Valerie Wendenburg

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Zwischen Schuldgefühl und Rettungsring

Erschienen am 24. Februar 2023 in der jüdischen Wochenzeitung tachles.

Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch wirft nicht nur einen neuen Blick auf ihre Beziehung, sondern auch auf das Stück «Andorra» – ein Gespräch mit Literaturwissenschaftler Thomas Strässle

©Ayse Yavas

tachles: Der kürzlich erschienene Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch ist eine literarische Entdeckung. Aus welchem Grund ist er erst Jahrzehnte nach dem Tod beider Autoren erschienen?
Max Frisch hat seinen Nachlass 1979 ins Max-Frisch-Archiv an der ETH gegeben und ganz bewusst zwei Teile unterschieden: den Teil mit den Materialien, die schon zu seinen Lebzeiten frei zugänglich waren, und den Teil mit den eher heiklen Beständen. Diesen Teil des Nachlasses hat er für 20 Jahre nach seinem Tod gesperrt. Nach Ablauf dieser Frist am 4. April 2011 traf sich der Stiftungsrat bei der UBS-Filiale am Bellevue mit Mitarbeitenden der Bank, um den Safe zu öffnen. Darin befand sich unter anderem in zwei Schachteln der Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann. Während der Lektüre wurde mir schon bald die literarische Qualität dieses Briefwechsels klar. Dann habe ich Kontakt mit den Erben von Ingeborg Bachmann aufgenommen, die schliesslich, nach langen Jahren der Verhandlungen, einer Veröffentlichung zugestimmt haben.

Max Frisch hat alle ihre Briefe aufbewahrt, Ingeborg Bachmann hat seine vernichtet. Weshalb sind dennoch zahlreiche Schreiben von ihm erhalten?
Ingeborg Bachmann hat seine Briefe zu einem Zeitpunkt vernichtet, da sie auf die Beziehung schon voller Zorn und Schmerz zurückgeblickt hat. Sie war in einem Zustand, der es ihr nicht mehr möglich gemacht hat, «Mein Name sei Gantenbein» so zu lesen, wie sie das Jahre zuvor noch getan hatte. Sie fühlte sich durch die Beziehung vernichtet und durch den Roman blossgestellt. Frisch hat umgekehrt Bachmanns Briefe aufbewahrt und von seinen eigenen Briefen Durchschläge gemacht. Das war damals nicht unüblich und ist ab einem gewissen Zeitpunkt auch darauf zurückzuführen, dass Max Frisch wissen musste, was er ihr geschrieben hatte. Dies ist nicht verwunderlich bei zwei Menschen, die so bewusst und gekonnt mit Worten umgehen. Er wollte sich auf den originalen Wortlaut berufen können, wie er selbst einmal schreibt.

Gerade im Hinblick auf das Stück «Andorra», in dem es um den vermeintlich jüdischen Protagonisten Andri und sein Schicksal geht, ist der Briefwechsel aufschlussreich. Schon kurz nach ihrer ersten Begegnung im Juni 1958 macht sie ihm Vorschläge für den Titel.
«Andorra» spielt während der Beziehung eine gros­se Rolle. Das Ringen um den Titel des Stücks in diesem Briefwechsel ist sehr eindrücklich. Ingeborg Bachmann macht viele Titelvorschläge, wohl wissend, dass keiner der endgültige sein würde, aber in der Hoffnung, einen Weg aufzuzeigen oder eine Tür zu öffnen.

Max Frisch befand sich in der Zeit ihres Kennenlernens in einer Schaffenskrise und kam mit «Andorra» nicht weiter. Was waren die Gründe dafür?
Er beschreibt es in seinen Briefen sehr genau. Einmal meint er, das Stück sei der Gelbsucht zum Opfer gefallen, an der er zu dieser Zeit erkrankt war. Ausserdem schreibt er selbst über «Andorra», es werde hier «ein Leben gemordet, das nie gelebt hat». Er betont, er habe sich an dem Stück festgeklammert, das er selbstkritisch in seinen Briefen hinterfragt. Das Ungenügende an «Andorra» war ein Ungenügen auch an seinem, wie er selber fand, verkrampften Umgang mit dem Stoff. Schliesslich hat er «Andorra» kurz vor der Uraufführung im Frühjahr 1959 zurückgezogen. Regisseur am Zürcher Schauspielhaus war damals Kurt Hirschfeld, der 1933 aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die Schweiz emigriert war.

