Valerie Wendenburg

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«Es kann nicht sein, dass Kritik delegitimiert wird»

Dieser Artikel ist am 3. Mai 2024 in tachles erschienen.

Linke werden oftmals mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontiert, wenn sie sich kritisch gegenüber der israelischen Politik äussern – wird auf diese Weise eine legitime Debatte verhindert?Der Antisemitismus hat seit dem 7. Oktober zugenommen, so auch der israelbezogene: Im Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus (GRA) sind 2023 viermal so viel Fälle wie im Vorjahr festgehalten, insgesamt wurden 227 Vorfälle in dieser Kategorie gemeldet. Auch in den Medien ist immer mehr von Antisemitismus die Rede, dies bestätigt Mark Eisenegger, Professor für Kommunikationswissenschaft und Leiter des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft (FÖG) der Universität Zürich, gegenüber tachles. Er sagt: «Der Höhepunkt war im November, aber auch heute wird der Begriff Antisemitismus nach wie vor öfter verwendet als vor dem Oktober 2023.»

Wann aber handelt es sich um Antisemitismus und wann nicht? Diese Frage ist nicht immer leicht zu beantworten, vor allem dann nicht, wenn Kritik an der israelischen Regierung geäussert wird. Wo genau liegt die Grenze zum Antisemitismus? Diese Frage beschäftigt auch die Vereinigung Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden (JVJP). Sie hat bereits im Februar ein Positionspapier herausgegeben, in dem es um legitime Israel-Kritik und die Abgrenzung zum Antisemitismus geht. Es heisst: «Es ist unbestritten, dass sich in letzter Zeit antisemitische Handlungen und Aussagen – vor allem in sozialen Medien und in Schulen – häufen. Es ist wichtig, junge Menschen über die Geschichte des Antisemitismus und die Geschichte des Nahostkonflikts aufzuklären.» Dennoch sei aber festzuhalten, dass Israel-Kritik nicht automatisch antisemitisch sei. Aus Sicht der JVJP würden legitime Debatten über die israelische Politik aufgrund von Antisemitismus-Vorwürfen verhindert. Die JVJP stellt sich gegen Antisemitismus-Vorwürfe an die Linke, ein Thema, das die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz nicht erst seit dem 7. Oktober beschäftigt.

Eine reflexartige Gleichsetzung
Shelley Berlowitz, Historikerin und engagiert in der Vereinigung JVJP, sagt zu tachles: «In den Medien ist im Moment viel mehr über Antisemitismus als über antimuslimischen Rassismus zu lesen.» Zudem werde der Begriff Antisemitismus sehr häufig mit Kritik an Israel gleichgesetzt: «Kritische Äusserungen an der israelischen Politik werden schnell als Antisemitismus abgetan, ohne inhaltlich auf die Kritik einzugehen.» Aus ihrer Sicht verhindere diese reflexartige Gleichsetzung von Israel-Kritik mit Antisemitismus die Auseinandersetzung mit wichtigen Themen «wie Besetzung, Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung in Israel». «Debatten werden verhindert», so Berlowitz. In einer Stellungnahme, die auf der Website ihrer Vereinigung (www.jvjp.ch) einsehbar ist, heisst es: «Als Jüdinnen und Juden, die sich als Teil der linken Bewegungen verorten, sind wir besorgt über den zunehmend inflationären Vorwurf des Antisemitismus im Zusammenhang mit Kritik an der israelischen Politik. Die israelische Regierung nutzt den Vorwurf als Mittel, sich unangreifbar zu machen.» Von jüdischer Seite werde oft das grosse Interesse von Linken am Nahostkonflikt in Frage gestellt und darin eine antisemitische Motivation vermutet oder unterstellt. «Es herrscht eine grosse Unsicherheit darüber, was man noch sagen darf und was nicht. Es kann nicht sein, dass Kritik delegitimiert wird», sagt Shelley Berlowitz. 

Eine Nuancierung ist angebracht
Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund ist offensichtlich anderer Meinung. Zur Mitteilung der JVJP sagt SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner: «Israelbezogener Antisemitismus ist weit verbreitet und Teil des gesamten Spektrums des Antisemitismusproblems. Diese Ausprägung des Antisemitismus gerade jetzt zu marginalisieren und teilweise auszublenden, nur weil es auch zu Missbräuchen des Vorwurfs kommen kann, wird der ganzheitlichen Betrachtung des Problems in keinster Weise gerecht.»

«Wir fordern zur Nuancierung auf. Alle und selbst die Zionistinnen und Zionisten dürfen und sollten die israelische Regierung und ihre Politik kritisieren.»

