Valerie Wendenburg

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Zwischen Wirklichkeit und Fiktion

Die US-amerikanische Schriftstellerin Nicole Krauss spricht über ihren neuen Roman, Israel und Franz Kafk.

Erschienen im jüdischen Wochenmagazin tachles am 23. März 2018

In Ihrem neuen Roman «Waldes Dunkel» spielt das Hilton Hotel in Tel Aviv eine grosse Rolle. Beruhen die Beschreibungen auf eigenen Erinnerungen von Reisen nach Israel?
Ich bin wirklich oft im Hilton gewesen, schon als Kind. Insofern habe ich einen Bezug zu diesem Ort. Meine Beziehung zu Israel aber ist viel stärker und tiefer. Israel ist seit vier Generationen die einzige geografische Konstante meiner Familie. Alle meine Vorfahren stammen aus verschiedenen europäischen Ländern wie Deutschland, Ungarn, der Ukraine oder Weissrussland. Meine Mutter wurde in London geboren, mein Vater kam in den USA zur Welt und wuchs in Tel Aviv auf. Palästina und später Israel war immer der Ort, an dem meine Familienmitglieder zusammenkamen. Auch meine Eltern haben sich in Tel Aviv kennengelernt. Es ist wirklich der Ort, der meine Familie seit Generationen verbindet, zumal auch die wichtigsten Dinge im Leben meist dort geschehen: Meine Verwandten haben sich in Israel verliebt, dort geheiratet und sind dort beerdigt. Da meine Eltern sich nicht besonders amerikanisch fühlten, wurde mir auch nie vermittelt, dass Amerika mein Zuhause ist. Emotional bin ich nicht mit den USA verbunden. Ich fühlte mich immer, als käme ich von einem anderen Ort, und wann immer wir Ferien hatten, reisten wir nach Israel. Ich habe schon als Kind gespürt, dass meine Eltern gelöster waren, sobald sie in Tel Aviv aus dem Flugzeug stiegen. Wir hatten immer das Gefühl, dort zu Hause zu sein.

Nicole Krauss (© Wikipedia)

Aus welchem Grund schien Ihnen Israel der richtige Ort für Ihren Roman?
Die beiden Charaktere in meinem Buch, Nicole und Jules Epstein, befinden sich in der Phase einer grossen Veränderung. Israel ist seit mittlerweile 70 Jahren ein Ort, der sich permanent wandelt. Der Staat bildete sich aus dem Nichts heraus und muss sich seit seiner Gründung immer wieder selbst und neu definieren. Ich spüre dem Drang der Menschen nach, sich immer wieder zu hinterfragen. Diese Atmosphäre in Israel passte für mich perfekt zu meinem Buch.

«Es gibt Momente im Leben, in denen man merkt: Die Rolle, die ich bisher im Leben gespielt habe, passt nicht mehr zu mir.»

Der Roman beschäftigt sich eingehend mit der Frage: Was ist Wirklichkeit, was Fiktion. Ist Nicole Ihr Alter Ego?
Seitdem ich schreibe, kreiere ich mich immer wieder neu. Als Schriftstellerin kann ich meinen Protagonisten meine Stimme verleihen, ich gebe ihnen meine Erfahrungen und Gedanken mit, lasse die Figuren damit spielen und sich entwickeln. Die Geschichten sind fiktiv, und ich habe so die Möglichkeit, mich selbst in eine andere Welt zu denken. Leser machen ja eine ähnliche Erfahrung, wenn sie sich in die Protagonisten einfühlen. Durch Bücher haben Autoren wie Leser die Möglichkeit, gedanklich für eine Weile zu einer anderen Person zu werden. In dem Moment, in dem wir uns mit einer anderen Person identifizieren, wachsen wir über uns selbst hinaus. Auf das Schreiben oder die Lektüre folgt dann aber die Ernüchterung: Wir finden wir uns im normalen Alltag wieder, und unser neues Ich-Gefühl bricht zusammen. Ich habe mich oft gefragt, weshalb wir in der Realität so sehr auf unsere Rolle festgelegt sind. Es gibt Momente im Leben, in denen man merkt: Die Rolle, die ich bisher im Leben gespielt habe, passt nicht mehr zu mir. Aber es ist sehr schwer, sich zu verändern, da dies von unserer Umgebung nicht erwartet und auch nicht immer toleriert wird. Ich möchte den Lesern zeigen, was geschieht, wenn wir über unsere vorgegebene Rolle hinauswachsen und uns selbst neu definieren. Also habe ich meine Protagonistin Nicole genannt, habe ihr zwei Kinder gegeben und sie zu einer Schriftstellerin aus Brooklyn gemacht. Ich erlaube ihr im Buch eine Transformation, die sich viele Menschen im Leben nicht zutrauen würden. Aber wir müssen nicht so begrenzt leben, wie es uns vorgegeben wird!

Ist der Wunsch nach Veränderungen im Wesen des Menschen angelegt?
Mich beschäftigt die Frage, weshalb wir die Realität meist fraglos hinnehmen. Was ist die Realität? Wie können wir unser Leben alternativ lesen? Nicole und Jules Epstein möchten ihrem Dasein eine grössere Bedeutung geben und erfahren, welche Realität es wert ist, von ihnen angenommen und gelebt zu werden. Ich wollte ein Buch gegen die Obsession schreiben, alles wissen und alles rational ergründen zu wollen und sich in allem sicher zu sein. Wir müssen offen bleiben, Unergründbares zulassen und an Wunder glauben. Als Autorin und Mensch ist es wichtig für mich zu lernen, mit Unsicherheit leben zu lernen und Überraschungen zuzulassen.

