Stimmen von Schweizer Jüdinnen und Juden
«Wir müssen eine gemeinsame Sprache finden»
Erschienen im Jüdischen Wochenmagazin tachles am 15. August 2024
Weltweit sind die Sorgen vor einem sich ausweitenden Krieg in Israel gross – tachles hat bei Schweizer Jüdinnen und Juden nachgefragt, wie sie, Familie und Freunde in diesen Tagen den Konflikt erleben:
Alfred Bodenheimer, Basel und Karmiel
Meine Frau und ich verbringen unsere Zeit in Israel weitgehend im Norden des Landes, wir haben einen privaten Bunker im Haus, der so weit vorbereitet ist. Nachts hören wir oft Einschläge oder Abwehrsysteme, die Raketen treffen, von Flugzeugen und israelischen Beobachtungsdrohnen ganz zu schweigen. Aber faktisch gab es bei uns nur im Oktober und um die Jahreswende einmal Alarm, beide Male ohne eigentlichen Anlass. Man lernt in dieser Spannung zu leben, kurz nach den Ankündigungen der Gegenschläge waren wir ziemlich nervös, inzwischen hat sich das gelegt, aber wir bleiben wachsam. Meine Sorge um die Zukunft Israels ist beträchtlich. Allerdings kommt die vor allem vom inneren Zustand des Landes. Die Hemmschwellen zur Beseitigung des Rechtsstaats werden geschleift. Wir haben Extremisten in der Regierung, die schon länger den Ton angeben. Die vom Krieg geschwächte und verunsicherte Bevölkerung schafft es nicht mehr wie vor dem 7. Oktober, ihre Kräfte zu mobilisieren, und zusehends scheint mir die Jugend entweder politisch desinteressiert oder fanatisiert zu sein. Um die massiven Herausforderungen gegen gnadenlose Feinde wie die iranische Achse zu bestehen, braucht es Kompetenz, Vertrauen in die Regierung und moralische Integrität. Israel hat viele Herausforderungen geschafft in seiner Geschichte, es bleibt zu hoffen, dass es auch diesmal gelingt.
Oliver Braunschweig, Zürich
Ich mache mir grosse Sorgen um meine Familie in Israel, um den Staat Israel und seine Einwohnerinnen und Einwohner, aber auch um die anderen Menschen in der Region, um die Palästinenserinnen, Palästinenser und andere. Ich befürchte eine grosse Ausweitung der kriegerischen Handlungen, was zu noch viel mehr Toten führen könnte. Wir hatten in meiner israelischen Familie am 7. Oktober einen Todesfall. Diesen Schmerz wünsche ich niemandem. Wir hatten in der letzten Zeit mehr Besuch meiner Familie aus Israel, was sehr schön war, aber vor dem jetzigen Hintergrund auch traurig. Es war für mich auch schön, dass ich so für sie da sein konnte. Ich habe Sorge um die Zukunft Israels, aus einer inneren und äusseren Sicht. Die inneren Zentrifugalkräfte sind enorm und wurden von der derzeitigen Regierung schon vor dem 7. Oktober und werden auch weiterhin zusätzlich angefacht. Menschenverachtendes Gedankengut wird verbreitet, was meines Erachtens auch den israelischen Staat in seinen Grundwerten erschüttert und von innen zu zerstören mag. Zugleich sind äussere, Israel feindlich gesinnte Kräfte – etwa vom Hizbollah über Iran — eine grosse Gefahr, die nicht zu unterschätzen ist. Am meisten Sorge bereitet mir jedoch, dass diese inneren und äusseren Kräfte zugleich wirken. Dies macht die Situation zusätzlich explosiv und für den Staat zur wohl grössten Herausforderung in Jahrzehnten. Dennoch hoffe ich sehr, dass irgendwie ein Ausweg gefunden wird.
Michal Lewkowicz, Basel
Ich verfolge ständig die Nachrichten und versuche zu verstehen, was passiert und was der nächste Schritt sein könnte. Ich möchte optimistisch bleiben – es gibt keinen anderen Weg und es gibt auch kein anderes Land für die jüdische Bevölkerung. Mein Instinkt sagt mir seit dem 7. Oktober, nach Israel zu fliegen und dort in und für mein Heimatland zu sein, zu leben, zu helfen. Meine Familie und viele liebe Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen leben in Israel, einem traumatisierten Land seit dem 7. Oktober und all den schrecklichen Ereignisse seither, und natürlich auch wegen der 115 Geiseln, die noch in Gaza sind. Allerdings war ich erst vor ein paar Wochen in Israel und es ist erstaunlich, wie stark die israelische Mentalität ist und wie die Menschen immer noch versuchen, eine normale Realität aufrechtzuerhalten. Es gibt einen starken Überlebenswillen, von dem ich inspiriert bin. Natürlich mache ich mir Gedanken um die Zukunft Israels, um die gespaltene Gesellschaft in Israel, um das Zusammenleben. Ich bin mir sicher, es ist – trotz der grossen Probleme – ungeheuer wichtig und dringend, wieder eine gemeinsame Sprache zu finden und zusammenzuhalten. Ich glaube, das Wort «schalom» («Friede») liegt zurzeit wieder weit entfernt, aber es gibt keine andere Lösung.