«Der ständige Aufbruch im Sinne seiner künstlerischen Mission war eine starke Triebfeder seines Schaffens.»

Liegt der literarische Mehrwert dieses Briefwechsels nicht gerade in den Passagen wie den oben zitierten, in denen sich beide mit ihren Werken auseinandersetzen?
Unter anderem. Max Frisch geht in seinen Briefen sehr in die Tiefe, wenn er fragt: Was muss ein Stück haben, damit es zum Leben kommt, und wie müssen Dialoge sein, damit sie lebendig sind? Was muss eine Figur mitbringen, damit sie überzeugt? Das Erstaunliche ist ja, dass das Stück nach dieser recht intensiven Auseinandersetzung zu Beginn vorübergehend im Briefwechsel kein Thema mehr ist. Plötzlich, ganz unvermittelt heisst es dann aber im Dezember 1960: «Andorra fertig, Reinschrift, jetzt frei für den Roman, darauf freue ich mich.» Typisch für Max Frisch war, dass er alles, was er geschrieben hat, immer wieder zur Disposition gestellt und ständig versucht hat, sich neu zu erfinden. Er hatte fast panische Angst vor Wiederholungen, nicht nur im Leben, sondern auch im Literarischen. Dieser ständige Aufbruch im Sinne seiner künstlerischen Mission war eine starke Triebfeder seines Schaffens.

Hat der Briefwechsel die Arbeit der beiden Autoren beeinflusst?
Mit Sicherheit. Frisch hat Bachmann in seinen Briefen über «Andorra» und über «Mein Name sei Gantenbein» geschrieben, sie berichtete ihm über «Das dreissigste Jahr» und besonders über die Erzählung «Ein Wildermuth». Interessant ist, dass sich beide trotz der persönlichen Rivalität unter zwei namhaften Autoren immer wieder ihre Unzulänglichkeiten eingestehen und ihre eigene Minderwertigkeit beteuern. Durch den Briefwechsel wissen wir heute, dass die beiden zumindest zeitweise auch ein produktives Arbeitsverhältnis miteinander hatten.

Bezieht Ingeborg Bachmann die Entwicklung des Stücks auch auf ihre Liebesbeziehung?
Nicht so direkt. Während Max Frisch mit Ingeborg Bachmann zusammengelebt hat, gab es aber Zeiten, in denen er poetisch nicht so produktiv und daher unzufrieden war. Sie klagt sich selbst dafür an und schreibt daher auch über Schuldgefühle. Beide haben sich immer wieder gegenseitig behindert und befördert – diese ständige Reibung war ein Motor dieser Beziehung.

Als das Stück endlich erscheint, sieht Ingeborg Bachmann darin ein «gutes Zeichen». Bei der Uraufführung 1961 im Schauspielhaus Zürich ist sie anwesend, bei der Aufführung in New York 1963 bringt sie sich wieder ins Spiel, obgleich Max Frisch schon neu liiert ist.
Im Gegensatz zum Roman «Mein Name sei Gantenbein», der die Entzweiung der beiden gefördert hat, ist «Andorra» eher das Stück, das Ingeborg Bachmann als Rettungsring begreift. Sie möchte sich 1963 wieder als dritte Person in die Beziehung einbringen.

Die Rezeption von «Andorra» in Europa hat sich stark von der in den USA unterschieden, weshalb?
In Europa war das Stück ein riesiger Erfolg, in Amerika eher nicht. Das kann natürlich mit den Inszenierungen zu tun haben, es kann aber auch daran liegen, dass das Stück 1961 vor dem Hintergrund des Holocaust in Europa natürlich auf eine ganz andere kollektive Erinnerung traf. In der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vom 12. Februar 1963 ist über die Rezeption des Stücks in New York unter der Überschrift «Unbehagen über Andorra» zu lesen, «dass man ein genau datiertes und lokalisiertes Stück über Antisemitismus erwartet hatte und sich unversehens selbst betroffen fand».

«Ich würde Andorra jede Renaissance zutrauen, die man dem Stück wünschen kann.»