Philip Bessermann, Geschäftsleiter der GRA, zeigt mehr Verständnis für die Anliegen der JVJP, nimmt die Linke aber auch in die Pflicht. Er sagt: «Während Linke teils pauschal aufgrund antizionistischer Aussagen des Antisemitismus bezichtigt werden, sind eine Einordnung und eine Debatte angebracht.» Er betont, dass es durchaus möglich ist, Kritik an Israel zu üben, ohne zwangsläufig antisemitische Aussagen zu machen. Dabei helfe es, von Israel nicht mehr als von anderen Staaten zu erwarten, dessen Existenz durch Dämonisierung nicht infrage zu stellen und stets die eigene historische Verantwortung im Auge zu behalten. Bessermann führt aus: «Wir fordern zur Nuancierung auf. Alle und selbst die Zionistinnen und Zionisten dürfen und sollten die israelische Regierung und ihre Politik kritisieren.» Er verweist aber auf ein Problem, das spezifisch entstehe, wenn sich jüdische Antizionisten nicht klar und deutlich von anderen Akteuren abgrenzten, die sich verdeckt durch Kritik an Israel antisemitisch äussern und dann aktiv intervenieren. «Wenn das nicht geschieht, können jüdische Antizionistinnen und Antizionisten als ultimatives Feigenblatt für Antisemiten in der Schweiz dienen.» Eine Abgrenzung und Interventionen fänden aus seiner Sicht «viel zu wenig statt», so Bessermann. Es wäre wichtig, denn grundsätzlich sieht er es als Chance, dass Jüdinnen und Juden diverse Ansichten vertreten: «Die Anerkennung dieser Diversität ist ein wichtiges Gegennarrativ zum Antisemitismus», sagt er.

Ein politisches Mittel?
Der SIG verwendet grundsätzlich die international und auch durch die Schweiz anerkannte IHRA-Antisemitismus-Definition und die dazugehörenden Beispiele. SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner sagt; «Das besagt auch, dass Kritik am Staat Israel beziehungsweise an seiner Politik nicht generell antisemitisch ist, solange man diese Kritik so tätigt, wie man sie auch an allen anderen Staaten tätigen würde.» Das heisst im Klartext: Israel-Kritik wird dann antisemitisch, wenn doppelte Standards angewendet werden, indem ein Verhalten eingefordert wird, wie es von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder gefordert wird. Auch wenn «Israelis» und «Juden» gleichgesetzt werden oder wenn Symbole und Bilder des klassischen Antisemitismus benutzt werden, um Israel oder Israelis darzustellen beziehungsweise zu charakterisieren. Ebenso als antisemitisch einzustufen ist es, wenn die aktuelle israelische Politik mit der Politik der Nationalsozialisten verglichen wird. Jonathan Kreutner gibt aber zu bedenken: «Nicht alle Fälle sind glasklar, und es müssen immer auch der Einzelfall und der Kontext geprüft werden. Im Zweifelsfall, wenn für uns eine Einordnung nach IHRA schwierig erscheint, verzichten wir auf eine Zuordnung. Diese Fälle landen bei uns in der nicht ausgewiesenen und nicht für die Statistik relevanten Kategorie Grenzfälle.»

«Die IHRA-Arbeitsdefinition ist zu einem politischen Mittel geworden, Kritik am Staat Israel und an der israelischen Politik dem Generalverdacht des Antisemitismus zu unterstellen.»

Zentral sei eine sorgfältige, gründliche Einzelfallprüfung nach den IHRA-Kriterien. Die JVJP kritisiert genau diese Kriterien in ihrem Positionspapier. Darin heisst es: «Die IHRA-Arbeitsdefinition betont israelbezogenen Antisemitismus und ist zu einem politischen Mittel geworden, Kritik am Staat Israel und an der israelischen Politik dem Generalverdacht des Antisemitismus zu unterstellen.» Verwiesen wird auf die «Jerusalem Declaration on Antisemitism» die als Reaktion auf die IHRA-Definition von mehr als 200 internationalen Wissenschaftlern formuliert wurde (tachles berichtete). Sie lautet: «Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).»

Ein demokratischer Grundsatz
Die IHRA-Antisemitismus-Definition hat von Beginn an im Zusammenhang mit politischen Aussagen über Israel und den Zionismus zu Verwirrung und Kontroversen geführt (tachles berichtete). Dana Landau, Politikwissenschaftlerin an der Universität Basel und Forscherin bei Swisspeace, sagt: «Die Definition ist kontrovers, da sie mit ungenauen Begriffen wie ‹Doppelmoral›, ‹Delegitimisierung› und ‹Dämonisierung› arbeitet, die im Auge der Betrachtenden liegen. So kann sie missbraucht werden, um den Diskussionsrahmen einzuengen.» Für sie sei es daher kaum verwunderlich, dass auch viele jüdische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Definition ablehnen.

Aus ihrer Sicht sei es ein demokratischer Grundsatz, offene Diskussion, inklusive Kritik an israelischer Politik, zu ermöglichen. Problematisch werde es, wenn diese antisemitische Stereotype vorbringt oder wenn Jüdinnen und Juden in Konflikten wie dem aktuellen für Geschehnisse in Israel verantwortlich gemacht werden. Deshalb sei die Differenzierung zwischen den Handlungen des Staates Israel und jüdischen Menschen im Allgemeinen wichtig. «Wenn zum Beispiel Menschenrechtsverletzungen durch Israel dokumentiert werden, ist das legitim und wichtig, darf aber nicht als Anlass dienen, Jüdinnen und Juden anzufeinden», so Dana Landau. Die JVJP steht mit ihrem Positionspapier «Antisemitismus-Vorwürfe an die Linke» also nicht alleine da.