgen ihrer Stimme nur mittelbar – wenn überhaupt – spüren, was zu einer gefährlichen Verwässerung der Demokratie führt. Vielleicht sollten wir heute diese Krisen nutzen, um unser herkömmliches Demokratieverständnis neu zu überdenken.

Daniel Levin: Alles nur ein Zirkus. Eltster & Salis, Zürich 2018