Wie steht es heute um das Stück und die darin behandelten Themen wie Antisemitismus, Stereotype oder das fragile Bild der Selbstwahrnehmung?
«Andorra» wird nach wie vor viel gelesen und auf vielen Bühnen gespielt. Oft reicht ein politischer Auslöser, und dann sind die Stücke von Max Frisch aufgrund ihrer Aktualität sofort wieder präsent. Ich würde «Andorra» jede Renaissance zutrauen, die man dem Stück wünschen kann.

Max Frisch war als Schriftsteller eine intellektuelle Instanz. Braucht es so eine Figur auch in der heutigen Schweiz?
Einerseits denke ich, dass man sich von der Person Max Frisch lösen muss, die ja eine klassische Figur des 20. Jahrhunderts war. Der Blick sollte weniger auf seine Person, als vielmehr auf seine Themen gerichtet werden, die ungebrochen aktuell sind – egal, ob es um Klima, um Macht und Machtlosigkeit, Feindbilder, Stereotype oder um Geschlechterrollen geht. Er hat diese Sujets natürlich zeitgebunden, aber doch in einer allgemein gültigen Form abgehandelt. Deshalb kann man ihn unabhängig von seiner Person immer wieder aktuell lesen. Andererseits ist Max Frisch natürlich eine Ikone des politischen Schriftstellers und des öffentlichen Intellektuellen. Ich bin mir nicht sicher, ob es diese Position im öffentlichen Diskurs überhaupt noch gibt, weil der gesamtgesellschaftliche Hallraum heute gar nicht mehr so existiert wie zu Zeiten von Max Frisch. Die diskursive Lage heute würde vielleicht nicht mehr zulassen, dass eine Figur wie er eine solche Wirkung entfaltet.

Abgesehen von den öffentlich relevanten Themen, die Max Frisch beschreibt, hat Marcel Reich-Ranicki ihn als «Diagnostiker menschlicher Leiden» bezeichnet.
Genau deshalb sind seine Fragebögen nach wie vor so erfolgreich. 2019 haben wir eine neue Ausgabe mit weiteren Fragebögen herausgegeben, von denen wir gar nicht wussten, dass sie existieren. Darin geht es um Alkohol und um Moral. Beide wurden im Manuskript des «Tagebuchs 1966–1971» entdeckt, als es digitalisiert wurde.

Gibt es noch weiteres Material im Max Frisch-Archiv, das in Zukunft veröffentlicht werden soll?
Zurzeit arbeiten wir an einer digitalen Edition von rund 150 Notizheften, die frei zugänglich sein werden, soweit es die Persönlichkeitsrechte erlauben. Zudem edieren wir den sehr umfangreichen und sorgfältig geführten Briefwechsel zwischen Max Frisch und seinem Verleger Peter Suhrkamp. Er geht zurück in die Gründungsgeschichte der legendären Suhrkamp-Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg, die ja für die junge Bundesrepublik von entscheidender Bedeutung war. Es ist kein Zufall, dass viele der emigrierten und nach Deutschland zurückgekehrten Autorinnen und Autoren bei Suhrkamp publizierten, wie zum Beispiel Theodor W. Adorno.

Aus welchem Grund wird Max Frisch in seiner Heimat, der Schweiz, viel kritischer gesehen als in Deutschland?
Das ist ein interessantes Phänomen. In Deutschland ist Max Frisch eine Ikone des unbeschädigten Denkens. In der Schweiz hingegen gilt er oft als ewiger Nörgler und als schlecht gelaunter Kleingeist. Ich finde, ein Autor, der fast 32 Jahre nach seinem Tod in seiner Heimat noch immer so viel leidenschaftliche Ablehnung auf sich zieht, hat einen guten Job gemacht. 

Thomas Strässle  ist Literaturwissenschaftler, Autor und ausgebildeter Musiker. Seit 2013 leitet er das Y Institut an der Hochschule der Künste Bern und ist Titularprofessor am Deutschen und am Komparatistischen Seminar der Universität Zürich. Ausserdem ist er Präsident der Max-Frisch-Stiftung an der ETH Zürich und Mitglied des Literaturclubs von SRF/3sat. Zusammen mit Hans Höller, Renate Langer und Barbara Wiedemann hat er Ende 2022 den Briefwechsel von Ingeborg Bachmann und Max Frisch «Wir haben es nicht gut gemacht» bei Suhrkamp und Piper herausgegeben.