Beide Geschichten funktionieren auf den ersten Blick getrennt voneinander, gehören aber doch stark zusammen. Was können Sie zur Entstehungsgeschichte des Buches sagen?
Ich hatte erst einige Geschichten geschrieben und habe nach einem grösseren Thema für einen Roman gesucht. Nicole und Epstein kamen getrennt in meinen Gedanken vor, aber plötzlich hatte ich das Gefühl, dass die beiden Geschichten zueinander gehören. Zu Beginn des Schreibens wusste ich selbst noch nicht, wie ihre Geschichten enden und was ihnen alles widerfährt.

«Kafka ist für uns alle ja eine Person, die von Max Brod geschrieben wurde.»

Sie haben in Ihrem Buch die fantastische Idee, Kafka zum Leben zu erwecken. In Ihrer Geschichte wanderte er nach Palästina aus, um dort als Gärtner zu arbeiten. Wie kam es zu dieser Idee?
Mit Kafka beschäftige ich mich schon seit Jahren, ich liebe seine Bücher. Die Idee, Kafka im Buch auftauchen zu lassen, kam nach und nach. Zuerst habe ich nur über den verrückt langen Prozess um den Nachlass von Max Brod und Franz Kafka nachgedacht. Noch heute ist nicht sicher, wann die Manuskripte nach Israel gelangten, die ja teilweise hier um die Ecke im Banksafe liegen. Obwohl der Oberste Gerichtshof in Israel entschieden hat! Das Urteil wurde erst gefällt, nachdem ich mein Buch beendet hatte. Noch interessanter aber war es, der Spinoza-Strasse entlang zu laufen und zu denken: Was könnte in diesem Haus von Eva Hoffe, der Erbin des Nachlasses, sein? In meiner Fantasie dachte ich an Epstein und Nicole, die in gewisser Weise fliehen, und mir kam die Idee: Das hätte Kafka auch tun können. Als ich das Thema recherchierte, wurde der Gedanke immer realer, denn tatsächlich hatte Kafka die Ausreise nach Palästina vorbereitet. Kafka ist für uns alle ja eine Person, die von Max Brod geschrieben wurde. Aber was wissen wir wirklich über ihn? Ich dachte mir, vielleicht kann ich seine Geschichte ja auch anders erzählen.

Sie wollten das Buch gerne «Gilgul» betiteln.
Genau! Lange Zeit war «Gilgul» der einzige Titel, den ich mir für mein Buch vorstellen konnte. «Gilgul» steht auf Hebräisch für die Metamorphose der Seele. Aber mein Verleger war dagegen, ein hebräisches Wort zu wählen. «Waldes Dunkel» stammt von Dante, der Titel ist nun auch für mich der richtige. Aber lustig ist, dass das Wort «Gilgul» nun doch immer mehr bekannt wird. Neulich habe ich eine TV-Episode von «Fargo» gesehen, in der das Wort «Gilgul» erklärt wurde. Es beruhigt mich, dass das Wort nun doch seinen Weg in die Öffentlichkeit findet. Nun schreibt auch tachles darüber … (lacht).

Warum haben Sie König David in Ihr Buch aufgenommen?
Jules Epstein erfährt plötzlich, dass er von ihm abstammen soll. König David war der erste richtige Charakter in der Bibel. Abraham und Moses sind eher symbolisch zu sehen. David ist so eine starke Persönlichkeit, sehr problematisch, brutal und manipulativ. Die Idee, dass Epstein zur Familie von König David gehört, habe ich mir nicht ausgedacht, es gibt einige Menschen, die an diese Art von Abstammung und Herkunft glauben. Ich finde aber interessant, wie Epstein sich verhält, als er von dieser Theorie erfährt. Er hat plötzlich keine Wahl mehr, als Parallelen zwischen sich und David zu sehen und zu erkennen. Epsteins Leben wandelt sich in spiritueller Weise. Narrative können unser Leben verändern, das wird gerade in dieser Episode des Romans deutlich.

Wie fühlen Sie sich als Jüdin in der Diaspora, wenn es um israelische Belange geht?
Selbstverständlich verfolge ich immer, was in Israel geschieht, und ich nehme Anteil an der politischen Entwicklung. Ich beobachte dies von aussen mit einem denkenden Herzen und habe oft Probleme mit dem, was ich höre und sehe. Aber, ehrlich gesagt, fühle ich zurzeit dasselbe in Bezug auf die USA. Da ich mich Israel aber emotional verbundener fühle, spüre ich hier auch eine grössere Hoffnungslosigkeit.

Haben Sie schon überlegt, nach Israel auszuwandern?
Ja, oft. Ich würde es auch tun, aber ich habe zwei Kinder, die in New York aufwachsen. Die Frage, Alija zu machen, stellt sich jeder in meiner Familie immer wieder. Mein Bruder zum Beispiel lebt in Tel Aviv, auch meine Schwester hat eine Bleibe in Israel, wo sie viel Zeit verbringt. Diese Frage habe ich noch nicht für mich entschieden, aber das Leben ist noch lang …

Was sind Ihre nächsten Pläne?
Ich schreibe Kurzgeschichten, was sehr neu und aufregend für mich ist. Ich bin selbst gespannt, wie mir dies gelingt und welchen Ton und welche Themen ich finden werde.

Nicole Krauss: Waldes Dunkel. Rowohlt Verlag, Berlin 2018.