Jaron Bernstein, Zürich
Schon seit dem 7. Oktober ist mein Leben nicht das gleiche wie zuvor. Seit der zunehmenden Eskalation Ende Juli schlafe ich noch schlechter und schalte während der Nacht mein Natel mehrmals ein, um zu lesen, ob etwas schon geschehen ist. Während meiner Zeit im israelischen Militär in den 1990ern und bis heute galt das Szenario der «Konvergenz der Fronten» als der Supergau. Es galt alles strategisch Mögliche zu unternehmen, um diesen Zustand zu vermeiden. Heute handelt die israelische Regierung genau umgekehrt, als ob sie ein Interesse an einer Eskalation hätte. Dies löst bei mir Trauer, sogar Wut und grosse Befürchtungen um weitere unnötige Verluste aus. Der Grossteil meiner Familie lebt in Israel. Meine Eltern sind für die Schulferien hierher gekommen, nun wurde ihr Rückflug storniert. Ein Cousin ist Oberstleutnant der Reserve und ist praktisch seit dem 7. Oktober nicht mehr zuhause bei Frau und Kindern. In meinem Alter sind es schon die Kinder von Freunden, die im aktiven Dienst sind, so auch mein Göttimeitli. Im Freundeskreis sind einige aus dem Kibbuz Beeri, die grosse Verluste erlebten. Es ist sehr traurig und das Gefühl der Ohnmacht ist gross – aus der Schweiz kann man nie allen persönlich helfen.
Ich mache mich um Israels Zukunft grosse Sorgen. Für Israels Sicherheit sind stabile regionale Allianzen und starke internationale Partner unabdingbar. Die jetzige Regierung Israels versagt in diesen Aspekten. Israel stand noch nie vor einer solch gravierenden und unmittelbaren internen Bedrohung ihres Wesens und ihrer Zukunft als eine freie Gesellschaft.
Peter Bollag, Basel
Ich erlebe es irgendwie als schizophrene Momente: Auf der einen Seite mag ich mich eigentlich gar nicht mehr mit diesem aktuellen Konflikt auseinandersetzen, weil sich alles endlos zu wiederholen scheint. Auf der anderen Seite hänge auch ich an den mobilen Geräten, um die letzten Entwicklungen nicht zu verpassen. Aber grundsätzlich ist die Angst in diesen Tagen, eines Morgens aufzuwachen und feststellen zu müssen, dass die Region und die Welt in eine grosse Auseinandersetzung geschlittert ist, massiv. Wir haben Familie und Freunde in Israel. Soweit wir es mitbekommen, versuchen die meisten, ihr normales Leben zu leben und sich im Alltag nicht zu sehr aus dem Konzept bringen zu lassen. Das gelingt besser oder schlechter. Die Ankündigungen verschiedener Fluggesellschaften, Israel vorläufig nicht anzusteuern, hilft dabei sicher nicht: Die Angst vor Isolierung ist gross. Sicher habe ich Sorge um die Zukunft Israels, wer hätte die nicht? Bisher hatte ich zwar immer das Gefühl, dass der jüdische Staat alle Gefahren immer irgendwie «ausbalancieren» konnte. Das Gefühl habe ich trotz allem weiterhin, aber es war auch schon stärker ausgeprägt als jetzt.
Danielle Kaufmann, Basel
Ich bin tatsächlich in grösster Sorge, eine Ausweitung des Krieges und ein erwarteter Angriff Israels durch den Iran machen mir grosse Angst. Ich befürchte noch mehr zivile Opfer auf allen Seiten. Ich bin in nahem Austausch mit meiner Familie in Israel. Im Moment ist die Anspannung, wann der erwartete Angriff aus Iran kommt, extrem hoch, die Unsicherheit ist äusserst belastend. Mein kleiner Beitrag ist im Moment, dass ich jeden Abend eine kurze Nachricht schicke mit guten Wünschen für die Nacht … Mehr kann man nicht tun. Ich habe grosse Sorge um die Zukunft Israels. Einerseits ist es die Angst um die Existenz Israels, aber andererseits, ist es vor allem auch die Angst, dass sich Israel innenpolitisch vollkommen von den demokratischen Werten verabschiedet. Ich war tatsächlich noch nie so hoffnungslos, dass es irgendwann zu einem friedlichen Zusammenleben kommen wird, aber die Hoffnung darf man nie aufgeben.
Philip Karger, Basel
Ich bin besorgt über die mögliche Ausweitung des Krieges in Israel, insbesondere angesichts der anhaltenden Spannungen und der zunehmenden Gewalt, die die Region weiterhin destabilisieren. Es ist beunruhigend zu beobachten, wie die Provokationen von beiden Seiten zu einer weiteren Verschärfung der ohnehin schon fragilen Situation führen. Gerade in dieser angespannten Situation ist es von grösster Bedeutung, dass alle beteiligten Akteure verantwortungsvoll handeln und sich bemühen, den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen. Die aktuelle Situation in Israel ist eine Zeit der Angst und Unsicherheit für alle, die dort leben oder enge Verbindungen dorthin haben. Ich selber habe enge Verwandte und Freunde in Israel und spüre die Belastung, die diese Situation mit sich bringt. Es ist ein ständiges Auf und Ab der Gefühle. Viele meiner Bekannten haben Kinder oder Enkelkinder, die beim Militär sind. Es ist schwer, sich vorzustellen, was es bedeutet, nie zu wissen, wann und ob die Liebsten zurückkommen. In solchen Zeiten ist es umso wichtiger, den Kontakt zu den Menschen in Israel zu halten.
Ich mache mir keine direkten Sorgen um die Zukunft Israels. Aber ich glaube, dass sich Israel in den nächsten Jahren stark verändern wird. Vor allem sicherheitspolitisch und gesellschaftlich wird es neue Entwicklungen geben. Israel ist eine starke Demokratie, und das wird letztlich dazu beitragen, ein friedliches Zusammenleben mit allen Bewohnern zu etablieren. Die Schweiz kann dabei als Vorbild dienen. Ich wünsche den Menschen dort einen dauerhaften Frieden.